Eine medizinische Fachschule in der DDR für den Internationalismus
Inhaltsverzeichnis
I. Ohne medizinische Souveränität kein sozialer Fortschritt
Ein junger, afrikanischer Mann sitzt mit einer Waffe im Arm vor dem Umriss des afrikanischen Kontinents, vertieft in die Lektüre eines Buches. 1978 gestaltete die Grafikerin Lola Gruner dieses Plakat und überschrieb es mit der Losung: „Eurem Kampf unsere Solidarität“. Es setzt markant die zwei Fronten des Unabhängigkeitskampfes ins Bild: den bewaffneten Widerstand als Kampf um das Recht auf Selbstbestimmung und die eigene Würde, und es zeigt, was Teil der jahrhundertelangen forcierten Unterentwicklung in den Kolonien war: das Verwehren von Bildung. Damit perpetuierte sich das Kolonialsystem. Bildungseinrichtungen der Kolonialverwaltungen waren nach den Worten von Samora Machel, dem Führer der Unabhängigkeitsbewegung in Mosambik, „wahre Schulen der Entwurzelung“. Sie unterbanden die kulturelle Identität der Völker, dienten dem Ziel, politische Identität mit dem „Mutterland“ zu stiften und unter der einheimischen Bevölkerung lediglich Personal für die Hilfsarbeiten in der Kolonialverwaltung zu rekrutieren. Wer nach London und Paris zum Studium gehen konnte, bekam gelehrt, das System aufrechtzuerhalten und wurde später häufig selbst zu seinem Verwalter. Nach dem erkämpften Sieg über die alten Kolonialmächte riss der Rückzug des Kolonialpersonals massive Lücken in die Infrastruktur dieser Länder, die sie nun aus eigener Kraft aufbauen mussten. Während sich die westliche europäische Fremdherrschaft neu als „Entwicklungskolonialismus“ definierte und legitimierte – wohinter sich nichts anderes als das Bestreben verbarg, alte ökonomische Abhängigkeitsstrukturen zu wahren und Einflusssphären zu sichern, wobei man sich bekanntlich nicht scheute, hinter den Kulissen kräftig an Staatsstreichen und Putschen mitzuwirken –, gewannen die Unabhängigkeitsbewegungen Verbündete in den sozialistischen Staaten.
Mit der Entstehung des sozialistischen Lagers nach dem Zweiten Weltkrieg entwickelten sich neue Möglichkeiten der solidarischen Unterstützung der immer mehr erstarkenden Unabhängigkeitsbestrebungen. Das sozialistische Lager setzte eine Bewegung in Gang, die auf dem Prinzip der Delegierung basierte, über das junge Menschen in die sozialistischen Länder kamen und ausgebildet wurden. Sie erwarben die fachliche Befähigung und das Rüstzeug, um nach der Rückkehr ins Heimatland am Aufbau der neuen, nationalen Strukturen mitzuwirken. Die Ausbildung in den sozialistischen Ländern für diejenigen, denen Bildungsmöglichkeiten bislang systematisch verwehrt wurden, hatte also einen grundlegend anderen Charakter. Es ging nicht zuvorderst um die Erfüllung eines individuellen Lebensplanes, die Verwirklichung einer Karriere, sondern darum, eine ganze Gesellschaft aus der Bildungsungleichheit der Kolonialsysteme zu holen.
Zwischen 1951 und 1989 erwarben zwischen 64.000 und 78.000 Studierende aus über 125 Ländern einen Abschluss an einer akademischen Einrichtung in der DDR.1Damian Mac Con Uladh: „Studium bei Freunden? Ausländische Studierende in der DDR bis 1970“, in: Christian Th. Müller und Patrice G. Poutrus (Hrsg.): Ankunft – Alltag – Ausreise. Migration und interkulturelle Begegnung in der DDR-Gesellschaft. Böhlau / Köln, 2005, S. 175. Die Zahl ausländischer Studierender dürfte weit höher sein, rechnet man die ein, die für einen Kurzstudienaufenthalt, ein Berufspraktikum oder einen Lehrgang in die DDR kamen. Die DDR war ein Anlaufpunkt neben anderen: Im gesamten sozialistischen Lager studierten und lernten junge Menschen aus Afrika, Asien und Lateinamerika. Die sozialistischen Länder boten bis dato unerreichbare Bildungsmöglichkeiten.
Die DDR, in der sich eine der leistungsstärksten Volkswirtschaften des sozialistischen Lagers entwickelte, engagierte sich stark in dieser Hinsicht. Ihre Ressourcen waren begrenzt, aber sie schuf Ausbildungsplätze, richtete spezielle internationale Schulen ein, zahlte den Auszubildenden Stipendien und unterstützte Ausbildungsmöglichkeiten in den nach Unabhängigkeit strebenden Ländern selbst etwa durch Entsendung von Lehrerbrigaden oder den Aufbau von Ausbildungszentren. Insbesondere wurde medizinisches Personal in Krankenhäuser und medizinische Einrichtungen entsandt, um vor Ort Unterstützung und Aufbauarbeit zu leisten.
Gerade die Solidarität auf dem Gebiet der Medizin wurde als ein entscheidendes Moment des proletarischen Internationalismus verstanden: wo es an medizinischer Grundversorgung fehlt, kann es keinen sozialen Fortschritt geben. Ein Gesundheitssystem, das eine gleichberechtigte Versorgung gewährleistet, ist für den demokratischen Aufbau unerlässlich. Die Errichtung der Gesundheitsversorgung in den jungen Nationalstaaten nach der Befreiung war daher eine vordringliche Aufgabe, und die Ausbildung der eigenen Bevölkerung eine dringende Notwendigkeit. Dafür wandten sich Befreiungsbewegungen, junge Nationalstaaten und blockfreie Länder an die Verbündeten des sozialistischen Lagers. Die Solidarität der DDR bestand darin, Strukturen zur Selbsthilfe zu schaffen. Das hieß im medizinischen Bereich auch, direkte imperialistische Abhängigkeitsmechanismen durch die Lieferung von Medikamenten und Ausrüstungen einzuschränken. Ein zentraler Punkt des Delegierungsprinzips war es, der Abwanderung von Fachkräften entgegenzuwirken.
