„L’option socialiste“: Der nichtkapitalistische Entwicklungsweg Malis und die internationale kommunistische Bewegung

postage-stamp-printed-mali-shows-establishment-mali-federation-serie-circa-moscow-russia-october-postage-stamp-printed-201095495
Eine Brief­marke zum Geden­ken an die kurz­le­bige Mali-Föderation

Von 1960 bis 1968 stand die Repu­blik Mali an der Spitze der sozia­len Revo­lu­tion in Afrika. Die Regie­rungs­par­tei des Landes, die Union Souda­naise, hatte sich gewei­gert, sich mit der forma­len poli­ti­schen Souve­rä­ni­tät zu begnü­gen, und erklärte 1960, dass sich die Repu­blik für die „l’option socia­liste“ entschei­den würde, um die wirt­schaft­li­che Unab­hän­gig­keit und die soziale Befrei­ung des mali­schen Volkes zu sichern. Die natio­nale Bewe­gung in „Fran­zö­sisch-West­afrika“ unter­hielt von Anfang an enge Verbin­dun­gen zur inter­na­tio­na­len kommu­nis­ti­schen Bewe­gung. Viele ihrer Führer hatten die Grou­pes d’Etudes Commu­nis­tes orga­ni­siert, Studi­en­zel­len, die sich in den 1940er Jahren mit Hilfe der Kommu­nis­ti­schen Partei Frank­reichs über ganz West- und Äqua­to­ri­al­afrika verbrei­tet hatten. Nach­dem Mali und Guinea Ende der 1950er Jahre mit anti­im­pe­ria­lis­ti­schen Parteien an der Spitze ihre Unab­hän­gig­keit erlangt hatten, nahm diese Bezie­hung neue Dimen­sio­nen an. Das sozia­lis­ti­sche Lager begann nun, diese jungen Staa­ten in ihrem Bestre­ben zu unter­stüt­zen, die neoko­lo­niale Ausbeu­tung zu über­win­den und letzt­lich die kapi­ta­lis­ti­sche Entwick­lungs­etappe zu umgehen.

Diese kurze Episode der revo­lu­tio­nä­ren Umwäl­zung in Mali bietet Einbli­cke in mehrere zentra­len Aspekte des Anti­im­pe­ria­lis­mus im 20. Jahr­hun­dert. Erstens vermit­telt sie eine Vorstel­lung von der Art der Bezie­hun­gen zwischen dem sozia­lis­ti­schen Lager und den progres­si­ven Regie­run­gen in den befrei­ten Staa­ten. Beide hatten im west­li­chen Impe­ria­lis­mus einen gemein­sa­men Feind, aber wie weit gingen sie bei der Koor­di­nie­rung ihrer Aktio­nen und der Erör­te­rung von Takti­ken? Zwei­tens geben die Entwick­lun­gen in Mali Aufschluss über die inter­na­tio­na­lis­ti­sche Stra­te­gie der kommu­nis­ti­schen Kräfte an diesem histo­ri­schen Schei­de­weg in den 1960er Jahren. Zu Beginn dieses Jahr­zehnts wurden Theo­rien wie „der nicht­ka­pi­ta­lis­ti­sche Entwick­lungs­weg“ und der „Staat der natio­na­len Demo­kra­tie“ ausge­ar­bei­tet, die zu zentra­len Konzep­ten in der Analyse der ehema­li­gen Kolo­nien durch die kommu­nis­ti­schen Kräfte werden soll­ten. Nicht zuletzt ist die Entwick­lung der Union Souda­naise von einer anti­ko­lo­nia­len Massen­be­we­gung hin zu einer avant­gar­dis­ti­schen Partei ein Beispiel dafür, wie sich der Klas­sen­kampf in der zwei­ten Phase der natio­na­len Befrei­ung entfal­tete. Wie im Folgen­den darge­legt wird, stand die Frage nach einer geeig­ne­ten poli­ti­schen Orga­ni­sa­ti­ons­form für den Kampf gegen den Neoko­lo­nia­lis­mus im Mittel­punkt der Debat­ten, die Revo­lu­tio­näre in Afrika zu dieser Zeit führten.

Schluss­fol­ge­run­gen, die aus einem einzi­gen Beispiel gezo­gen werden, sind natür­lich nur vorläu­fig; es wird notwen­dig sein, die Erfah­run­gen in Mali mit denen in ande­ren natio­nal­de­mo­kra­ti­schen Staa­ten zu verglei­chen.1 Mali ist jedoch ein bedeu­ten­des Beispiel, da die Union Souda­naise die erste Regie­rungs­par­tei in den befrei­ten afri­ka­ni­schen Staa­ten war, die den Marxis­mus-Leni­nis­mus als ihre ideo­lo­gi­sche Grund­lage bezeich­nete und sich Mitte der 1960er Jahre de facto dem sozia­lis­ti­schen Lager zuwandte. Die Recher­chen für den folgen­den Arti­kel stüt­zen sich im Wesent­li­chen auf Doku­mente der DDR und der SED, die sich im Bundes­ar­chiv befin­den, auf Arti­kel in kommu­nis­ti­schen Zeit­schrif­ten wie Probleme des Frie­dens und des Sozia­lis­mus sowie auf Analy­sen bürger­li­cher und marxis­ti­scher Histo­ri­ker. Spezi­fi­sche Quel­len, längere Zitate und zusätz­li­che Hinweise finden sich in den Fußno­ten für dieje­ni­gen, die an weite­ren Recher­chen inter­es­siert sind.

Obwohl sich der Arti­kel in erster Linie auf die acht­jäh­rige Peri­ode der revo­lu­tio­nä­ren Demo­kra­tie in Mali konzen­triert, behan­delt er auch wich­tige Entwick­lun­gen im Vorfeld der mali­schen Unab­hän­gig­keit und unter­sucht mehrere Elemente der Option socia­liste. Eine gekürzte Fassung, die die Agrar­re­for­men und ideo­lo­gi­schen Debat­ten in der kommu­nis­ti­schen Bewe­gung ausklam­mert, kann hier gefun­den werden.

Die Rückständigkeit Westafrikas als Folge der europäischen Ausbeutung

West­afrika war einst das Zentrum eini­ger der höchst­ent­wi­ckel­ten Gesell­schaf­ten des afri­ka­ni­schen Konti­nents. Vom 5. bis zum Ende des 16. Jahr­hun­derts hatten aufein­an­der folgende Staa­ten große Wirt­schafts­räume entwi­ckelt, die haupt­säch­lich auf Land­wirt­schaft, Hand­werk und Gold­han­del basier­ten. Bis zum 16. Jahr­hun­dert hatten frühe feuda­lis­ti­sche Tenden­zen in West­afrika (z. B. die Entste­hung einer auf der Ausbeu­tung von Dorf­ge­mein­schaf­ten basie­ren­den Aris­to­kra­tie) begon­nen, den kommu­na­len Egali­ta­ris­mus zu unter­gra­ben, aber noch nicht voll­stän­dig ersetzt.2 Mit der Ankunft der euro­päi­schen Skla­ven­händ­ler in der zwei­ten Hälfte des 16. Jahr­hun­derts wurde die Region gewalt­sam von frem­der Ausbeu­tung und Unter­wer­fung heim­ge­sucht. Bis zur Mitte des 19. Jahr­hun­derts war die west­afri­ka­ni­sche Küste ein zentra­ler Knoten­punkt des trans­at­lan­ti­schen Skla­ven­han­dels, während das Hinter­land zu einem Jagd­re­vier für Gefan­gene wurde, die dann im Austausch gegen Konsum­gü­ter von gerin­gem Wert an Euro­päer verkauft wurden. Diese vorko­lo­niale Ära hat die Entwick­lung West­afri­kas gründ­lich verzerrt, da sie die Region nicht nur ihrer Arbeits­kräfte beraubte, sondern auch die interne Wirt­schafts­tä­tig­keit auf die äußerst zerstö­re­ri­sche Praxis der Skla­ven­jagd ausrichtete.

In den 1870er Jahren began­nen die Fran­zo­sen mit der Errich­tung von Festun­gen und Außen­pos­ten entlang des Niger und über­nah­men die direkte Kontrolle über große Teile West­afri­kas. Der Über­gang zur Kolo­ni­al­herr­schaft bedeu­tete die Einbin­dung West­afri­kas in die impe­ria­lis­ti­sche Welt­wirt­schaft; die Arbeits­kräfte soll­ten nun im eige­nen Land ausge­beu­tet werden, anstatt sie ins Ausland zu expor­tie­ren. Erdnüsse wurden in „Fran­zö­sisch-West­afrika“ zu einer ersten Cash-Crop (Export­früchte), bevor die Kolo­ni­al­be­hör­den versuch­ten, entlang des Niger Baum­woll­pro­jekte zu errich­ten, wobei einhei­mi­sche Fami­lien zwangs­um­ge­sie­delt wurden, um das Land zu bear­bei­ten.3

Der fran­zö­si­sche Kolo­nia­lis­mus hat die west­afri­ka­ni­sche Wirt­schaft auf beson­dere Weise beein­träch­tigt. Im Gegen­satz zu den Kolo­ni­al­her­ren Ostafri­kas und Südafri­kas, die die kommu­na­len Bezie­hun­gen auflös­ten und eine Klasse von enteig­ne­ten Arbei­tern schu­fen, die in der Rohstoff­in­dus­trie oder auf quasi-feuda­len Plan­ta­gen arbei­te­ten, expor­tierte Frank­reich nur wenig Kapi­tal nach West­afrika und beschränkte sein direk­tes Enga­ge­ment in der Produk­ti­ons­sphäre.4 Die fran­zö­si­schen Handels­ge­sell­schaf­ten setz­ten statt­des­sen vor allem auf die Aufer­le­gung unglei­cher Handels­be­din­gun­gen, um Gewinne zu erzie­len: Sie kauf­ten die land­wirt­schaft­li­chen Pflicht­pro­dukte zu nied­ri­gen Prei­sen auf und verkauf­ten minder­wer­tige Konsum­gü­ter zu hohen Prei­sen.5 Dorf- und Gebiets­vor­ste­her wurden von den Fran­zo­sen ausge­wählt und besto­chen, um die Kolo­ni­al­herr­schaft durch­zu­set­zen und die Inter­es­sen der Handels­ge­sell­schaf­ten zu vertre­ten. Somit wurden die Dörfer in West­afrika den Bedürf­nis­sen der auslän­di­schen Mono­pole unter­ge­ord­net, ihre vorka­pi­ta­lis­ti­sche Gemein­schafts­ver­hält­nisse blieb jedoch weit­ge­hend intakt. Die west­afri­ka­ni­sche Wirt­schaft war daher am Ende der Kolo­ni­al­zeit von star­ken Wider­sprü­chen geprägt: Einer­seits war sie direkt in den impe­ria­lis­ti­schen Welt­markt inte­griert, ande­rer­seits war sie noch stark von vorfeu­da­len Gemein­de­struk­tu­ren geprägt, die vor allem auf Subsis­tenz­land­wirt­schaft, kollek­ti­vem Boden­be­sitz und der patri­ar­cha­li­schen Fami­lie basierten.

