ERÖFFNUNG DES “FREUNDSCHAFT!”-ARCHIVS

2. Mai 2023

Am 1. Mai 1975 schallte ein Lied aus den Radios der DDR: „Alle auf die Straße, rot ist der Mai – alle auf die Straße, Saigon ist frei!“ – Viet­nam hatte dem US-Aggres­sor eine schwere Nieder­lage zuge­fügt, David hatte gegen Goli­ath gesiegt. Ein Fanal für die anti­im­pe­ria­lis­ti­schen Kräfte welt­weit. Zusam­men mit dem Aufschwung des Sozia­lis­mus nach dem Zwei­ten Welt­krieg war nun die Aufbruch­stim­mung der inter­na­tio­na­lis­ti­schen Kräfte allseits präsent. Das sozia­lis­ti­sche Lager stärkte sich, die natio­na­len Befrei­ungs­be­we­gun­gen erran­gen Siege, hier wuchs eine neue Welt zusammen.

Alles Geschichte, möchte man meinen, in einer Zeit, in der die Aufrüs­tung in Europa so massiv steigt wie nie zuvor, oder wenn dieser Tage im Bundes­tag über ein neues Fach­kräf­te­ein­wan­de­rungs­ge­setz bera­ten wird, das die Abwan­de­rung von ausge­bil­de­tem Perso­nal aus dem Globa­len Süden verstär­ken wird. Endgül­tig aus, der Traum einer fried­li­chen Welt natio­na­ler Selbst­be­stim­mung und inter­na­tio­na­ler Koope­ra­tion? Nun, keine Bewe­gung ohne ihre Gegen­be­we­gung. Wenn afri­ka­ni­sche Staats­füh­rer selbst­be­wusst ehema­lige Kolo­ni­sa­to­ren in ihre Schran­ken weisen und Länder sich gegen das Dollar­dik­tat wehren, sind Anklänge der damals mäch­ti­gen anti­im­pe­ria­lis­ti­schen Bewe­gung vernehmbar.

Mit einer stetig wach­sen­den Samm­lung von Beiträ­gen wollen wir die Erfah­run­gen, ideo­lo­gi­schen Debat­ten und die Entwick­lung der anti­im­pe­ria­lis­tisch-inter­na­tio­na­lis­ti­schen Stra­te­gie der DDR und des sozia­lis­ti­schen Lagers unter­su­chen. Wir werden die unter­schied­li­chen Aspekte der prak­ti­schen Orien­tie­rung des inter­na­tio­na­len Klas­sen­kamp­fes beleuch­ten und die Wider­sprü­che und theo­re­ti­schen Ausein­an­der­set­zun­gen erfor­schen. Das Archiv soll dazu beitra­gen, ein komple­xes Bild dieser hoch­dy­na­mi­schen und entschei­den­den Phase der anti­im­pe­ria­lis­ti­schen Bewe­gun­gen des letz­ten Jahr­hun­derts zu zeich­nen, um diese Erfah­run­gen für die heuti­gen Debat­ten und künf­tige Kämpfe verfüg­bar zu und nutz­bar zu machen. In unse­rem erklä­ren­den Grund­satz­text zum „Freundschaft!“–Archiv, schrei­ben wir:

 „Im prole­ta­ri­schen Inter­na­tio­na­lis­mus kulmi­nierte die Aufgabe, die Bewe­gung für den Sozia­lis­mus als Ganzes, das heißt im Welt­maß­stab zu orga­ni­sie­ren und die unter­schied­li­chen Ebenen und Seiten der Kämpfe zu einer Einheit zu verbin­den. Hier­bei erga­ben sich eine Viel­zahl kompli­zier­ter Fragen und Wider­sprü­che über die die welt­wei­ten Orga­ni­sa­tio­nen, Staa­ten und Bewe­gun­gen kontro­vers diskutierten.“

Mit fünf Beiträ­gen eröff­nen wir das Archiv, das im Übri­gen auch offen für Veröf­fent­li­chungs­vor­schläge und Zusen­dun­gen ist. Wir wollen im Folgen­den die ersten Arti­kel schlag­licht­ar­tig vorstellen.

Am Beispiel Mali’s geht Matthew Read der Frage nach, was unter den Konzep­ten des natio­nal­de­mo­kra­ti­schen Staa­tes und des nicht­ka­pi­ta­lis­ti­schen Entwick­lungs­wegs verstan­den wurde und wie sie in dem Land, das in den 1960er Jahren an der Spitze der sozia­len Revo­lu­tion in Afrika stand, in der Praxis umge­setzt wurden.