Ein kurzer Blick auf die Situation im damaligen Westdeutschland zeigt die qualitative Andersartigkeit des sozialistischen Ansatzes: Im Gegensatz zu den meisten anderen kapitalistischen Staaten verlangte die Bundesrepublik von ausländischen Studenten keine Studiengebühren. Doch die Nebenkosten des Studiums wurden nicht übernommen. Ausländer hatten weder Anspruch auf staatliche Studienfinanzierung (BAföG) noch auf Sozialleistungen. Sie mussten vor Studienbeginn einen Nachweis liefern, dass sie das Studium selbst finanzieren konnten. Derartige Bedingungen machten ein Studium in der BRD für Menschen aus der Arbeiterklasse im Globalen Süden unmöglich. Darüber hinaus hat der Westen eine lange Tradition der Abwerbung von Fachkräften, um ihren eigenen Mangel an medizinischem Personal auszugleichen. Im Jahr 1979, während das sozialistische Lager zahlreiche Programme für die Ausbildung medizinischen Personals aus den jungen Nationalstaaten entwickelte, sind 90 Prozent aller abwandernden Ärzte der Welt in nur fünf Länder gezogen: Australien, Kanada, die Bundesrepublik Deutschland, Großbritannien und die USA.2Vgl. C. R. Hooper: “Adding Insult to Injury: The Healthcare Brain Drain”, in: Journal of Medical Ethics, Vol. 34, Nr. 9 (2008), S. 684–7. Diese Tendenz hat sich seit dem Zusammenbruch des sozialistischen Weltsystems nur noch verschärft: seit dem Jahr 2000 ist der Anteil der im Ausland ausgebildeten Ärzte in der Bundesrepublik um mehr als 270 Prozent gestiegen.3Von 3,7 % auf 13,7 % im Jahr 2020. Vgl. Organisation for Economic Co-operation and Development (OECD): Health Workforce Migration: Migration of doctors, % of foreign trained doctors, letzter Zugriff am 20.04.2023.
In der DDR hingegen erhielten ausländische Studierende nicht nur ausreichende Stipendien für die Finanzierung ihres Lebensunterhalts, sondern wurden auch direkt in das Kranken- und Sozialversicherungssystem einbezogen, das ihnen unter anderem eine kostenlose medizinische Versorgung garantierte. Derartige Maßnahmen ermöglichten es den „Verdammten dieser Erde“, eine Ausbildung aufzunehmen. Die Zusammensetzung der jeweiligen Studentenschaften führt diese Tatsache anschaulich vor: In Westdeutschland kamen Anfang der 1980er Jahre etwa 50 Prozent aller internationalen Studierenden aus Entwicklungsländern,4Vgl. Wolfgang Schmidt-Streckenbach: „Strukturen des Ausländerstudiums in der Bundesrepublik Deutschland“, in: Hans F. Illy und Wolfgang Schmidt-Streckenbach (Hrsg.): Studenten aus der Dritten Welt in beiden deutschen Staaten. Berlin, 1987, S. 51. davon gerade einmal 6 Prozent aus Afrika;5„Erstaunlich gering ist der Anteil Schwarzafrikas. Die hier erfaßten 40 Staaten vermögen mit rund 2 000 Personen gerade 6 % der Studienplätze, die den Studenten aus der Dritten Welt in der Bundesrepublik insgesamt zur Verfügung gestellt sind, mit ihren Staatsangehörigen zu besetzen.“ Vgl. ibid. im ostdeutschen Arbeiter- und Bauernstaat waren zu dieser Zeit etwa ein Viertel aller internationalen Studenten Afrikaner.6„Die starke Hinwendung der DDR zu einzelnen afrikanischen Staaten und zu Befreiungsbewegungen auf diesem Kontinent hat für Afrika zu einem Zuwachs um gut 6 Punkte geführt, so daß heute bereits rund ein Viertel aller Auslandsstudenten in der DDR (…) aus dieser Region kommt.“ Vgl. Roland Wiedmann: „Strukturen des Ausländerstudiums in der DDR“, in: Hans F. Illy und Wolfgang Schmidt-Streckenbach (Hrsg.): Studenten aus der Dritten Welt in beiden deutschen Staaten. Berlin, 1987, S. 98. Nicht-Europäer machten mehr als zwei Drittel der internationalen DDR-Studentenschaft aus.7Vgl. ibid., S. 91. Die Aufnahme einer Ausbildung wurde durch gemeinsame Abkommen geregelt, nicht durch die individuellen Entscheidungen einzelner Studenten. Auf diese Weise wurde die Ausbildung an den jeweiligen Bedürfnissen der entsendenden Länder gemessen und auch in deren Planungsprozesse sowie in die der DDR eingebettet. Die sozialistischen Staaten praktizierten damit genau das Gegenteil des westlichen Brain-Drains.
Wie entstand diese Zusammenarbeit zwischen dem sozialistischen Lager und den Unabhängigkeitsbewegungen? Welche Rolle spielte die Solidarität auf dem Gebiet der Medizin im Rahmen der allgemeinen antiimperialistischen Strategie der DDR? Inwieweit verstanden diejenigen, die an der Verwirklichung solcher Initiativen beteiligt waren, ihre Tätigkeit als einen Beitrag zum proletarischen Internationalismus?