Einsamm­lung von geweb­ter Baum­wolle in der Stadt Bandia­gara (ca. 1900): Durch solche Natu­ral­steu­ern konnte Frank­reich Dörfer, die sich ansons­ten selbst versorg­ten und nicht auf Waren­pro­duk­tion ausge­rich­tet waren, dazu zwin­gen, den Bedarf seiner Mono­pole zu decken.

In den 1950er Jahren hatte die Unab­hän­gig­keits­be­we­gung in West­afrika bedeu­tende Zuge­ständ­nisse von Frank­reich errun­gen. Das Rassem­blem­ent Démo­cra­tique Afri­cain (RDA), ein 1946 gegrün­de­ter Zusam­men­schluss von Parteien aus ganz Fran­zö­sisch-West- und Äqua­to­ri­al­afrika, spielte neben der Kommu­nis­ti­schen Partei Frank­reichs (KPF) eine entschei­dende Rolle, um das fran­zö­si­sche Estab­lish­ment zur Akzep­tanz der poli­ti­schen Auto­no­mie der Kolo­nien zu drän­gen. Die RDA-Sektion im „fran­zö­si­schen Sudan“ (dem heuti­gen Mali) war die Union Souda­naise (US-RDA). Mitbe­grün­der der Partei war Modibo Keïta, ein junger Lehrer aus Bamako, der in seiner Heimat­stadt in den KPF-nahen Kommu­nis­ti­schen Studi­en­grup­pen (Grou­pes d’Etudes Commu­nis­tes) aktiv gewe­sen war. Keïta wurde zum Anfüh­rer der Unab­hän­gig­keits­be­we­gung im fran­zö­si­schen Soudan und erlangte 1958 in einem Refe­ren­dum die Auto­no­mie der neuen suda­ne­si­schen Repu­blik. Als Panafri­ka­nist setzte sich Keïta für die Inte­gra­tion der ehema­li­gen Kolo­nien in Fran­zö­sisch-West­afrika ein. Die Mali-Föde­ra­tion, eine Union zwischen der Suda­ne­si­schen Repu­blik und dem Sene­gal, wurde Anfang 1959 gegrün­det, aber die Führer der beiden Länder hatten unter­schied­li­che Zukunfts­vi­sio­nen, denn die Sene­ga­le­sen bevor­zug­ten eine kapi­ta­lis­ti­sche Entwick­lung und engere Bezie­hun­gen zu Frank­reich. Nach nur weni­gen Mona­ten löste sich die Union auf, und die US-RDA rief im Septem­ber 1960 die unab­hän­gige Repu­blik Mali aus. Das Schei­tern der Föde­ra­tion stellte einen schwe­ren Schlag für die US-RDA dar, denn der Sene­gal war Malis Tor zur Welt. Die Haupt­stadt (Bamako) war nun fast 1000 Kilo­me­ter von der Küste entfernt, eine Tatsa­che, die die mali­sche Wirt­schaft noch jahr­zehn­te­lang belas­ten sollte.

Die US-RDA und die internationale kommunistische Bewegung

Die US-RDA war eine Massen­par­tei, die als natio­nale Front agierte. Sie war aus einer Reihe von Zusam­men­schlüs­sen verschie­de­ner poli­ti­scher Grup­pie­run­gen hervor­ge­gan­gen, die von der sozi­al­de­mo­kra­ti­schen Section fran­çaise de l’Internationale ouvrière (SFIO) oder der marxis­tisch-leni­nis­ti­schen KPF beein­flusst waren. 90 Prozent der Mitglie­der der US-RDA waren Bauern, während die Führung über­wie­gend aus dem Klein­bür­ger­tum stammte (z. B. Lehrer, Ärzte und Ange­stellte).6 Die im Entste­hen begrif­fene Arbei­ter­klasse, die zum Zeit­punkt der Unab­hän­gig­keit nur 2,8 % der arbei­ten­den Bevöl­ke­rung Malis ausmachte, war in der Partei rela­tiv schwach vertre­ten, konnte aber über die Union Natio­nale des Travail­leurs du Mali (UNTM), die der Partei ange­schlos­sene Gewerk­schaft, einen gewis­sen Einfluss ausüben. Unmit­tel­bar nach der Unab­hän­gig­keit Malis kündigte ein Kongress der US-RDA eine zweite Etappe des natio­na­len Befrei­ungs­kamp­fes an und erklärte, das Land müsse „unver­züg­lich und entschlos­sen die wirt­schaft­li­che Entko­lo­ni­sie­rung in Angriff nehmen, schnells­tens eine neue Wirt­schafts­struk­tur herstel­len und, von den realen Möglich­kei­ten der afri­ka­ni­schen Länder ausge­hend, die Handels­be­zie­hun­gen im Rahmen einer sozia­lis­ti­schen Planung entwi­ckeln“.7 Nach­dem die formale poli­ti­sche Souve­rä­ni­tät erlangt worden sei, gelte es nun, das Land in die wirt­schaft­li­che Unab­hän­gig­keit und soziale Eman­zi­pa­tion zu führen, um „das Volk vom Erbe des Kolo­nia­lis­mus zu befreien“.

Als erster Präsi­dent Malis leitete Keïta im Rahmen dieser Option socia­liste eine Reihe von Maßnah­men ein: Schlüs­sel­sek­to­ren der ehemals kolo­nia­li­sier­ten Wirt­schaft wurden verstaat­licht und in einen Fünf­jah­res­plan (1961–66) inte­griert, eine neue Währung wurde geschaf­fen, um sich von der neoko­lo­nia­len fran­zö­si­schen CFA-Franc-Zone zu lösen, und eine „Action rurale“ wurde ins Leben geru­fen, um die natu­ral­wirt­schaft­li­chen Dorf­ge­mein­den in moderne land­wirt­schaft­li­che Genos­sen­schaf­ten zu verwan­deln. Diese Initia­ti­ven soll­ten die ersten Schritte einer drei­stu­fi­gen Revo­lu­tion in Mali sein: eine erste „sozia­lis­ti­sche Umge­stal­tung“ der bestehen­den Verhält­nisse, gefolgt vom „Aufbau des Sozia­lis­mus“ und schließ­lich der „Konso­li­die­rung der sozia­lis­ti­schen Gesell­schaft“.8

Die US-RDA war zwar die erste nicht­kom­mu­nis­ti­sche Partei in Afrika, die den Marxis­mus-Leni­nis­mus als ihre ideo­lo­gi­sche Grund­lage bezeich­nete, doch blieb sie eine sozial und ideo­lo­gisch hete­ro­gene „patrio­ti­sche Front“.9 Vor der Unab­hän­gig­keit befan­den sich alle Klas­sen und sozia­len Grup­pen in Mali (mit Ausnahme der korrum­pier­ten Stam­mes­füh­rer) im Wider­spruch zur auslän­di­schen Kolo­ni­al­macht. Nach der Erlan­gung der poli­ti­schen Unab­hän­gig­keit und dem Beginn des natio­na­len Aufbaus begann sich die Klas­sen­dif­fe­ren­zie­rung zu verstär­ken, und inner­halb der Partei kris­tal­li­sier­ten sich Frak­tio­nen heraus. Eine rechte Strö­mung hatte eine rela­tiv starke Posi­tion in der Partei­füh­rung inne und verfügte über etwa die Hälfte der Sitze im Polit­büro und mehrere wich­tige Minis­ter­pos­ten. Diese Gruppe forderte die Option socia­liste nicht offen heraus, sondern setzte sich für gemä­ßig­tere Refor­men und ein weni­ger gegne­ri­sches Verhält­nis zu Frank­reich ein. Ein linker Flügel der Partei wurde von denje­ni­gen unter­stützt, die in den Studi­en­grup­pen der KPF aktiv gewe­sen waren, die sich Ende der 1950er Jahre mit der US-RDA zusam­men­ge­schlos­sen hatten. Diese linke Strö­mung erhielt bald Unter­stüt­zung vom Jugend­ver­band der Partei (der JUS-RDA) und von Gewerk­schafts­mit­glie­dern. Sie verfüg­ten über keine eigen­stän­dige poli­ti­sche Platt­form und traten statt­des­sen für die konse­quente Umset­zung der Option socia­liste ein.

Die US-RDA war unnach­gie­bi­ger als die meis­ten ande­ren Regie­rungs­par­teien in den Nach­bar­staa­ten, aber sie hatte nie ganz mit Frank­reich gebro­chen. Um ihren Einfluss im Land aufrecht­zu­er­hal­ten und die Unstim­mig­kei­ten in der US-RDA zu verschär­fen, began­nen die west­li­chen Mächte Anfang der 1960er Jahre, der Regie­rung Keïta Finanz­kre­dite anzu­bie­ten. Mali trat darauf­hin dem Inter­na­tio­na­len Währungs­fonds (IWF) und der Welt­bank im Jahr 1963 bei und unter­zeich­nete 1964 ein Asso­zi­ie­rungs­ab­kom­men mit der Euro­päi­schen Wirt­schafts­ge­mein­schaft (EWG). Das sozia­lis­ti­sche Lager gab sich in dieser Frage wenig Illu­sio­nen hin und erkannte, dass sich Mali ange­sichts der kolo­nia­len Unter­ent­wick­lung und der begrenz­ten sowje­ti­schen Ressour­cen in einer schwie­ri­gen Lage befand, in der die US-RDA versuchte, „poli­tisch zwischen beiden Welt­sys­te­men zu lavie­ren“.10

1961 schloss sich Mali mit Ghana und Guinea in der Union Afri­ka­ni­scher Staa­ten zusam­men, die die Zersplit­te­rung West­afri­kas durch eine schritt­weise Inte­gra­tion der Wirt­schaft der drei Staa­ten über­win­den sollte. Doch auch sie war nur von kurzer Dauer, da Unstim­mig­kei­ten zu ihrer Auflö­sung im Jahr 1963 führ­ten. Von links nach rechts: Modibo Keïta, Kwame Nkru­mah und Sékou Touré.