Von der Geschichte der geziel­ten Unter­ent­wick­lung West­afri­kas durch die fran­zö­si­sche Kolo­ni­al­macht, über die Rolle und Ausein­an­der­set­zun­gen in der stark vom Marxis­mus beein­fluss­ten Massen­par­tei der Unab­hän­gig­keits­be­we­gung bis zum Novem­ber­putsch pro-impe­ria­lis­ti­scher Mili­tärs 1968 unter­sucht der Text die Versu­che Malis aus der impe­ria­lis­ti­schen Ordnung auszu­bre­chen. Dabei kommt er u.a. zu folgen­dem Schluss:

 „Die Befür­wor­ter einer nicht­ka­pi­ta­lis­ti­schen Entwick­lung hatten die Fähig­kei­ten des sozia­lis­ti­schen Lagers nach dem Zwei­ten Welt­krieg offen­sicht­lich über­schätzt, zumin­dest in Bezug auf Subsa­hara-Afrika. Die sowje­ti­sche Hilfe hatte es eini­gen feuda­len Gesell­schaf­ten in Zentral- und Ostasien ermög­licht, die kapi­ta­lis­ti­sche Entwick­lungs­etappe zu umge­hen; diese Staa­ten waren direkt mit der sowje­ti­schen Wirt­schaft verbun­den gewe­sen. Die Über­tra­gung der Idee auf das zersplit­terte West­afrika war eine anders dimen­sio­nierte Sache.“

Die Parteien und Massen­or­ga­ni­sa­tio­nen der DDR haben die fort­schritt­li­che Entwick­lung Malis umfas­send unter­stützt. Wie die Soli­da­ri­täts­ar­beit der DDR, insbe­son­dere unter der Bedin­gung der „Hall­stein-Doktrin“ der Bundes­re­pu­blik, orga­ni­siert werden konnte, haben wir mit dem ehema­li­gen Leiter des Soli­da­ri­täts­ko­mi­tees, Achim Reichardt, disku­tiert. Als gesell­schaft­li­che Orga­ni­sa­tion leis­tete das Soli­ko­mi­tee einen großen Beitrag, um die diplo­ma­ti­sche Isola­tion der DDR zu durch­bre­chen. Achim gibt Zeug­nis über die Viel­ge­stal­tig­keit der Soli­da­ri­täts­ar­beit und die aktive Betei­li­gung der DDR-Bevöl­ke­rung. Das Soli­ko­mi­tee knüpfte zahl­rei­che Kontakte zu Parteien und Bewe­gun­gen, die für die Unab­hän­gig­keit im Globa­len Süden kämpften.

„Wenn wir eine Soli­da­ri­täts­sa­che reali­sie­ren woll­ten, haben wir immer im Blick gehabt, wo es Wünsche gab, und gefragt: dient diese Soli­da­ri­täts­maß­nahme der Gesamt­ent­wick­lung in diesem Lande? Das hatte ich am Beispiel des Kran­ken­hau­ses in Nika­ra­gua aufge­zeigt und es gilt z.B. auch für Viet­nam: Wir haben dort das Kran­ken­haus in Hanoi inten­siv geför­dert und dazu beigetra­gen, dass ein Insti­tut aufge­baut wurde, welches die vielen Menschen in Viet­nam versorgte, die durch den Krieg und durch die Minen Beine oder andere Glied­ma­ßen verlo­ren haben.“

Darin lag ein bestim­men­des Merk­mal der Hilfe der sozia­lis­ti­schen DDR: Es handelte sich um eine geplante und koor­di­nierte Soli­da­ri­tät, die auf die unab­hän­gige Entwick­lung der jungen Natio­nal­staa­ten abzielte.

In der Reihe “Für anti­im­pe­ria­lis­ti­sche Soli­da­ri­tät” infor­mierte das Soli­da­ri­täts­ko­mi­tee über die Kämpfe im Globa­len Süden.

Als wir Achim nach den Wirkun­gen solcher Projekte frag­ten, wies er uns auf eine medi­zi­ni­sche Fach­schule in Qued­lin­burg hin, die sich auf die Ausbil­dung inter­na­tio­na­ler Studen­ten spezia­li­siert hatte. Wir konn­ten den Kontakt zu einem ehema­li­gen Lehrer der Fach­schule aufneh­men und mit seiner Hilfe Fäden bis nach Mali, in den Liba­non und nach Guinea-Bissau knüp­fen. Schnell wurde klar, jene Schule ist ein wenig beach­te­tes Kapi­tel DDR-Geschichte, an welchem sich Anspruch und Wirk­lich­keit des Inter­na­tio­na­lis­mus der DDR kompakt unter­su­chen lassen.