Diese Fragen haben wir dem letzten Leiter des Solidaritätskomitees, Achim Reichardt, in einem Gespräch im Jahr 2021 gestellt. Er sprach über eine Vielzahl von Beispielen – vom Aufbau von Krankenhäusern wie in Nikaragua und Vietnam, über Kooperationen in Forschung und Entwicklung, bis hin zur Entsendung von Ärzte-Brigaden und der Verschiffung medizinischer Versorgungsmittel. Er informierte uns auch über eine medizinische Fachschule im ostdeutschen Quedlinburg und meinte, dort müssten wir anfangen. Er vermittelte uns den Kontakt zu einem ehemaligen Lehrer der Schule und mit seiner Hilfe nahmen wir die Fäden auf, die uns nach Mali, in den Libanon und bis nach Guinea-Bissau führten. Schnell wurde klar, jene Schule ist ein wenig beachtetes Kapitel DDR-Geschichte8Eine erste ausführlichere wissenschaftliche Untersuchung findet sich in: Young-sun Hong: “Know your Body and Build Socialism”. In: Cold War Germany, the Third World, and the Global Humanitarian Regime, 2015, S. 177 – 214., an welchem sich Anspruch und Wirklichkeit der Ausländerausbildung und des medizinischen Internationalismus der DDR kompakt untersuchen lassen. Im Folgenden werden wir unsere bisherigen Erkenntnisse über die Schule vorstellen und ihre Rolle und Wirkung für die internationalistische Praxis der DDR diskutieren.
II. „Medifa“ – die medizinische Fachschule in Quedlinburg
Für unsere Recherchen erkundeten wir den Ort Quedlinburg, entdeckten verloren geglaubte Klassenbücher in dunklen Kellern, befragten ehemalige Lehrerinnen und Lehrer, deren Erzählungen bisher ungehört waren, sprachen mit Bürgern aus der Stadt, und nahmen Verbindungen zu Absolventen der Schule in verschiedenen Ländern auf. Dass uns dies gelungen ist, liegt vor allem daran, dass auch über die Studienaufenthalte in der DDR und über deren Ende hinaus Kontakte zwischen vormals Lehrenden und Lernenden bestehen blieben. Die mit uns geteilten Alltagserfahrungen können einen subjektiven Eindruck vermitteln, dem wir in unserem “Freundschaft!”-Archiv Raum geben. In den Interviews mit ehemaligen Studenten begegnete uns immer wieder die Überzeugung, dass die Medizinische Fachschule Quedlinburg einen wichtigen Teil der Solidarität der sozialistischen Länder ausmachte, ohne die „Tausende (…) aus Ländern in der ganzen Welt keinen Zugang zu akademischer Bildung gehabt“ hätten.9Anonymisiert (palästinensischer Arzt, der in den späten 1980er Jahren über die PLO an der Medifa studierte), schriftliches Interview mit den Autoren. 28. August 2021. Für Lehrer wie Ulrich Kolbe war es eine zutiefst humanistische und politische Selbstverständlichkeit, im Geiste des proletarischen Internationalismus bei der Schaffung menschenwürdiger Verhältnisse vor allem in den ärmsten und unterdrückten Staaten der Welt mitzuwirken.10Ulrich Kolbe (Deutschlehrer an der Medifa in den späten 1980er Jahren), im Gespräch mit den Autoren. 6. Juli 2021. Quedlinburg. Anhand der Schule als einer internationalistischen Institution unter vielen im sozialistischen Lager ist es drüber hinaus möglich, die Funktionsweise dieser Solidaritätsarbeit zu erkunden. Dafür haben wir sowohl Sekundärliteratur als auch Archivmaterial wie staatliche Abkommen, Parteikommunikationen und die von uns entdeckten Seminargruppenbücher aus den 1980er Jahren ausgewertet.
Die Medizinische Fachschule in Quedlinburg – eine kleine, mittelalterlich geprägte Stadt im Norden des Harzes – trug seit 1955 offiziell den Namen der ersten deutschen Frau, die den Titel „Doktor der Medizin“ im 18. Jahrhundert erhielt: Dorothea Christiane Erxleben. Von ihren Schülern und Lehrern bloß „Medifa“ genannt, war sie eine von mehr als 60 Medizinischen Fachschulen in der DDR und dem Kreiskrankenhaus Quedlinburg angeschlossen. Als Schwesternschule existierte sie bereits seit 1907 und wurde 1961 zur Berufsschule umgestaltet. Ein erster Jahrgang internationaler Auszubildender wurde aufgenommen, die noch bis zum Schuljahr 1964/65 gemeinsam mit DDR-Bürgerinnen lernten. Ab 1965 wurde dort ausschließlich medizinisches Personal aus jungen Nationalstaaten ausgebildet, d.h. den sich gerade vom Joch des Kolonialismus befreiten Ländern Asiens, Afrikas und Lateinamerikas und jenen, die noch um ihre Befreiung kämpften. Ausgebildet wurden diese insbesondere als Krankenschwestern bzw. ‑pfleger, aber auch als Medizinpädagogen, Arzthelfer, Physiotherapeuten, Hebammen und Orthopädiemechaniker.