Die inter­na­tio­nale kommu­nis­ti­sche Bewe­gung war zu dieser Zeit durch die Auflö­sung der Komin­tern 1943 und des Komin­form 1956 geschwächt. In dem Versuch, die inter­na­tio­nale Koor­di­nie­rung der Bewe­gung wieder­zu­be­le­ben, wurden Ende der 1950er Jahre mehrere Tref­fen orga­ni­siert, deren Höhe­punkt das „Inter­na­tio­nale Bera­tung der kommu­nis­ti­schen und Arbei­ter­par­teien“ von 1960 war, zu dem 81 Parteien in Moskau zusam­men­ka­men. Sie entwi­ckel­ten dort das recht nebu­löse Konzept eines „Staa­tes der natio­na­len Demo­kra­tie“, um die komple­xen Prozesse zu erfas­sen, die sich in vielen der befrei­ten Staa­ten abspiel­ten. In der Erklä­rung heißt es dazu:

“Die vordring­li­chen Aufga­ben der natio­na­len Wieder­ge­burt, können in den Ländern stehen, die das kolo­niale Joch abge­wor­fen haben, nur dann erfolg­reich gelöst werden, wenn ein entschlos­se­ner Kampf gegen den Impe­ria­lis­mus und die Über­reste des Feuda­lis­mus geführt wird und sich alle patrio­ti­schen Kräfte der Nation, zur natio­na­len, demo­kra­ti­schen Einheits­front zusam­men­schlie­ßen. Festi­gung der poli­ti­schen Selbst­stän­dig­keit, Agrar­re­for­men im Inter­esse der Bauern­schaft, Abschaf­fung der Über­reste des Feuda­lis­mus, Besei­ti­gung der ökono­mi­schen Wurzeln der Herr­schaft des Impe­ria­lis­mus, Beschrän­kung und Verdrän­gung der auslän­di­schen Mono­pole aus der Wirt­schaft, Aufbau und Entwick­lung der natio­na­len Indus­trie, Hebung des Lebens­stan­dards der Bevöl­ke­rung, Demo­kra­ti­sie­rung des öffent­li­chen Lebens, unab­hän­gige, fried­lie­bende Außen­po­li­tik, Entwick­lung der wirt­schaft­li­chen und kultu­rel­len Zusam­men­ar­beit mit den sozia­lis­ti­schen und ande­ren befreun­de­ten Ländern – das sind die gesamt­na­tio­na­len demo­kra­ti­schen Aufga­ben, zu deren Lösung sich die fort­schritt­li­chen Kräfte der Nation in den Ländern, die sich befreit haben, zusam­men­schlie­ßen können und tatsäch­lich zusam­men­schlie­ßen.”11

Nach dem Verständ­nis der kommu­nis­ti­schen Bewe­gung hatte die US-RDA Mali auf einen Weg der “nicht­ka­pi­ta­lis­ti­schen Entwick­lung” gebracht, der eine anti­im­pe­ria­lis­ti­sche Trans­for­ma­tion und eine tief­grei­fende Demo­kra­ti­sie­rung der Gesell­schaft beinhal­tete. In den meis­ten befrei­ten Ländern wäre eine erste Phase der „natio­na­len Demo­kra­tie“ erfor­der­lich, da die jahr­zehn­te­lange kolo­niale Ausbeu­tung eine sofor­tige sozia­lis­ti­sche Revo­lu­tion unmög­lich machte.12 Da die Arbei­ter­klasse in diesen Ländern zahlen­mä­ßig schwach war, konnte dieses Unter­fan­gen nicht von der Dikta­tur des Prole­ta­ri­ats gelei­tet werden, sondern von einer Über­gangs­form der poli­ti­schen Orga­ni­sa­tion: einer anti­im­pe­ria­lis­ti­schen Front, die aus Arbei­tern, Bauern, dem Klein­bür­ger­tum und sogar Elemen­ten der natio­na­len Bour­geoi­sie bestand.13 An der Spitze stan­den oft „revo­lu­tio­näre Demo­kra­ten“, Mitglie­der der Intel­li­genz oder Offi­ziere, die die natio­nale Bewe­gung verkör­per­ten. Beispiel­haft hier­für waren Persön­lich­kei­ten wie Modibo Keïta in Mali, Kwame Nkru­mah in Ghana und Abdel Nasser in Ägyp­ten. Die Kommu­nis­ten hiel­ten zwar an der Notwen­dig­keit dieses klas­sen­über­grei­fen­den Bünd­nis­ses fest, erkann­ten aber auch dessen prekä­ren Charakter:

“Unter den jetzi­gen Umstän­den ist die nicht mit den impe­ria­lis­ti­schen Krei­sen verbun­dene natio­nale Bour­geoi­sie der kolo­nia­len und abhän­gi­gen Länder objek­tiv daran inter­es­siert, dass die Haupt­auf­ga­ben der anti­im­pe­ria­lis­ti­schen, anti­feu­da­len Revo­lu­tion gelöst werden. Sie bewahrt daher die Fähig­keit, am revo­lu­tio­nä­ren Kampf gegen den Impe­ria­lis­mus und den Feuda­lis­mus teil­zu­neh­men. In diesem Sinne ist sie fort­schritt­lich. Sie ist jedoch wankel­mü­tig. Neben einer fort­schritt­li­chen Einstel­lung neigt sie auch zum Paktie­ren mit dem Impe­ria­lis­mus und dem Feuda­lis­mus. Infolge ihres zwie­späl­ti­gen Charak­ters nimmt die natio­nale Bour­geoi­sie in verschie­de­nen Ländern in unter­schied­li­chem Maße an der Revo­lu­tion teil. Dies hängt von den konkre­ten Bedin­gun­gen ab, von den Verän­de­run­gen im Kräf­te­ver­hält­nis zwischen den Klas­sen, von der Schärfe der Gegen­sätze zwischen Impe­ria­lis­mus, Feuda­lis­mus und den Volk­mas­sen, von der Tiefe der Gegen­sätze zwischen Impe­ria­lis­mus, Feuda­lis­mus und der natio­na­len Bour­geoi­sie.”14

Es wurde auch behaup­tet, dass die Unter­stüt­zung des sozia­lis­ti­schen Lagers diese natio­nal­de­mo­kra­ti­schen Regime in die Lage verset­zen könnte, die poli­ti­schen, mate­ri­el­len und sozio­öko­no­mi­schen Voraus­set­zun­gen für den Sozia­lis­mus zu schaf­fen, ohne eine kapi­ta­lis­ti­sche Entwick­lung durch­lau­fen zu müssen.15 Ein wich­ti­ger Bezugs­punkt für dieses Konzept der „nicht­ka­pi­ta­lis­ti­schen Entwick­lung“ waren die Mongo­li­sche Volks­re­pu­blik und die zentral­asia­ti­schen Sowjet­re­pu­bli­ken, die in den 1920er und 30er Jahren eine erste Phase der revo­lu­tio­när-demo­kra­ti­schen Trans­for­ma­tion durch­lau­fen hatten, bevor sie zum sozia­lis­ti­schen Aufbau über­gin­gen.16 In den ehema­li­gen Kolo­nien Afri­kas, Asiens und Latein­ame­ri­kas würde dieser nicht­ka­pi­ta­lis­ti­sche Weg einen stän­di­gen Kampf gegen die Kolo­ni­al­mächte und gleich­zei­tig eine Begren­zung und schritt­weise Rück­füh­rung der kapi­ta­lis­ti­schen Verhält­nisse im eige­nen Land bedeu­ten. Ziel war es, die anti­im­pe­ria­lis­ti­sche natio­nale Revo­lu­tion in Rich­tung einer sozia­lis­ti­schen Revo­lu­tion voran­zu­trei­ben, so wie es in Kuba gesche­hen war, wo der revo­lu­tio­näre Demo­krat Fidel Castro den Marxis­mus-Leni­nis­mus mit dem Fort­schrei­ten der Revo­lu­tion annahm. Dies war die theo­re­ti­sche Grund­lage, auf der die UdSSR und ihre Verbün­de­ten in den 1960er Jahren bereit­wil­lig Staa­ten wie Mali unter­stüt­zen wollten:

“Die kommu­nis­ti­schen Parteien kämp­fen aktiv für eine konse­quente Voll­endung der anti­im­pe­ria­lis­ti­schen, anti­feu­da­len, demo­kra­ti­schen Revo­lu­tion, für die Bildung eines natio­nal­de­mo­kra­ti­schen Staa­tes und für eine wirk­same Hebung des Lebens­stan­dards der Volks­mas­sen. Sie unter­stüt­zen die Maßnah­men der natio­na­len Regie­run­gen, die der Veran­ke­rung der erziel­ten Errun­gen­schaf­ten dienen und die Posi­tio­nen des Impe­ria­lis­mus unter­gra­ben.”17