Durch Inter­views mit ehema­li­gen Studie­ren­den und Lehren­den sowie mit Einwoh­nern Qued­lin­burgs konn­ten wir erfah­ren, wie diese medi­zi­ni­sche Fach­schule einen quali­ta­tiv ande­ren Ansatz für die Ausbil­dung auslän­di­scher Studie­ren­der verwirk­lichte. Seit den 1960er Jahren hatte die MediFa – wie sie von Studen­ten und Lehrern genannt wurde – die Aufgabe, dieje­ni­gen auszu­bil­den, denen Bildungs­mög­lich­kei­ten bislang syste­ma­tisch verwehrt wurden. Es ging nicht zuvor­derst um die Erfül­lung eines indi­vi­du­el­len Lebens­pla­nes, sondern darum, eine ganze Gesell­schaft aus der Bildungs­un­gleich­heit der Kolo­ni­al­sys­teme zu holen. Die MediFa-Studen­ten kamen auf der Basis gemein­sa­mer Abkom­men zwischen der DDR und den jungen Natio­nal­staa­ten bzw. Befrei­ungs­or­ga­ni­sa­tio­nen nach Qued­lin­burg. Sie erwar­ben dort die fach­li­chen Kennt­nisse, um nach der Rück­kehr ins Heimat­land am Aufbau eines neuen, natio­na­len Gesund­heits­we­sens mitzu­wir­ken. Durch Insti­tu­tio­nen wie die MediFa kehr­ten die sozia­lis­ti­schen Staa­ten die histo­ri­sche Tendenz um: Nicht Unter­ent­wick­lung, sondern Aufbau, nicht Unter­wer­fung, sondern Souve­rä­ni­tät, und Ausbil­dung statt der Abwer­bung von Fach­kräf­ten wurden zu Maßstä­ben der inter­na­tio­na­len Beziehung.

Die persön­li­chen Geschich­ten, die uns erzählt wurden, machen deut­lich, dass die Studie­ren­den in der Gesell­schaft nicht isoliert waren, wie im Nach­hin­ein oft behaup­tet wurde. Sie hatten viel­fäl­tige Kontakte mit der Bevöl­ke­rung, die regen Anteil an ihren Kämp­fen nahm. Es gab poli­ti­sche und kultu­relle Diskus­si­ons­abende, Paten­schaf­ten mit Betrie­ben, gemein­same Feiern, und Studen­ten der MediFa bilde­ten den ersten Block der 1.-Mai-Demonstrationen. Kultur­abende und Feste zu den verschie­de­nen Natio­nal­fei­er­ta­gen gehör­ten zum Alltag der Schule dazu. Es entstan­den persön­li­che Verbin­dun­gen, die die Verbun­den­heit der Länder und fort­schritt­li­chen Orga­ni­sa­tio­nen im Klei­nen wider­spie­gel­ten und verstärk­ten. In einem Arti­kel  stel­len wir unsere bishe­ri­gen Erkennt­nisse über die Schule vor und disku­tie­ren ihre Rolle und Wirkung für die inter­na­tio­na­lis­ti­sche Praxis der DDR.

Die Studie­ren­den der MediFa am 1. Mai mit dem Trans­pa­rent: „Medi­zi­ni­sche Fach­schule ‚Doro­thea Chris­tiane Erxle­ben‘ — Ärzte u. Studen­ten aus 20 Staa­ten Asiens, Afri­kas und Latein­ame­ri­kas grüßen die Werk­tä­ti­gen Quedlinburgs“

Ein ehema­li­ger Lehrer an der MediFa, Ulrich Kolbe, zeich­net in einem Inter­view mit uns ein klares Bild davon, wie der prole­ta­ri­sche Inter­na­tio­na­lis­mus in der DDR verstan­den und umge­setzt wurde. Die drei gegen­sei­tig ergän­zen­den Strö­mun­gen des revo­lu­tio­nä­ren Welt­pro­zes­ses – die natio­na­len Befrei­ungs­be­we­gun­gen, die Arbei­ter­be­we­gung in den kapi­ta­lis­ti­schen Staa­ten und das sozia­lis­ti­sche Lager – müss­ten durch gegen­sei­tige Hilfe gestärkt und vereint werden. Die Schule, an der er Deutsch unter­rich­tete, war ein Baustein in diesem welt­wei­ten Kampf gegen den Impe­ria­lis­mus. “Es ging darum, dass man gemein­sam für den Frie­den, für den Fort­schritt und für soziale Gerech­tig­keit eintrat. Das ist also die grund­le­gende Defi­ni­tion dessen, was wir unter prole­ta­ri­schem Inter­na­tio­na­lis­mus verstan­den. Das zu leben war eine tägli­che Aufgabe für jeden und wurde unter­schied­lich gehandhabt.“