Bereits seit den 1950er Jahren hatte die DDR, Menschen aus den jungen Nationalstaaten empfangen, um ihnen eine medizinische Ausbildung zu ermöglichen. Sie studierten an Fach- und Hochschulen. Die Medifa wurde in dieses System der Ausbildung medizinischer Fachkräfte zentral eingebettet und wurde kontinuierlich weiterentwickelt, um den besonderen Anforderungen, die die internationalen Auszubildenden und Studenten mitbrachten, gerecht werden zu können. Als „Ausbildungsstätte für ausländische Bürger“ bot die Schule in Quedlinburg etwa einen fachspezifischen Deutschunterricht an, den auch absolvierte, wer dann als Arzt für eine Qualifikation oder für eine Ausbildung in einem medizinischen Beruf an eine der Universitäten oder Fachschulen der DDR ging.
Die Studenten der Medifa kamen aus dem Libanon, Jordanien, Syrien, Mali, Tansania, Laos, Ägypten, der Volksrepublik Jemen, Madagaskar, Südafrika, Zimbabwe, Sambia, Guinea-Bissau, Kap-Verden, Palästina, Nikaragua, El-Salvador, Laos, Kambodscha und vielen weiteren Ländern. Für die rund 2.000 internationalen Studierenden, die die Medifa durchliefen, war die Finanzierung ihrer Ausbildung Teil umfassender Handels- oder Kulturabkommen zwischen der DDR und anderen Staaten.11Die Anzahl der Studierenden sowie die entsendenden Länder und Organisationen konnte aus den Angaben des letzten Leiters der Medifa, Fritz Kolbe, und den ergänzenden Auswertungen der Seminargruppenbücher aus den 1980er Jahren durch die IF DDR ermittelt werden. Fritz Kolbe: „Kaderausbildung – Ausdruck des proletarischen Internationalismus“, in: Solidaritätskomitee der DDR (Hrsg.): Für antiimperialistische Solidarität, Ausgabe 37/1984, S. 39. Vereinbarungen unterhalb der staatlichen Ebene wurden aber auch zwischen verschiedenen gesellschaftlichen Organisationen der DDR (z.B. Gewerkschaften oder dem Solidaritätskomitee ) und politischen oder zivilen Organisationen im Globalen Süden geschlossen. Viele Studenten kamen zu einer Zeit als noch für die Freiheit ihrer Länder gekämpft wurde, um weitsichtig bereits den Neuaufbau eines staatlichen Gesundheitswesens vorzubereiten. Für einige vom Kolonialismus befreite Staaten bildete die Schule das erste medizinische Personal überhaupt aus.
Die DDR stellte die Infrastruktur für die ausländischen Studierenden bereit, das Partnerland war für die Übernahme der Anreisekosten zuständig – was aber in Einzelfällen auch anders geregelt werden konnte. Nach ihrer Ankunft erhielten die Studenten Stipendien, um alle Nebenkosten des Studiums zu decken. Dieses begann bei 300 Mark, lag damit über dem Wert der Stipendienbeträge für DDR-Bürgerinnen und konnte je nach Qualifikation und Leistung der Studenten erhöht werden. Diejenigen, die aus exilierten Befreiungsbewegungen kamen, erhielten zusätzliche Zulagen, um die fehlenden Mittel ihrer Bewegungen zu decken.12Vom Stipendium mussten ungefähr 100 Mark für die Unterkunft und Verpflegung aufgebracht werden. In einer Staatsanordnung von 1966 wurde das Standardverfahren zur Finanzierung von Stipendienzahlungen an ausländische Bürger bei Ausbildung in medizinischen Berufen festgelegt. Ein höheres Stipendium für bestimmte Studenten wurde damit begründet, dass die „Bürger von den Befreiungsorganisationen der Länder in die DDR delegiert wurden, die sich selbst in Afrika in Emigration befinden. Sie erhalten von dort keinerlei Unterstützung und müssen demzufolge persönliche Belange selbst bestreiten.“ Vgl. BArch DQ 1/3956, „Anordnung über die Finanzierung der beruflichen Aus- oder Weiterbildung von Bürgern aus Entwicklungsländern in der Deutschen Demokratischen Republik vom 13.12.1966“.
Die ersten, die ihre Ausbildung Anfang der 1960er Jahre in Quedlinburg aufnahmen, waren 20 junge Studenten aus dem damals revolutionären Mali, wovon die meisten eine Ausbildung zum Arzthelfer erfolgreich abschlossen. Krankenpfleger und ‑schwestern folgten. Die DDR und Mali erarbeiteten 1967 eine umfassende Vereinbarung über die Zusammenarbeit im Bereich der Gesundheit, in welcher die Finanzierung dieser Ausbildung und Qualifikationen für Ärzte eine zentrale Rolle einnahm.13Vgl. BArch DQ 1/23938, „Abkommen zwischen der Regierung der Deutschen Demokratischen Republik und der Regierung der Republik Mali über die Zusammenarbeit auf dem Gebiet des Gesundheitswesens“, 1967. DDR-Vertreter machten in einem internen Bericht zur Bewertung des geplanten Abkommens darüber hinaus ihre Ziele deutlich:
“Die Realisierung dieser Maßnahmen würde wesentlich dazu beitragen, die Beziehungen zwischen der DDR und der Republik Mali zu vertiefen und das Ansehen der DDR in Afrika weiter zu erhöhen. Diese Maßnahmen wären darüber hinaus ein wirkungsvoller Beitrag zur Unterstützung des Kampfes der Malinesischen Regierung gegen die imperialistischen und neokolonialistischen Einmischungsversuche.”14Vgl. BArch DQ 1/23938, „Begründung“, undatiert.