Malis nichtkapitalistischer Entwicklungsweg und die Solidarität der DDR

Unmit­tel­bar nach der Unab­hän­gig­keit nahm Mali enge Bezie­hun­gen zu zahl­rei­chen sozia­lis­ti­schen Staa­ten auf und suchte deren Unter­stüt­zung bei der Verwirk­li­chung der Option socia­liste. Ein erster Austausch mit der DDR begann über den Freien Deut­schen Gewerk­schafts­bund (FDGB), der 1960 eine Dele­ga­tion nach West­afrika entsandte. Die mali­schen Offi­zi­el­len beton­ten die Notwen­dig­keit, das Gesund­heits­sys­tem des Landes auszu­bauen, da Frank­reich es in einem bekla­gens­wer­ten Zustand hinter­las­sen hatte. Es herrschte ein akuter Ärzte­man­gel (1960 kam auf 40.000 Einwoh­ner 1 Arzt), so dass viele Krank­hei­ten unbe­han­delt blie­ben. Epide­mien von Tuber­ku­lose, Mala­ria und Syphi­lis brei­te­ten sich unkon­trol­liert aus.18 Nach­dem der mali­sche Gesund­heits­mi­nis­ter sein Inter­esse an einer Zusam­men­ar­beit in diesem Bereich bekun­det hatte, reis­ten Vertre­ter der US-RDA in die DDR, um Pläne zu entwi­ckeln. Der Schwer­punkt der Zusam­men­ar­beit sollte auf der präven­ti­ven Versor­gung der Bevöl­ke­rung und der Reor­ga­ni­sa­tion der Struk­tur des Gesund­heits­sys­tems liegen. Schon bald wurden 60.000 Polio-Impf­stoffe nach Mali geschickt, und der FDGB half bei der Zusam­men­le­gung der mali­schen Gesund­heits­ge­werk­schaf­ten zu einer effi­zi­en­te­ren, zentra­li­sier­ten Orga­ni­sa­tion. Es wurde auch ein Programm zur Ausbil­dung mali­scher Studen­ten in Ostdeutsch­land entwi­ckelt. Die erste Klasse traf 1960 an der medi­zi­ni­schen Hoch­schule in Qued­lin­burg ein. Ihnen folg­ten Hunderte von ande­ren Mali­ern, die eine Viel­zahl von Fach­rich­tun­gen studier­ten. Die Zusam­men­ar­beit wurde dann schritt­weise auf die Ausbil­dung von Fach­ar­bei­tern, den kultu­rel­len Austausch, Part­ner­schaf­ten im Bereich der Volks­bil­dung und die Ausbil­dung poli­ti­scher Kader ausgeweitet.

Mali­sche Studen­ten der Karl-Marx-Univer­si­tät in Leip­zig posie­ren für ein Foto, nach­dem sie eine Erklä­rung verfasst haben, in der sie den Einsatz einer fran­zö­si­schen Atom­bombe in der Wüste Sahara während des alge­ri­schen Unab­hän­gig­keits­krie­ges verur­tei­len (Februar 1960).

Die Land­wirt­schaft war der wich­tigste Wirt­schafts­zweig in Mali. 90 % der erwerbs­tä­ti­gen Bevöl­ke­rung waren in diesem Sektor tätig. Sie war auch die wich­tigste Akku­mu­la­ti­ons­quelle des Landes, denn 92 % der Exporte kamen aus der Land­wirt­schaft. In vielen Regio­nen blieb das Niveau der Produk­tiv­kräfte jedoch extrem nied­rig: Der Boden wurde von Fami­lien bewirt­schaf­tet, die mit hand­be­trie­be­nen Gerä­ten arbei­te­ten und mehr als drei Vier­tel ihrer Erträge für den Lebens­un­ter­halt verbrauch­ten. Da die Beson­der­hei­ten der Kolo­ni­al­herr­schaft im fran­zö­si­schen Soudan nicht zur Entste­hung von Groß­grund­be­sitz geführt hatten, bestand keine Notwen­dig­keit für eine Land­re­form wie in Kuba, Ägyp­ten oder im Irak. Statt­des­sen soll­ten die Dorf­ge­mein­den durch die Action rurale in Genos­sen­schaf­ten (Grou­pe­ment Rural de Produc­tion et de Secours Mutuel, GRPSM) umge­wan­delt und an staat­li­che Einrich­tun­gen (encad­re­ment rural) ange­schlos­sen werden, die den Bauern bei der Anwen­dung moder­ner Produk­ti­ons­me­tho­den helfen könn­ten. Die Action sollte das Herz­stück der sozia­lis­ti­schen Trans­for­ma­tion in Mali sein. Ziel war es, die land­wirt­schaft­li­che Produk­tion über die Subsis­tenz­land­wirt­schaft hinaus zu stei­gern und über staat­li­che Handels­un­ter­neh­men die für die Indus­tria­li­sie­rung notwen­di­gen Mittel zu gene­rie­ren. Die GRPSM soll­ten auch zu Moto­ren des sozia­len Fort­schritts auf dem Lande werden: Sie würden ihre eige­nen Verwal­tungs­struk­tu­ren wählen und Alpha­be­ti­sie­rungs­zen­tren, Sani­täts­sta­tio­nen, Geschäfte und Saison­schu­len für junge Dorf­be­woh­ner einrichten.

Dogon-Bauern aus Zentral­mali pflü­gen und säen ihr Land mit Hand­werk­zeu­gen (ca. 1970).

Nach einem Hilfe­er­su­chen der JUS-RDA rüstete die Freie Deut­sche Jugend (FDJ) 1960 eine Freund­schafts­bri­gade aus — die erste von Dutzen­den von Briga­den, die später in die ganze Welt entsandt wurden -, um beim Bau eines GRPSM in Somo, Mali, zu helfen. Die erste Brigade bestand aus sechs Mitglie­dern: einem Agro­no­men, einem Vieh­züch­ter, einem Maurer, einem Schrei­ner, einem Mecha­ni­ker und einem Arzt. Zur Ausrüs­tung gehör­ten ein Trak­tor mit Pflug, ein Last­wa­gen mit Anhän­ger, eine Säma­schine, ein Jeep und eine Zentri­fu­gal­pumpe. Die Brigade arbei­tete mit 30 mali­schen Land­wir­ten zusam­men, säte Reis, Hirse und Erdnüsse und baute neue Gebäude für die Vieh­zucht und Wartungsarbeiten.

Mitte der 1960er Jahre waren in Mali erheb­li­che Fort­schritte erzielt worden, insbe­son­dere im Vergleich zu den Jahr­zehn­ten der Kolo­ni­al­herr­schaft. Während die Fran­zo­sen nur 4 % der kolo­nia­len Steu­ern für die Bildung in West­afrika ausga­ben, gelang es der US-RDA, die Zahl der Grund- und Sekun­dar­schü­ler in nur drei Jahren zu verdop­peln.19 Hunderte neuer medi­zi­ni­scher Einrich­tun­gen und Sani­täts­sta­tio­nen wurden im ganzen Land errich­tet. In der Land­wirt­schaft wurden über 45.000 Hektar Land bewäs­sert und 30.000 Pflüge an die GRPSM gelie­fert, während der Bau des Encad­re­ment-Systems und der Saison­schu­len bis Ende 1965 weit­ge­hend abge­schlos­sen war.20

Pläne der FDJ und der JUS-RDA für den Bau des “Camp Somo”, eines GRPSM in der Nähe der Stadt Ségou. Die erste Freund­schafts­bri­gade der FDJ wird 1967 durch eine zweite mit neuer Ausrüs­tung abgelöst.

Diese Gewinne blie­ben jedoch hinter dem ambi­tio­nier­ten Fünf­jah­res­plan der US-RDA zurück. Während die Produk­tion von Baum­wolle, Mais und Erdnüs­sen zunahm, stagnierte die Produk­tion von Subsis­tenz­kul­tu­ren (Reis) oder ging sogar zurück (Hirse).21 Die Action hatte mit mehre­ren prak­ti­schen und poli­ti­schen Heraus­for­de­run­gen zu kämp­fen. Der radi­ka­lere Flügel der US-RDA strebte eine allmäh­li­che Umwand­lung der auf Subsis­tenz basie­ren­den Dörfer in moderne waren­pro­du­zie­rende Genos­sen­schaf­ten an, die, wenn sie in ein brei­te­res System staat­li­cher Planung inte­griert würden, die indus­tri­elle Entwick­lung auf natio­na­ler Ebene finan­zie­ren könn­ten. Rechte und zentris­ti­sche Elemente in der Partei traten jedoch für eine Wieder­be­le­bung „tradi­tio­nel­ler“ dörf­li­cher Struk­tu­ren ein, die durch den Kolo­nia­lis­mus defor­miert worden waren. Ähnlich wie andere agrar­so­zia­lis­ti­sche Bewe­gun­gen (wie etwa die Narod­niks im Russ­land des 19. Jahr­hun­derts) idea­li­sierte diese Tendenz die Dorf­ge­mein­schaft aus der vorko­lo­nia­len Zeit. Sie plädier­ten für eine Reha­bi­li­tie­rung „tradi­tio­nel­ler Werte und Normen“, um das „innere Bedürf­nis der Bauern nach Fort­schritt“ wieder zu wecken, und redu­zier­ten die sozia­lis­ti­sche Trans­for­ma­tion auf dem Lande auf eine Art „psycho­lo­gi­sche Revo­lu­tion“ unter den Dorf­be­woh­nern.22 Diese unter­schied­li­chen Auffas­sun­gen inner­halb der Partei führ­ten dazu, dass die Action rurale auf loka­ler Ebene nicht einheit­lich umge­setzt wurde.23 Während in eini­gen Dörfern neuar­tige demo­kra­ti­sche Entschei­dungs­struk­tu­ren geschaf­fen wurden, versuch­ten die Beam­ten in ande­ren Regio­nen ledig­lich, die Dörfer zu „entko­lo­nia­li­sie­ren“, was unbe­ab­sich­tigt die patri­ar­cha­li­schen Verhält­nisse und die quasi-feudale Aris­to­kra­tie aus der vorko­lo­nia­len Zeit stärkte oder manch­mal sogar wieder­be­lebte — genau die Kräfte, die sich der Idee einer sozia­lis­ti­schen Trans­for­ma­tion am stärks­ten widersetzten.