Im „Freundschaft!“–Archiv werden wir auch den Zusam­men­hang zwischen dem Ende der DDR und der Entwick­lung des Inter­na­tio­na­lis­mus unter­su­chen. Hierzu geht Kolbe auf das poli­ti­sche Bewusst­sein der Bevöl­ke­rung ein und weist auf die wider­sprüch­li­che Aufgabe hin, fried­li­che Koexis­tenz zu sichern und gleich­zei­tig den anti­im­pe­ria­lis­ti­schen Kampf voran­zu­trei­ben. „Auf ideo­lo­gi­schem Gebiet gab es keine fried­li­che Koexis­tenz, das war eben ein Gebot des prole­ta­ri­schen Inter­na­tio­na­lis­mus: Wachsamkeit.“

Der letzte Beitrag, mit dem wir das Archiv eröff­nen, ist unser Inter­view mit Ronnie Kasrils. Als südafri­ka­ni­scher Kommu­nist, der in der DDR ausge­bil­det wurde, zeigt Kasrils Perspek­tive die andere Seite des Inter­na­tio­na­lis­mus. Mitte der 1970er Jahre wurde er zusam­men mit einer Hand­voll seiner ANC-Genos­sen heim­lich nach Ostdeutsch­land gebracht, um am Rande der Klein­stadt Tete­row in Meck­len­burg-Vorpom­mern eine Ausbil­dung in „fort­ge­schrit­te­ner Gueril­la­kriegs­füh­rung und klan­des­ti­nen Metho­den“ zu erhal­ten. In den folgen­den Jahren kamen rund 1.000 andere Anti-Apart­heid-Kämp­fer zur Ausbil­dung nach Tete­row. Er beschreibt auch, welche tiefen Eindrü­cke seine wieder­hol­ten Begeg­nun­gen mit DDR-Bürgern bei ihm hinter­las­sen haben.

 „Meine erste Erfah­rung in der DDR machte ich um 1967 …, um Unter­stüt­zung für mili­tä­ri­sche Trai­nings zu erbit­ten. Leute, die aus Tansa­nia und Sambia kamen, soll­ten in klan­des­ti­nen Akti­vi­tä­ten in der DDR ausge­bil­det werden und auch von ihren Erfah­run­gen profi­tie­ren, was den Schmug­gel von Lite­ra­tur und die Arbeit im Unter­grund betraf. Das war der erste Besuch, und man bekam dabei ein abso­lu­tes Verständ­nis für das Ausmaß der Soli­da­ri­tät, die die DDR leistete.“ 

Abschlie­ßend zieht Kasrils Lehren für die Zukunft und unter­streicht die drin­gende Aktua­li­tät des Internationalismus.

„[…] die Notwen­dig­keit der Demo­kra­tie in [sozia­lis­ti­schen] Gesell­schaf­ten und die Aufrecht­erhal­tung [des] demo­kra­ti­schen Geis­tes inner­halb der Partei wird also zu einer großen Heraus­for­de­rung für den Wieder­auf­bau des sozia­lis­ti­schen Projekts. Hat es Poten­zial? Ja, denn der Impe­ria­lis­mus, das inter­na­tio­nale Kapi­tal, ist mit inhä­ren­ten und unlös­ba­ren Wider­sprü­chen konfron­tiert und versucht, mit diesen auf sehr extreme Weise umzu­ge­hen […] Es ist also eine sehr gefähr­li­che Zeit. Sie erfor­dert die inter­na­tio­nale Soli­da­ri­tät der fort­schritt­li­chen Kräfte in der Welt.“

Das „Freundschaft!“-Archiv soll als Forschungs­platt­form dienen: wir wollen uns mit euch über eure Erfah­run­gen oder Einschät­zun­gen zum Inter­na­tio­na­lis­mus der DDR und den ande­ren sozia­lis­ti­schen Staa­ten austau­schen. Dafür gibt es bei jedem Beitrag im Archiv eine Kommen­tar­funk­tion, auch Zusen­dun­gen oder Hinweise sind auch will­kom­men: kontakt@ifddr.org