Ein solcher Bericht spiegelt die damalige Analyse des sozialistischen Lagers wider, wonach der revolutionären Weltprozess aus drei voneinander abhängigen Strömungen bestand: den nationalen Befreiungskämpfen in den Kolonien, den Arbeiterbewegungen in den kapitalistischen Staaten und der Konsolidierung der sozialistischen Staaten. Ziele wie „die Erhöhung des Ansehens der DDR in Afrika“ und die „Unterstützung des Kampfes der Malinesischen Regierung“ waren somit keine gegensätzlichen Ziele. Abkommen wie dieses zwischen der DDR und Mali waren darüber hinaus mehr als eine bloße Gegenleistung: Die selbsterklärte Absicht der DDR und der weltweiten kommunistischen Bewegung war es, die drei Strömungen des revolutionären Weltprozess zu koordinieren und zu stärken. Abkommen wie das mit Mali wurden dafür als ein wichtiges Instrument verstanden.15Der verlinkte Artikel über den nichtkapitalistischen Entwicklungsweg Malis geht auf diesen Aspekt näher ein.
III. Voneinander lernen — Internationalismus im Aufbau
In einer Abschiedsrede der ersten Auszubildenden aus Mali, sagten diese, dass es bei ihrer Ankunft noch keine Erfahrungen gab, wie die Ausbildung effektiv gestaltet werden solle. Der medizinische Internationalismus steckte noch in seinen Kinderschuhen und musste mit den Erkenntnissen aus der Praxis allmählich entwickelt werden. Die Lehrpläne mussten den Bedürfnissen vor Ort noch angepasst werden — ein Prozess, der ein beiderseitiges Lernen voraussetzte.
Zur Vorbereitung von Gesundheitsabkommen wurden Ärzte aus der DDR in entsprechende Länder geschickt, um Eindrücke vor Ort zu sammeln. Die Aufgabe bestand darin, in den Austausch mit Fachleuten zu kommen, die Lage einzusehen und Einschätzungen zur Lieferung von Pharmazeutika aus der DDR zu geben. Zugleich wurde Ärzten und Mitarbeitern des Gesundheitswesens aus den Partnerländern die Gelegenheit gegeben, auf Kosten der DDR eine Studienreise zu unternehmen, um Einblicke in das Gesundheitswesen der DDR zu gewinnen. Durch diese gegenseitigen Besuche konnten die Bedürfnisse ermittelt und abgestimmt werden.
Um den gravierenden Mangel an medizinisch ausgebildetem Personal zu überwinden, kam dem Beruf des Arzthelfers eine besondere Bedeutung zu, weil er medizinische Hilfe ohne ein langjähriges Medizinstudium ermöglichte. In einem Interview für Radio Berlin International 1989 drückte der damalige Direktor der Schule, Fritz Kolbe, aus, worin der Unterschied zwischen diesem Berufsbild und jenem einer Krankenschwester lag und warum dieser Beruf unterrichtet wurde:
„Erstes Ausbildungsziel für Krankenschwestern der DDR ist, dass sie verlässliche Partnerinnen des Arztes sind. Wenn in afrikanischen Ländern der nächste Arzt einige Hundert Kilometer entfernt oder gar kein Arzt verfügbar ist, stellt es Krankenschwestern vor Probleme, denen sie nicht gewachsen sind. Aus diesem Grund haben wir in der Ausbildung einen alten Beruf wieder eingeführt, nur für ausländische Bürger, den des Arzthelfers, ein Beruf, der zwischen Krankenschwester auf der einen und Arzt auf der anderen Seite steht. Besonders im dritten Ausbildungsjahr lernen die jungen Freunde an der Seite eines Arztes die notwendigen praktischen Fähigkeiten, um selbständig viele Diagnosen zu stellen und eine Therapie vornehmen zu können.“16Rundfunk-Beitrag auf Radio Berlin International vom 4. November 1989; vgl. Heinz Odermann: Wellen mit tausend Klängen – Geschichten rund um den Erdball in Sendungen des Auslandsrundfunks der DDR Radio Berlin International. Berlin, 2003, S. 88.
Weitere ähnliche Anforderungen zur Anpassung der Lernbedingungen an die Bedürfnisse der Entsendeländer bewältigte man durch eine enge Einbindung der Studierenden in die Gestaltung ihrer Ausbildung. 1964 wurde etwa nach einer Lösung des Problems gesucht, das nigerianische Auszubildende zur Sprache gebracht hatten: Eine Krankenschwesternausbildung ohne den Bereich Geburtshilfe hieße für ihre Verhältnisse, nur einen halben Beruf zu erlernen, da Geburtshilfe zu den Kompetenzen der Krankenschwestern in Nigeria gehörte. Die Hebammenkunde wurde daraufhin in den Studiengang Krankenpflege integriert. Mit der Zeit und im Austausch mit den Partnerländern wurden die Lehrinhalte der Schule so verbessert und dabei auch an spezielle Ansprüche der Herkunftsländer der Studenten angepasst.
Ab 1965 war die Medifa eine „Ausbildungsstätte für ausländische Bürger“ und somit ausschließlich auf internationale Studenten spezialisiert: „Wir sind der Meinung, dass die Zeit herangereift ist, die Periode der Improvisation in der Ausländerausbildung zu beenden und unserer Schule als Ausbildungsstätte ausländischer Bürger eine feste Struktur zu geben.“17Vgl. BArch DQ 1/6480, Brief von Hildegard Haas, stellvertretende Direktorin der Medizinischen Fachschule Quedlinburg an das Ministerium für Gesundheitswesen, Sektor mittlere medizinische Berufe vom 15.06.1964. Dieser Schritt war mit der Errichtung einer eigenen Deutschunterrichtsabteilung in der Medifa verbunden. Zuvor mussten viele der Studierenden, um Deutsch zu lernen, noch an die Zentrale Schule für ausländische Bürger nach Radebeul in Sachsen, einer Zweigstelle des Leipziger Herder-Instituts. Ab 1967 erlernten alle ausländischen Bürger, die für eine Ausbildung im Bereich des Gesundheitswesens in die DDR gekommen waren, die deutsche Sprache an der Medifa. Dadurch wurde sie zu einem zentralen Lernort, der angehendem medizinischen Personal eine fachspezifische Sprachvermittlung auf hohem Niveau bot.