Die größ­ten Probleme, die die mali­sche Wirt­schaft lähm­ten, waren jedoch exter­nen Ursprungs. Der US-RDA war es zwar gelun­gen, auslän­di­sche Konzerne vom heimi­schen Agrar­markt zu verdrän­gen und damit den direk­ten Abfluss des Natio­nal­pro­dukts zu stop­pen, aber mali­sche Waren waren weiter­hin den Prei­sen auf dem kapi­ta­lis­ti­schen Welt­markt ausge­lie­fert. Die Kosten für den Trans­port der Waren über die Landes­gren­zen zu den Häfen in Sene­gal und Guinea sowie die Subven­ti­ons­re­ge­lun­gen für Baum­wolle in Europa und den Verei­nig­ten Staa­ten mach­ten es fast unmög­lich, renta­bel zu arbei­ten. Der unglei­che Austausch verkör­perte in Mali „die versteckte Hand des Neoko­lo­nia­lis­mus“ (Nkru­mah). Doch Frank­reich war dreist genug, auch eine sicht­ba­rere Hand zu benut­zen, indem es sich in die Benzin­lie­fe­run­gen einmischte und die sene­ga­le­si­sche Regie­rung unter Druck setzte, um Hinder­nisse auf den Tran­sit­stre­cken nach Dakar zu errich­ten.24 Da sich die Handels­be­din­gun­gen Jahr für Jahr verschlech­ter­ten, stieg das mali­sche Defi­zit immer weiter an. Lokale Händ­ler began­nen sich zu berei­chern, indem sie die staat­li­che Handels­ge­sell­schaft umgin­gen und Waren über die sene­ga­le­si­sche Grenze schmug­gel­ten. Nach­dem es der Regie­rung Keïta nicht gelun­gen war, diesen wach­sen­den Schwarz­markt wirk­sam zu bekämp­fen, griff sie 1965 zu Lohn­kür­zun­gen und Preiserhöhungen.

Als Mitte der 1960er Jahre die wirt­schaft­li­chen Probleme zunah­men, wandte sich Keïta wieder­holt an die sozia­lis­ti­schen Staa­ten mit der Bitte um mehr Unter­stüt­zung. Trotz zahl­rei­cher Bemü­hun­gen gelang es der DDR nicht, Handels­be­zie­hun­gen zu Mali aufzu­bauen; die Ursa­che des Problems lag „in der Enge der Export­struk­tur Malis und in den über dem Welt­markt­preis liegen­den mali­ne­si­schen Preis­for­de­run­gen“.25 Was die mate­ri­elle Hilfe anbe­langt, so konnte die Sowjet­union Mali zwischen 1960 und 1967 Kredite im Wert von rund 68 Millio­nen US-Dollar gewäh­ren. Gemein­sam mit der ČSSR konzen­trier­ten sich die Sowjets auf Ausbil­dungs­pro­gramme für mali­sche Fach­kräfte und Kader, die Erschlie­ßung von Boden­schät­zen und den Ausbau der Luft­fahrt.26 Bis Ende 1968 hatte China Mali außer­dem rund 30 Millio­nen US-Dollar gelie­hen und Hunderte von Exper­ten entsandt, um mali­sche Studen­ten auszu­bil­den, wobei der Schwer­punkt auf der land­wirt­schaft­li­chen Ausbil­dung lag.27 Was Mali jedoch drin­gend brauchte, waren starke Handels­part­ner, die Waren zu Prei­sen kaufen konn­ten, die über denen des impe­ria­lis­ti­schen Welt­mark­tes lagen. Ohne einen konti­nu­ier­li­chen Strom von Einnah­men aus Agrar­ex­por­ten wäre die Option socia­liste zum Schei­tern verur­teilt.28

Die Lage in Mali spitzte sich im Februar 1966 zu, nach­dem ein konter­re­vo­lu­tio­nä­rer Putsch die sozia­lis­tisch-orien­tierte Regie­rung Nkru­mahs in Ghana gestürzt hatte. Die mali­sche Natio­nal­ver­samm­lung war sich der Gefah­ren bewusst, die von der innen­po­li­ti­schen Insta­bi­li­tät ausgin­gen, und beschloss einen Monat später, einem Comité Natio­nal de Défense de la Révo­lu­tion außer­or­dent­li­che Voll­mach­ten zu erteilen.

Fragen der politischen Organisation — Nationale Volksfront oder Vorhutpartei?

Mit der Verschlech­te­rung der wirt­schaft­li­chen Lage verschärf­ten sich die inter­nen Spal­tun­gen inner­halb der US-RDA. Der rechte Flügel der Partei, der sich weit­ge­hend auf die aufstre­bende Handels­klasse und die Verwal­tungs­bü­ro­kra­ten stützte, ging in die Offen­sive und begann mit Frank­reich über ein Finanz­ab­kom­men zu verhan­deln, das die Wieder­auf­nahme Malis in die CFA-Franc-Zone ermög­li­chen sollte. Die Befür­wor­ter behaup­te­ten, das Abkom­men würde dazu beitra­gen, den Handel mit den Nach­bar­län­dern anzu­kur­beln, doch die Gegner argu­men­tier­ten, es bedeute das Ende der Option socia­liste, da es die staat­li­che Kontrolle über den Handel aushöh­len und Frank­reich eine domi­nante Rolle in der Wirt­schaft verschaf­fen würde. Ange­trie­ben von der Jugend in der JUS-RDA und den Arbei­tern in der UNTM machte der linke Flügel der Partei korrupte Funk­tio­näre und deren halb­her­zige Umset­zung der revo­lu­tio­nä­ren Poli­tik für die Wirt­schafts­krise verant­wort­lich. Sie began­nen, die Entwick­lung einer Avant­gar­de­par­tei zu fordern, die sich — mit stren­ge­rer Diszi­plin und größe­rer Akti­ons­ein­heit — besser gegen das feind­li­che Umfeld behaup­ten sollte.29

Mitte der 1960er Jahre wurde die Frage der Vorhut­par­tei vor dem Hinter­grund ähnli­cher Heraus­for­de­run­gen auf dem gesam­ten Konti­nent zu einem Streit­punkt unter den kommu­nis­ti­schen und fort­schritt­li­chen Kräf­ten in Afrika. Ende Okto­ber 1966 wurde von der theo­re­ti­schen Zeit­schrift Probleme des Frie­dens und des Sozia­lis­mus und der ägyp­ti­schen Zeit­schrift Al Tali’a eine Konfe­renz mit dem Titel „Afrika – natio­nale und soziale Revo­lu­tion“ orga­ni­siert. Poli­ti­ker und Theo­re­ti­ker aus 25 afri­ka­ni­schen Parteien und Orga­ni­sa­tio­nen kamen in Kairo zusam­men, um die Situa­tion der anti­im­pe­ria­lis­ti­schen Kräfte in Afrika zu erör­tern. Von zentra­ler Bedeu­tung war der Mili­tär­putsch in Ghana nur acht Monate zuvor. Lutfi Al Kholi, einer der Chef­re­dak­teure von Al Tali’a, hob hervor, wie von den Briten ausge­bil­dete Offi­ziere des ghanai­schen Mili­tärs die wirt­schaft­li­che Insta­bi­li­tät des Landes ausge­nutzt und im Inter­esse der impe­ria­lis­ti­schen Mächte gehan­delt hatten.30 Es wäre jedoch eine „Selbst­täu­schung, anzu­neh­men, dass eine impe­ria­lis­ti­sche Intrige allein die Haupt­ur­sa­che für den Staats­streich war“, argu­men­tierte er. Nkru­mahs Regie­rungs­par­tei sei letzt­lich nicht in der Lage gewe­sen, den Wider­stand zu orga­ni­sie­ren, weil sie „ein Schiff blieb, das auf der Ober­flä­che der Gesell­schaft schwamm, bestehend aus einer Gruppe von revo­lu­tio­nä­ren Intel­lek­tu­el­len und Stadt­be­woh­nern“, denen es „nicht gelang, die Masse des Volkes auf dem Lande zu errei­chen, die Massen allge­mein aufzu­klä­ren und zu sammeln, ihr Inter­esse an der Revo­lu­tion wirk­lich zu wecken“. Tigani Babi­ker von der Suda­ne­si­schen Kommu­nis­ti­schen Partei stimmte dem zu: „Konfuse und unor­ga­ni­sierte Massen könn­ten einen bewaff­ne­ten Putsch nicht aus eige­ner Kraft bewäl­ti­gen und besie­gen. Dazu wäre eine kämp­fe­ri­sche revo­lu­tio­näre Avant­gar­de­par­tei erfor­der­lich gewe­sen.“31 Eine solche Partei wäre in der Lage, „eine solide Grund­lage für poli­ti­sche Stabi­li­tät zu schaf­fen, indem sie eine enge Verbin­dung zwischen fort­schritt­li­chen Regie­run­gen und dem Volk gewähr­leis­tet“, wie der sene­ga­le­si­sche Marxist Thierno Amath argu­men­tierte.33

Eine Karte der Zeit­schrift Probleme des Frie­dens und des Sozia­lis­mus veran­schau­licht den Stand der sozia­len Revo­lu­tion in Afrika Ende 1966.

Der mali­sche Vertre­ter in Kairo war Idrissa Diarra, der dama­lige poli­ti­sche Sekre­tär der US-RDA und wich­tigste Führer des rech­ten Flügels der Partei. Diarra wider­sprach denje­ni­gen in seiner Partei und auf der Konfe­renz, die die Notwen­dig­keit einer Avant­gar­de­par­tei in der zwei­ten Phase der natio­na­len Befrei­ung behaup­te­ten. Seiner Ansicht nach bedeu­tete die spezi­fi­sche histo­ri­sche Entwick­lung Afri­kas, dass anti­im­pe­ria­lis­ti­sche Volks­fron­ten in der Lage waren, den Sozia­lis­mus auf dem Konti­nent aufzu­bauen.33 Er argu­men­tierte, dass in Afrika am Ende der Kolo­ni­al­zeit keine großen klas­sen­ba­sier­ten Parteien entstan­den seien, weil erstens die Ausbeu­tung durch das Ausland den Prozess der Klas­sen­dif­fe­ren­zie­rung gehemmt habe und zwei­tens alle sozia­len Grup­pen in ihrer Ableh­nung des Impe­ria­lis­mus geeint seien. So kam es, dass Massen­par­teien, die klas­sen­über­grei­fende Fron­ten vertra­ten, den anti­ko­lo­nia­len Kampf anführten.

“Am Ende der Kolo­ni­al­herr­schaft war die Situa­tion für die soziale Diffe­ren­zie­rung zwar güns­ti­ger gewor­den, aber es wäre falsch zu behaup­ten, dass die Gesell­schaft bereits in antago­nis­ti­sche Klas­sen gespal­ten ist. Die Wider­sprü­che und sozia­len Unter­schiede sind nicht stark genug ausge­prägt, um das allge­meine Gefühl der Soli­da­ri­tät, das die Mitglie­der der afri­ka­ni­schen Gesell­schaft verbin­det, zu beseitigen.”