1974 wurde die Medifa in den Rang einer Fachschule erhoben, sodass aus den Ausbildungsprogrammen nun ein Fachschulstudium wurde und sich die Ausbildungszeit um ein Jahr verlängerte. Damit fand auch eine Angleichung an die Entwicklungen im Gesundheitswesen der DDR statt, wo Krankenschwestern und Pflegepersonal eine allgemeinmedizinische Ausbildung auf hohem akademischem Niveau erhielten, was eine hohe Qualifizierung bedeutete.18Fritz Kolbe beschrieb im bereits genannten Radio-Beitrag, wie das Curriculum der angehenden Krankenschwestern 1989 aussah: „Knapp vier Jahre dauert die Ausbildung. Die ersten 10 Monate sind ausschließlich dem Studium der deutschen Sprache vorbehalten. Anschließend werden zwei Jahre jeweils vier Wochen Theorie im Wechsel mit vier Wochen Praxis im nahen gelegenen Kreiskrankenhaus vermittelt. Das erste Ausbildungsjahr der künftigen Krankenschwestern wird ausschließlich durch die Praxis bestimmt.” Vgl. Heinz Odermann: Wellen mit tausend Klängen. Berlin, 2003, S. 88. Ein Jahr später wurde auch das Studienfach Medizinpädagogik eingeführt, um die Studierenden zu befähigen, ihr an der Medifa erworbenes Wissen in ihrer Heimat als Lehrende weiterzugeben und als Multiplikatoren zu fungieren. Ein Bestandsbericht aus dem Jahr 1979 zeigt die Vielgestaltigkeit der Studienfächer:
„Zur Unterstützung beim Aufbau nationaler Gesundheitsdienste schloss die DDR bisher mit über 30 Entwicklungsländern Gesundheitsabkommen oder Pläne zur Zusammenarbeit auf kulturell-wissenschaftlichem Gebiet ab. An Hoch- und Fachschulen sowie an Einrichtungen des Gesundheitswesens unserer Republik erhalten Bürger aus mehr als 20 Ländern Afrikas, Asiens und Lateinamerikas eine medizinische Aus- und Weiterbildung. Zahlreiche Kader aus Staaten dieser Kontinente werden in unserem Staat ausgebildet, und zwar vor allem als Krankenschwester bzw. Krankenpfleger, als Physiotherapeut, Medizinpädagoge, Hebamme und Orthopädiemechaniker. Bereits ausgebildete Krankenschwestern und Laboranten aus jungen Nationalstaaten werden auf Spezialgebieten wie Mikrobiologie, Hämatologie, Anästhesie, Dialyse oder in der Operationstechnik qualifiziert.“ 19Neues Deutschland vom 05.01.1979, Seite 2: Pläne für die Zusammenarbeit mit den Entwicklungsländern.
Die staatliche Planung aller Bereiche und Institutionen des Bildungssystems in der DDR bedeutete auch, dass die Zusammenarbeit zwischen verschiedenen medizinischen Institutionen gefördert und koordiniert wurde. So entstand zum Beispiel eine Kooperation zwischen der Medifa und dem Tropeninstitut an der Karl-Marx-Universität in Leipzig, die es ermöglichte, „dass die Studenten unter den Bedingungen ihrer Heimatländer mit einem anwendbaren Wissen arbeiten konnten“, so Fritz Kolbe 1982.20Vgl. 75 Jahre Kreiskrankenhaus Quedlinburg, 1982, S. 66. Gerade im Bereich der Tropenmedizin konnte die Medifa zu Anfang kaum praktische Erfahrungen vermitteln. Das wurde in den 80er Jahren geändert:
„Die neue Abteilung, auf der die Dispensairebetreuung von Tropenreisenden durchgeführt wird, übernimmt auch spezielle Gebiete in der Ausbildung von Medizinstudenten. Dazu gehören unter anderem tropenmedizinische Vorlesungen und Praktika für ausländische Studierende des dritten bis fünften Studienjahres. Im Rahmen eines Kooperationsvertrages mit der Medizinischen Fachschule „Dorothea Christiane Erxleben” in Quedlinburg betreut die Abteilung seit Februar 1980 Fachschülerinnen, die aus tropischen Entwicklungsländern zur Ausbildung als Krankenpflegerinnen in die DDR kamen.“ 21Neues Deutschland vom 19.05.1980, S. 3: Neue Fachstation für Tropenmedizin.
Die Zusammenarbeit bei der Erforschung und Behandlung von Tropenkrankheiten half beiden Seiten. Während die afrikanischen Staaten Zugang zu den Forschungsergebnissen erhielten, konnte die DDR bei ihrer Arzneimittelentwicklung auch auf die Erfahrung mit Heilpflanzen vor Ort zurückgreifen. Im Lichte der massiven Sanktionsmaßnahmen, denen die DDR zeit ihres Bestehens ausgesetzt war und die sie vor allem von Forschung und Entwicklung auf internationaler Ebene stark ausgrenzte, ermöglichten solche Kooperationen auch eigene Fortschritte in Wissenschaft und Forschung.