Während die afri­ka­ni­schen Staa­ten, die sich dafür entschie­den hatten, „auslän­di­sches und einhei­mi­sches Privat­ka­pi­tal“ zu fördern, unbe­ab­sich­tigt die Klas­sen­wi­der­sprü­che verschärf­ten und damit die Entste­hung einer Avant­gar­de­par­tei unver­meid­lich mach­ten, argu­men­tierte Diarra, dass die natio­nal­de­mo­kra­ti­schen Staa­ten, die den sozia­lis­ti­schen Aufbau anstreb­ten, bereits dabei waren, „die grund­le­gen­den Wider­sprü­che“ in der Gesell­schaft zu überwinden.

„Die Verge­sell­schaf­tung der Produk­ti­ons- und Zirku­la­ti­ons­mit­tel hat die Zahl der Beschäf­tig­ten im staat­li­chen Sektor erhöht, die die natür­li­chen Unter­stüt­zer und Vertei­di­ger der sozia­lis­ti­schen Orien­tie­rung der Partei sind. Während die sozia­lis­ti­sche Orien­tie­rung anfangs haupt­säch­lich auf Willens­fak­to­ren beruhte, verbrei­ter­ten spätere struk­tu­relle Verän­de­run­gen im Bereich der Wirt­schaft mehr und mehr die objek­tive Basis des Kamp­fes für die sozia­lis­ti­sche Entwick­lung. Paral­lel dazu wird die objek­tive Basis der Kräfte, die sich gegen die sozia­lis­ti­sche Orien­tie­rung der Partei stel­len, immer schma­ler.” 34

Diar­ras Posi­tion war umstrit­ten, sowohl in seiner eige­nen Partei als auch in der inter­na­tio­na­len Bewe­gung. Als eine Dele­ga­tion linker Polit­bü­ro­mit­glie­der der US-RDA einige Monate später, im April 1967, nach Berlin reiste, erklär­ten sie den SED-Funk­tio­nä­ren, dass die Partei in der Frage der Vorhut gespal­ten sei. Sie bezeich­ne­ten Diar­ras Beitrag auf der Kairoer Konfe­renz als „Ausdruck seiner persön­li­chen Ansich­ten, nicht der des Polit­bü­ros“.35 Sie berich­te­ten jedoch, dass viele Mitglie­der befürch­te­ten, die Schaf­fung einer Vorhut­par­tei würde „die Einheit des Landes“ gefähr­den und einige derje­ni­gen, die für die Unab­hän­gig­keit gekämpft hatten, entfrem­den. Der linke Flügel zog es daher vor, „die avant­gar­dis­ti­schen Kräfte inner­halb der Partei“ zu stär­ken, um „die Partei von innen heraus vorwärts zu entwickeln.“

Während sich das sozia­lis­ti­sche Lager zu diesen Orga­ni­sa­ti­ons­fra­gen in west­afri­ka­ni­schen Massen­par­teien damals nicht öffent­lich äußerte, wider­spra­chen Diar­ras Ansich­ten eindeu­tig dem marxis­tisch-leni­nis­ti­schen Verständ­nis von natio­na­ler Befrei­ung und Sozia­lis­mus, denn sie über­schätz­ten „das Poten­zial einer natio­nal­de­mo­kra­ti­schen Massen­par­tei und ihrer klein­bür­ger­li­chen Führung“ und unter­schätz­ten gleich­zei­tig „die soziale Diffe­ren­zie­rung und den Klas­sen­kampf“.36Der guya­ni­sche Marxist Walter Rodney hatte das glei­che Problem in eini­gen afri­ka­ni­schen Massen­par­teien zu dieser Zeit fest­ge­stellt.37 Für die Kommu­nis­ten würde sich der Klas­sen­kampf in der zwei­ten Phase der natio­na­len Befrei­ung notwen­di­ger­weise verschär­fen, und es wäre die Aufgabe der Arbei­ter­klasse, die Hege­mo­nie in der natio­na­len Bewe­gung zu erlan­gen.38 Nkru­mah kam bei kriti­scher Refle­xion in einer seiner letz­ten Schrif­ten, Class Struggle in Africa aus dem Jahr 1970, zu einem ähnli­chen Schluss.39

Trotz dieser ideo­lo­gi­schen Gegen­sätze unter­stütz­ten die sozia­lis­ti­schen Staa­ten weiter­hin Parteien wie die US-RDA. Eine offene Kritik an diesen Tenden­zen hätte die fort­schritt­li­chen Regie­run­gen in Afrika unter­gra­ben, und außer­dem ging man davon aus, dass die Dyna­mik des natio­nal­de­mo­kra­ti­schen Prozes­ses zwangs­läu­fig leni­nis­ti­sche Parteien hervor­brin­gen würde, die zum sozia­lis­ti­schen Aufbau fähig sind, wie es in Kuba gesche­hen war. Anfang 1967 kam die SED zu dem Schluss, dass bei der künf­ti­gen Zusam­men­ar­beit beson­de­res Augen­merk auf die Stär­kung der „fort­schritt­li­chen Kräfte inner­halb der US-RDA“ gelegt werden sollte, um so zur Festi­gung des „nicht­ka­pi­ta­lis­ti­schen Entwick­lungs­we­ges Malis“ beizu­tra­gen.40 Die in der UdSSR, der ČSSR und Bulga­rien bereits laufen­den Programme zur Kader­aus­bil­dung soll­ten auf die Mongo­lei und den Bau einer Partei­schule für die US-RDA in Bamako ausge­wei­tet werden.

Die “Revolution active” und der Novemberputsch

Das Finanz­ab­kom­men mit Frank­reich wurde im Februar 1967 vorläu­fig geneh­migt. Die erste Phase der Umset­zung folgte kurz darauf, was sich für die ohne­hin insta­bile mali­sche Wirt­schaft als fatal erwies. In den folgen­den drei Mona­ten sank der Wert der mali­schen Währung um 50 Prozent.41 Unru­hen began­nen die Städte zu erschüt­tern, als große Demons­tra­tio­nen Maßnah­men gegen die „büro­kra­ti­sche Bour­geoi­sie“ forder­ten, die sich im Staats­ap­pa­rat heraus­ge­bil­det hatte. Die JUS-RDA, die sich teil­weise von der chine­si­schen Kultur­re­vo­lu­tion inspi­rie­ren ließ, leitete Aktio­nen zur Bekämp­fung korrup­ter Regie­rungs­be­am­ter und zur Erneue­rung der Partei ein. Die Ereig­nisse kulmi­nier­ten am 22. August 1967, als Keïta die „Revo­lu­tion aktiv“ verkün­dete: Das Polit­büro der US-RDA wurde aufge­löst und das Comité Natio­nal de Défense de la Révo­lu­tion (CNDR) über­nahm seine Aufga­ben. Die Natio­nal­ver­samm­lung löste sich fünf Monate später, im Januar 1968, selbst auf und wurde durch eine provi­so­ri­sche Versamm­lung aus linken Vertre­tern ersetzt.42 Idrissa Diarra und seine Verbün­de­ten wurden auf diese Weise aus der Führung entfernt, doch viele unter­ge­ord­nete Partei- und Staats­äm­ter wurden weiter­hin von der büro­kra­ti­schen Bour­geoi­sie besetzt.

Slogans der „revo­lu­tion aktive“, die am 22. August 1967 einge­lei­tet wurde: “Zurück zu den Wurzeln — Sieg für das Volk”

Madeira Keita, der mali­sche Justiz­mi­nis­ter, über­nahm die Führung der progres­si­ven Kräfte in der CNDR. Im Juli 1968 hielt Keita eine wich­tige Rede, in der er die Entwick­lung Malis seit 1960 analy­sierte.43 Er wies die von Diarra in Kairo vertre­tene Posi­tion zurück und argu­men­tierte, dass sich nach der Unab­hän­gig­keit Malis tatsäch­lich antago­nis­ti­sche gesell­schaft­li­che Kräfte heraus­ge­bil­det hätten. Die „gegen­sätz­li­chen poli­ti­schen Ziele“ dieser Grup­pen hätten 1966/67 zu einer poli­ti­schen Krise geführt. Mit Hilfe von „Massen­ak­tio­nen der Jugend und der Gewerk­schaf­ten“ sei es den fort­schritt­li­chen Kräf­ten gelun­gen, die Initia­tive zurück­zu­ge­win­nen und einen Putsch der Rech­ten abzu­wen­den, aber diese Gefahr bestehe in Mali noch immer. Der linke Flügel der Partei ist zu der Erkennt­nis gelangt, dass es notwen­dig ist, „die US-RDA und den Staats­ap­pa­rat von innen heraus von Orga­nen, denen alle sozia­len Schich­ten des Volkes ange­hör­ten, zu Insti­tu­tio­nen der avant­gar­dis­ti­sche Kräfte umzu­for­men.“ Die Auflö­sung des Polit­bü­ros und der Natio­nal­ver­samm­lung markierte den Beginn dieses Prozes­ses, der jedoch bei weitem nicht abge­schlos­sen ist. Abschlie­ßend wies Keita erneut auf die Dring­lich­keit hin, die land­wirt­schaft­li­che Produk­ti­vi­tät zu stei­gern, und warnte davor, dass die Partei die „Zähle­big­keit alter afri­ka­ni­scher Tradi­tio­nen“ in den Dörfern unter­schätzt habe. Im glei­chen Sinne kam ein Semi­nar über die Action rurale im Mai 1968 zu dem Schluss, dass die „patri­ar­cha­li­sche Geron­to­kra­tie“ und die „theo­kra­tisch-feuda­len Elemente“ in den Dörfern stark unter­schätzt wurden, während das revo­lu­tio­näre Poten­zial der ausge­beu­te­ten Grup­pen (der ärme­ren Fami­lien, der Jugend und der Frauen) nicht ausrei­chend genutzt wurde.44