Die Entwicklung der Ausbildungsprogramme der Medifa spiegelt einen Lernprozess wider, in dem die spezifischen Anforderungen an das medizinische Personal in den jungen Nationalstaaten ermittelt und berücksichtigt wurden. Dies war keine leichte Aufgabe und benötigte ständigen Austausch auf mehreren Ebenen. Die knapp 30-jährige Entwicklung der Schule lässt die schrittweise und kontinuierliche Verbesserung und Spezifizierung der Ausbildung erkennen. Vor allem belegt diese Entwicklung, dass es die Bedürfnisse der Entsendeländer von entscheidender Bedeutung waren und als Maßstab zur Ausbildung dienten und nicht umgekehrt. Ende der 1980er Jahre stieß die Zahl der Studierenden aus knapp 50 Ländern an der Medifa an ihre Kapazitätsgrenzen. Dazu kamen im Verlauf der 1980er Jahre auch vereinzelt Selbstzahlende, die ohne ein Stipendium an der Medifa studierten. Neben den grundsätzlich geringeren Kosten, die ein Studium in der DDR auch bei Selbstzahlung mit sich brachte, spricht dies auch dafür, dass die Ausbildungsprogramme der DDR hohes Ansehen genossen.
IV. Gelebte Solidarität
Der wesentliche internationalistische Auftrag der Medifa bestand darin, die Studenten für ihre zukünftigen Verantwortungen in ihren Herkunftsländern auszubilden, ihr Aufenthalt in der DDR war begrenzt. Und dennoch entwickelten sich vielfältige Verbindungen zum gesellschaftlichen Umfeld, die den internationalistischen Charakter der Schule auch im Alltagsleben spiegeln. Dass sich diese Verbindungen oft organisch und auf Initiative der Beteiligten entwickelten, reflektiert auch eine grundsätzliche Seite der DDR, in der Institutionen des Bildungsbereichs nicht isoliert agierten, sondern eng mit der Gesellschaft als Ganzes verknüpft waren. Die Studenten lernten eine Gesellschaft kennen, in der die Solidarität mit ihren politischen Bewegungen einen breiten Konsens in der Bevölkerung fand und zugleich staatliches Programm war. Salam, der in den 1980er Jahren aus dem Libanon zum Studium an die Medifa kam, erinnert sich an seinen ersten Eindruck von der DDR:
„Ich bin am 11. Mai 1983 mit Interflug in die DDR gekommen. Es gab zu dieser Zeit drei Feste in der DDR: den ersten Mai, Karl-Marx Geburtstag und der Tag der Befreiung. Berlin war rot! Ich hab mich sehr gefreut. Alles war rot, wohin man auch geguckt hat. Das war sehr schön und beeindruckend für mich.“ 22Salam Abou Mjahed (libanesischer Journalist, der in den späten 1980er Jahren an der Medifa Deutsch studierte), im Gespräch mit den Autoren. 20. Januar 2023. Berlin.
Die Studenten aus dem Globalen Süden waren in der Gesellschaft nicht fremd, ebenso wenig wie ihre Kämpfe. Viele DDR-Bürger waren gut informiert über ihre politischen Bewegungen in den Herkunftsländern und bekundeten ihre Solidarität in privaten Kontakten wie öffentlichen Manifestationen, etwa bei 1.-Mai-Demonstrationen, wo die Studenten der Medifa als erster Block marschierten. An der Schule organisierten die Studierenden zudem ihre eigenen politischen Veranstaltungen, Kulturabende und Feiern zu ihren nationalen Feiertagen.
Auch für die DDR-Bevölkerung im sozialen Umfeld der Schule bot sich die besondere Möglichkeit, im direkten Austausch mit den internationalen Studenten von ihren Erfahrungen, Kämpfen und Ländern zu lernen. Fritz Kolbe, der ehemalige Direktor der Medifa, sagte in einem Radiobeitrag 1982, die internationalen Studenten hätten den DDR-Bürgern die Möglichkeit gegeben, „unser Land, unsere Menschen, unser tägliches Leben mit den Augen eines Ausländers zu sehen.“ Ein herausragendes Beispiel für diese wechselseitigen Kontakte waren die „Patenbrigaden“ zwischen den Studenten und den Arbeitern in volkseigenen Betrieben rund um Quedlinburg.23Regina Klein (Arbeiterin beim VEB Philopharm Quedlinburg), im Gespräch mit den Autoren. 28. September 2021. Quedlinburg. Und Hilde Kolbe (Deutschlehrerin an der Medifa), im Gespräch mit den Autoren. 6. Juli 2021. Quedlinburg. Durch diese Brigaden, die die Medifa-Lehrer auf eigene Initiative organisierten, lernten die Studierenden die sozialistischen Betriebe kennen, machten sich über ihre angeschlossenen Einrichtungen wie die Betriebspolikliniken und kindergärten kundig und erfuhren somit ganz konkret, welche andere Praxis die geänderten Eigentumsverhältnisse und daraus erwachsenen Strukturen hervorgebracht hatten. Die Arbeiter aus den Betrieben konnten ihrerseits den Unterricht in der Medifa besuchen und sich mit den Studenten politisch austauschen. Zudem konnten die Studenten Urlaube und Ausflüge in der DDR machen, Kulturveranstaltungen besuchen und so das Alltagsleben der Menschen kennenlernen. Sie wurden oft über Feiertage und zu Festen in die Familien eingeladen.24Soumaya Kharrat (libanesische Ärztin, die in den späten 1980er Jahren an der Medifa studierte), Zoom-Interview mit den Autoren. 16. September 2021. Berlin/Beirut. „Man war Mutter, man war Schwester, man war Freundin, Bekannte, alles“, erinnert sich Hilde, eine der Deutschlehrerinnen an der Medifa.25Hilde Kolbe (Deutschlehrerin an der Medifa), im Gespräch mit den Autoren. 6. Juli 2021. Quedlinburg. Es entstanden persönliche Verbindungen, die die Verbundenheit der Länder und fortschrittlichen Organisationen im Kleinen widerspiegeln und verstärken konnten.
Durch diesen alltäglichen Kontakt mit verschiedenen Teilen der DDR-Gesellschaft konnten die Studierenden von den Erfahrungen der DDR beim Aufbau des Sozialismus lernen und diese Erkenntnisse in ihr Heimatland zurückbringen. Für viele, die 1989/90 an der Medifa studierten, wurde der Bruch, den das Ende der DDR bedeutete, sehr deutlich. Sie konnten nicht verstehen, wieso die DDR-Bevölkerung die gesellschaftlichen Errungenschaften, den Frieden, die sozialen und kulturellen Rechte und Freiheiten aufs Spiel setzte. Soumaya, die über die „Libanesische Volkshilfe“ zum Studium an die Medifa kam, erinnerte sich:
„Viele junge Leute sagten uns, dass die BRD besser als die DDR ist. Und wir haben gesagt: Nein, in der BRD ist es so, wie es auch im Libanon ist. Die DDR ist ganz anders, ihr habt ein ganz anderes Leben. Ihr lebt in Sicherheit und könnt zur Schule gehen. Ihr müsst euch keine Sorgen über eine Ausbildung machen und auch nicht sorgen, wenn ihr ins Krankenhaus müsst. Manche haben gesagt, dass sie glücklich in der DDR sind. Aber einige sagten wiederum: “Wir haben nichts.” Worauf ich sage: “Wie, ihr habt nichts? Ihr habt alles! Nicht Pepsi oder Coca-Cola? Ihr habt Limonade, das ist gleich! Nur der Name ist anders.“ 26Soumaya Kharrat (libanesische Ärztin, die in den späten 1980er Jahren an der MediFa studierte), Zoom-Interview mit den Autoren. 16. September 2021. Berlin/Beirut.
V. Ein Baustein im weltweiten Kampf gegen den Imperialismus
Mit dem Ende der DDR wurden 1991 auch die Türen der Medifa geschlossen und Erinnerungen an die Schule und ihre internationale Bedeutung aus dem öffentlichen Gedächtnis getilgt. Sämtliche Spuren der Fachschule wurden aus dem Stadtbild und an den betreffenden Gebäuden in Quedlinburg beseitigt. Die Studenten, Lehrer oder Mitarbeiter, die wir trafen, verbinden positive und spannende Lebenserfahrungen mit der Medifa. Ihre politische Bedeutung, der Hintergrund und die Wirkung der Fachschule finden in der Öffentlichkeit keine Beachtung mehr.
„Es ging darum, dass man gemeinsam für den Frieden, für den Fortschritt und für soziale Gerechtigkeit eintrat. Das ist also die grundlegende Definition dessen, was wir unter proletarischem Internationalismus verstanden. Das zu leben war eine tägliche Aufgabe für jeden und wurde unterschiedlich gehandhabt.“ 27Ulrich Kolbe (Deutschlehrer an der Medifa in den späten 1980er Jahren), im Gespräch mit den Autoren. 6. Juli 2021. Quedlinburg.
Die Länder des sozialistischen Lagers konnten sich nicht in Isolation entwickeln. Der soziale und politische Fortschritt des Sozialismus war darauf angewiesen, dass der Kampf gegen den Imperialismus weltweit vorankam. Und umgekehrt konnten sich die Befreiungsbewegungen und jungen Nationalstaaten darauf stützen, dass die sozialistischen Länder ihnen halfen, souveräne Strukturen aufzubauen und die Abhängigkeiten vom Imperialismus zu überwinden. Die Medifa ist ein Beispiel, ein Instrument, mit dem diese Zusammenarbeit verwirklicht wurde. Es war kein Akt der Selbstlosigkeit oder Wohltätigkeit, wie „Hilfe“ für den Globalen Süden heute zu verkaufen versucht wird, begleitet von einem kaum verhohlenen Paternalismus, der im schroffen Gegensatz zu einer Beziehung auf Augenhöhe steht, wie sie zwischen der DDR und den jungen Nationalstaaten bzw. Befreiungsorganisationen entwickelte. Diese menschliche Erniedrigung stellt in gewisser Hinsicht eine folgerichtige Begleiterscheinung der „Entwicklungshilfe“ dar, weil sie in ihrer praktischen Wirkung nicht darauf ausgerichtet ist, den Entwicklungsunterschied der Länder und Gesellschaften anzugleichen, sondern zu verfestigen und zu vergrößern.
Der Ansatz der DDR, der sich an der Medifa plastisch zeigt, war ein ultimativ anderer. Es ging um echte Hilfe, die zugleich im Interesse eines gemeinsam geführten Kampfes gegen den Imperialismus lag. In Gesprächen über die Medifa und zur Solidaritätsarbeit der DDR allgemein begegnete uns wiederholt die Frage, welchen praktischen Nutzen sie tatsächlich entfalten konnte für die jungen Nationalstaaten und Befreiungsbewegungen. Eine Frage, die letztlich am Kern der historischen Qualität des Internationalismus und den Lehren, die wir daraus ziehen können, vorbeigeht. Im Verhältnis zu den Anforderungen, die sich aus der jahrhundertelangen Unterentwicklung durch europäische Kolonisatoren ergeben haben, war die Wirkung der Schule sicherlich begrenzt. Entscheidend ist jedoch, dass die Entwicklungsrichtung umgekehrt wurde. Nicht Unterentwicklung, sondern Aufbau, nicht Unterwerfung, sondern Souveränität, Ausbildung statt Brain-Drain wurden zu Maßstäben der internationalen Beziehungen. In der Umkehrung der historischen Tendenz liegt die große Errungenschaft der praktischen Solidarität, die auch heute noch richtungsweisend ist für eine internationalistische und antiimperialistische Perspektive.