Dieser Links­ruck der US-RDA ist auch in der Außen­po­li­tik der Regie­rung zu erken­nen. Im März 1968 reiste der mali­sche Handels­mi­nis­ter nach Berlin und teilte den SED-Funk­tio­nä­ren mit, dass „die Zeit reif ist für eine Norma­li­sie­rung der Bezie­hun­gen und die volle diplo­ma­ti­sche Aner­ken­nung der DDR“.45 Dies war eine Entwick­lung, auf die die DDR seit langem hinge­ar­bei­tet hatte, die aber ange­sichts des Zögerns Malis, die Bezie­hun­gen zu West­deutsch­land zu verlie­ren, das damit drohte, die Bezie­hun­gen zu jedem Staat, der die DDR aner­kennt, abzu­bre­chen (siehe Hall­stein-Doktrin), kaum Fort­schritte machte. Die Vertre­ter der US-RDA erklär­ten zwar, dass Mali nun zu diesem Schritt bereit sei, beton­ten aber, dass die sozia­lis­ti­schen Staa­ten ihre Hilfe verstär­ken müss­ten, wenn die nicht­ka­pi­ta­lis­ti­sche Entwick­lung gelin­gen solle. Als Präsi­dent Keïta im Juli 1968 mit dem Leiter der Handels­mis­sion der DDR in Bamako zusam­men­traf, beklagte er das Finanz­ab­kom­men mit Frank­reich und bezeich­nete es als einen bitte­ren Rück­zug, der notwen­dig gewor­den sei, weil die sozia­lis­ti­schen Staa­ten nicht ausrei­chend Unter­stüt­zung geleis­tet hätten.46 Doch trotz seiner anhal­ten­den Frus­tra­tion mit dem sozia­lis­ti­schen Lager posi­tio­nierte sich Keïta einen Monat später eindeu­tig, als Mali im August 1968 als einzi­ger afri­ka­ni­scher Staat die Inter­ven­tion der UdSSR in der ČSSR ausdrück­lich unter­stützte.47 Entge­gen ihren Verbün­de­ten in Jugo­sla­wien und Ägyp­ten weigerte sich die US-RDA darauf­hin, an der nächs­ten Konfe­renz der Bewe­gung der Block­freien teilzunehmen.

Madeira Keita mit Che Guevara in Bamako (Dezem­ber 1964)

Die Revo­lu­tion active war im Wesent­li­chen das, was die kommu­nis­ti­sche Bewe­gung voraus­ge­se­hen hatte; die Wider­sprü­che in und um die US-RDA hatten sie gezwun­gen, eine klarere ideo­lo­gi­sche Posi­tion einzu­neh­men. Die verblie­be­nen Führer spra­chen nicht mehr von der „Einheit des Landes“, sondern wetter­ten gegen die „reak­tio­nä­ren Kräfte, die Verbin­dun­gen zum kapi­ta­lis­ti­schen Ausland haben“.48 Sie wand­ten sich an die Arbei­ter- und Jugend­be­we­gung um Unter­stüt­zung. Eine Volks­mi­liz erhielt beson­dere Befug­nisse gegen­über allen ande­ren Macht­or­ga­nen, um die Konter­re­vo­lu­tion abzu­weh­ren.49 Außer­halb der städ­ti­schen Zentren konzen­trierte sich die Masse der Land­be­völ­ke­rung jedoch auf die kata­stro­phale wirt­schaft­li­che Lage, die keine Anzei­chen für eine Verbes­se­rung aufwies. Berich­ten zufolge nahmen die meis­ten Malier die poli­ti­schen Entwick­lun­gen in den Städ­ten gleich­gül­tig zur Kennt­nis.50 Erschwe­rend kam hinzu, dass sich die Volks­mi­liz als anfäl­lig für Exzesse erwies, was einige eins­tige Unter­stüt­zer der US-RDA weiter verprellte.

Der fatale Schlag gegen die Partei kam Ende 1968. Wie in Ghana war auch in Mali das Mili­tär lange Zeit eine Bastion pro-impe­ria­lis­ti­scher Einstel­lun­gen gewe­sen. Viele Offi­ziere waren im kolo­nia­len „Mutter­land“ ausge­bil­det worden. Sie hatten die Präsi­dent­schaft Keïtas zwar tole­riert, waren aber meist für eine engere Bindung an Frank­reich. Der Aufstieg der Volks­mi­liz während der revo­lu­tion active verär­gerte auch viele Offi­ziere, da sie die Auflö­sung der Armee befürch­te­ten. Nach einer gewalt­sa­men Ausein­an­der­set­zung zwischen Mili­zio­nä­ren und Armee­of­fi­zie­ren am Abend des 18. Novem­ber 1968 kam es zu einem Über­ra­schungs­putsch durch eine Gruppe von Offi­zie­ren. Die Haupt­quar­tiere der Volks­mi­liz, der UNTM und der JUS-RDA wurden rasch umstellt und neutra­li­siert, um die regie­rungs­freund­li­chen Kräfte zu desori­en­tie­ren. Keïta wurde zusam­men mit seinen Minis­tern, darun­ter Madeira Keita, verhaf­tet, und der Radio­sen­der von Bamako begann mit der Ausstrah­lung von Nach­rich­ten zur Unter­stüt­zung des Putsches: „Es lebe die indi­vi­du­elle Frei­heit, es lebe die Repu­blik. Nieder mit der Miliz. Schluss mit dem soge­nann­ten Sozia­lis­mus. Lang lebe die Armee.“51 Die Händ­ler und Klein­un­ter­neh­mer sahen ihre Stunde gekom­men und stell­ten sich hinter das Mili­tär. Die Land­be­völ­ke­rung blieb weit­ge­hend passiv.

Der Anfüh­rer der verschwö­re­ri­schen Offi­ziere — des selbst­er­nann­ten „Mili­tä­ri­schen Komi­tees für die natio­nale Befrei­ung“ — war Leut­nant Moussa Traoré, der kurz zuvor von einem langen Besuch in Paris, angeb­lich aus gesund­heit­li­chen Grün­den, nach Mali zurück­ge­kehrt war. Obwohl die fran­zö­si­schen Vertre­ter in Bamako vom Novem­ber­putsch über­rascht zu sein schie­nen, kursier­ten Gerüchte, dass die Fran­zo­sen seit langem mit mehre­ren Offi­zie­ren in Kontakt stan­den, sich aber noch nicht auf ein Datum für ein Vorge­hen gegen die US-RDA geei­nigt hatten.52 Nach dem Putsch versprach Traoré Neuwah­len in den kommen­den Mona­ten, und bezeich­nen­der­weise wurden die rechts­ge­rich­te­ten Vertre­ter, die das Finanz­ab­kom­men mit Frank­reich vor ihrer Entlas­sung aus der US-RDA ausge­han­delt hatten, nun wieder als Minis­ter in die neue provi­so­ri­sche Regie­rung einge­setzt. Alle ande­ren poli­ti­schen Akti­vi­tä­ten — einschließ­lich derje­ni­gen der US-RDA und ihrer Massen­or­ga­ni­sa­tio­nen — wurden gänz­lich unter­sagt. Die verspro­che­nen Wahlen fanden nie statt, und Traoré blieb an der Macht, bis er 1991 gestürzt wurde. Modibo Keïta starb 1977 als Gefan­ge­ner unter verdäch­ti­gen Umstän­den, worauf­hin Tausende zur Beer­di­gung des ehema­li­gen Präsi­den­ten ström­ten, bevor sie von Trao­rés Trup­pen gewalt­sam ausein­an­der­ge­trie­ben wurden.

Ein Erbe zum Studieren

Der Staats­streich von 1968 setzte der nicht­ka­pi­ta­lis­ti­schen Entwick­lung Malis somit ein abrup­tes Ende, wie es zwei Jahre zuvor in Ghana gesche­hen war. Die DDR und andere sozia­lis­ti­sche Staa­ten setz­ten ihre Bezie­hun­gen zum Traoré-Regime fort, vor allem in der Hoff­nung, die Errun­gen­schaf­ten zu bewah­ren und dem Einfluss der impe­ria­lis­ti­schen Staa­ten entge­gen­zu­wir­ken, aber es herrschte Unei­nig­keit über die Aussich­ten für die künf­tige Entwick­lung Malis unter der Mili­tär­herr­schaft.53 Während einige Analy­ti­ker wie C. Mähr­del eher vage Vorstel­lun­gen darüber hegten, dass „der herr­schende poli­ti­sche Kreis“ in Mali „den Weg zu einer revo­lu­tio­nä­ren Demo­kra­tie beschrei­ten könnte“, waren andere wie der fran­zö­si­sche Kommu­nist J. Suret-Canale davon über­zeugt, dass Mali „erneut unter impe­ria­lis­ti­sche Vormund­schaft gera­ten“ sei.54 Die letz­tere Einschät­zung hat sich als rich­tig erwiesen.

Es wäre jedoch zu einfach, aus solchen Putschen zu schlie­ßen, dass die Stra­te­gien des nicht­ka­pi­ta­lis­ti­schen Entwick­lungs­wegs und der natio­na­len Demo­kra­tie untaug­lich waren. Zwar erwie­sen sich die objek­ti­ven und subjek­ti­ven Schwie­rig­kei­ten in Mali als größer, als die kommu­nis­ti­sche Bewe­gung und die US-RDA ursprüng­lich erwar­tet hatten, doch gibt es mehrere Staa­ten, in denen diese Stra­te­gien den Weg zum Sozia­lis­mus gebahnt haben.55 Um dies zu verste­hen, ist es hilf­reich, sich an die Ursprünge dieser Konzepte zu erin­nern. Eine nicht­ka­pi­ta­lis­ti­sche Entwick­lung wurde erst­mals auf dem Zwei­ten Welt­kon­gress der Komin­tern 1920 ange­deu­tet, und aus dieser ersten Bemer­kung geht klar hervor, dass diese Stra­te­gie einen star­ken sozia­lis­ti­schen Gegen­pol zum Impe­ria­lis­mus voraussetzte:

„Die Frage lautete: Ist die Behaup­tung rich­tig, dass das kapi­ta­lis­ti­sche Stadium der wirt­schaft­li­chen Entwick­lung für die rück­stän­di­gen Natio­nen, die sich auf dem Weg zur Eman­zi­pa­tion befin­den und bei denen seit dem Krieg ein gewis­ser Fort­schritt zu beob­ach­ten ist, unver­meid­lich ist? Wir haben diese Frage verneint. Wenn das sieg­rei­che revo­lu­tio­näre Prole­ta­riat unter ihnen eine syste­ma­ti­sche Propa­ganda betreibt und die Sowjet­re­gie­run­gen ihnen mit allen ihnen zur Verfü­gung stehen­den Mitteln zu Hilfe kommen — dann ist es ein Irrtum anzu­neh­men, dass die rück­stän­di­gen Völker zwangs­läu­fig die kapi­ta­lis­ti­sche Entwick­lungs­stufe durch­lau­fen müssen. Man sollte nicht nur in den Kolo­nien und den rück­stän­di­gen Ländern selb­stän­dige Kontin­gente von Kämp­fern und Partei­or­ga­ni­sa­tio­nen schaf­fen, nicht nur sofort die Propa­ganda für die Orga­ni­sa­tion von Bauern­so­wjets in Gang setzen und deren Anpas­sung an die vorka­pi­ta­lis­ti­schen Verhält­nisse anstre­ben, sondern die Kommu­nis­ti­sche Inter­na­tio­nale sollte mit der entspre­chen­den theo­re­ti­schen Begrün­dung die These vertre­ten, dass die rück­stän­di­gen Länder mit Hilfe des Prole­ta­ri­ats der fort­ge­schrit­te­nen Länder zum Sowjet­sys­tem und über bestimmte Entwick­lungs­stu­fen zum Kommu­nis­mus über­ge­hen können, ohne die kapi­ta­lis­ti­sche Stufe durch­lau­fen zu müssen.“56 (Hervor­he­bung hinzugefügt)

Diese Prämisse wurde dann von den revo­lu­tio­nä­ren Kräf­ten in den neu befrei­ten Staa­ten aufge­grif­fen, wie Madeira Keita 1967 schrieb:

„Das Bewusst­sein, dass es in der Welt die Sowjet­union und das sozia­lis­ti­sche Lager gibt und dass wir mit ihrer Soli­da­ri­tät rech­nen können, ermög­lichte es uns, die marxis­ti­sche Leit­satz zu begrei­fen, dass Völker, die keine Indus­trie, keine Infra­struk­tur, keine eige­nen Kader und keine entwi­ckelte natio­nale Bour­geoi­sie besit­zen, nach­dem sie die Ketten des Kolo­nia­lis­mus abge­wor­fen haben, die Entwick­lungs­etappe, in der sich diese Bour­geoi­sie formiert und ihre Herr­schaft errich­tet, umge­hen können. Deshalb haben wir uns für den Weg der sozia­lis­ti­schen Entwick­lung entschie­den.”57

Die Tragik der Entwick­lung in Mali bestand jedoch darin, dass das sozia­lis­ti­sche Lager trotz posi­ti­ver poli­ti­scher Entwick­lun­gen inner­halb der US-RDA (am deut­lichs­ten vertre­ten durch Madeira Keita selbst) letzt­lich nicht in der Lage war, wirt­schaft­li­che Bezie­hun­gen zu Bamako in einem Umfang aufzu­bauen, der es aus neoko­lo­nia­len Abhän­gig­kei­ten hätte befreien können. Dies wurde dadurch stark erschwert, dass die panafri­ka­ni­schen Initia­ti­ven der frühen 1960er Jahre geschei­tert waren; die Region war weiter­hin zersplit­tert, und Mali blieb rela­tiv isoliert. Bereits 1965 war klar, dass das Binnen­land Mali, solange es den Prei­sen des impe­ria­lis­ti­schen Welt­mark­tes unter­wor­fen war, nicht in der Lage sein würde, eine stabile Handels­bi­lanz aufrecht­zu­er­hal­ten, geschweige denn das für die Indus­tria­li­sie­rung notwen­dige Kapi­tal zu akku­mu­lie­ren. Die Tatsa­che, dass es der DDR — eine der leis­tungs­stärks­ten Volks­wirt­schaf­ten im sozia­lis­ti­schen Lager — nie gelun­gen ist, einen nennens­wer­ten Handel mit Bamako aufzu­bauen, hätte mehr Anlass zur Sorge geben müssen, als es der Fall war. Soli­da­ri­täts­pro­jekte und Ausbil­dungs­pro­gramme waren zwei­fel­los wich­tig, aber was Mali brauchte, war ein stabi­ler Strom von Einnah­men. Trotz wieder­hol­ter Appelle der US-RDA-Führung war Berlin einfach nicht in der Lage, für mali­sche Agrar­gü­ter mehr als die Markt­preise zu zahlen. Die DDR war zu dieser Zeit natür­lich, wie die ande­ren sozia­lis­ti­schen Staa­ten auch, in ihre eigene (Re-)Industrialisierung und den harten Wett­be­werb mit dem Westen verwickelt.

Die Befür­wor­ter einer nicht­ka­pi­ta­lis­ti­schen Entwick­lung hatten die Fähig­kei­ten des sozia­lis­ti­schen Lagers nach dem Zwei­ten Welt­krieg offen­sicht­lich über­schätzt, zumin­dest in Bezug auf Subsa­hara-Afrika. Die sowje­ti­sche Hilfe hatte es eini­gen feuda­len Gesell­schaf­ten in Zentral- und Ostasien ermög­licht, die kapi­ta­lis­ti­sche Entwick­lungs­etappe zu umge­hen; diese Staa­ten waren direkt mit der sowje­ti­schen Wirt­schaft verbun­den gewe­sen. Die Über­tra­gung der Idee auf das zersplit­terte West­afrika war eine anders dimen­sio­nierte Sache. Sie hätte sowohl einen viel stär­ke­ren RGW (als sozia­lis­ti­sche Alter­na­tive zum impe­ria­lis­ti­schen Welt­markt) als auch ein umfang­rei­ches inter­na­tio­na­les Infra­struk­tur­pro­jekt erfor­dert, das in der Lage gewe­sen wäre, entfernte Binnen­län­der wie Mali mit den sozia­lis­ti­schen Staa­ten in Europa und Asien zu verbin­den. Kommu­nis­ti­sche Analys­ten began­nen in den 1970er Jahren, diesen Punkt zu erken­nen und zu disku­tie­ren58, und doch blieb der nicht­ka­pi­ta­lis­ti­sche Entwick­lungs­weg bis Mitte der 1980er Jahre eine Kern­stra­te­gie der Bewe­gung, bevor Gorbat­schows „neues Denken“ durch­ge­setzt wurde. Ein Vergleich der Erfah­run­gen Malis mit denen ande­rer sozia­lis­tisch-orien­tier­ter Staa­ten wie Guinea, Ägypten/VAR, Mosam­bik, VR Kongo, DR Afgha­ni­stan usw. wird zu einem umfas­sen­de­ren Verständ­nis der Möglich­kei­ten und Gren­zen dieser Stra­te­gie im 20. Jahr­hun­dert beitragen.

Auf poli­ti­scher Ebene bestand der Kern­punkt der natio­na­len Befrei­ung darin, wie der unmit­tel­bare Kampf gegen den Neoko­lo­nia­lis­mus mit dem lang­fris­ti­gen Kampf für den Sozia­lis­mus verbun­den werden konnte. Wie kann die natio­nale Befrei­ung über die Gren­zen einer bürger­li­chen Revo­lu­tion hinaus­ge­hen, wenn das Prole­ta­riat — das entschei­dende revo­lu­tio­näre Subjekt — nur in einer embryo­na­len Form exis­tiert? Auf der Grund­lage von Lenins Zwei Takti­ken der Sozi­al­de­mo­kra­tie in der demo­kra­ti­schen Revo­lu­tion entwi­ckel­ten die kommu­nis­ti­schen Parteien 1960 das Konzept des natio­nal­de­mo­kra­ti­schen Staa­tes. Nach einem Jahr­zehnt der Praxis erkann­ten die Analy­ti­ker die Komple­xi­tät dieses Prozes­ses und erkann­ten, dass die natio­nale Demo­kra­tie inhä­rent vola­til war; sie verkör­perte einen stän­di­gen Kampf und war sowohl für schnelle Fort­schritte als auch für dras­ti­sche Rück­schläge anfällig:

“Bekannt­lich entwi­ckelte die kommu­nis­ti­sche Welt­be­we­gung auf ihrer Bera­tung 1960 die Formel vom Staat der natio­na­len Demo­kra­tie als adäqua­ten Über­gangs­typ für den nicht­ka­pi­ta­lis­ti­schen Entwick­lungs­weg. Der Staat der natio­na­len Demo­kra­tie als Instru­ment, aber gleich­zei­tig als Refle­xion der kompli­zier­ten und wider­spruchs­vol­len gesell­schaft­li­chen Gesamt­ver­hält­nisse beinhal­tet so objek­tiv ein Maß an Unfer­tig­keit, Bewe­gung und Dyna­mik, nied­rige und höhere Entwick­lungs­stu­fen. In seinem Charak­ter, seiner Tätig­keit und den Formen und Metho­den der Macht­aus­übung wider­spie­gelt sich konzen­triert der Grad der Klas­sen­aus­ein­an­der­set­zung, der Anteil der einzel­nen Klas­sen an der Macht. Mit der Formell vom Staat der natio­na­len Demo­kra­tie als Über­gangs­typ soll gerade diese wider­sprüch­li­che Bewe­gung auf der Grund­lage des Klas­sen­kamp­fes erfasst werden.“59

Im mali­schen Kontext bestä­tigt die Entwick­lung der Regie­rung Keïta die Bedeu­tung des Klas­sen­kamp­fes sowohl außer­halb als auch inner­halb der natio­na­len Bewe­gung. Dies zeigte sich nicht nur in der Frage der Avant­gar­de­par­tei, sondern auch in der Action rurale, wo idea­lis­ti­sche Vorstel­lun­gen bald anfin­gen, den Fort­schritt auf dem Lande objek­tiv zu behin­dern.60 Mit dem Fort­schrei­ten ihrer poli­ti­schen Projekte erkann­ten revo­lu­tio­näre Demo­kra­ten wie Nkru­mah und Keïta die Fall­stri­cke einer Vernach­läs­si­gung der Klas­sen­ana­lyse. In Ghana kam diese Erkennt­nis erst nach dem Staats­streich, aber in seinen letz­ten Lebens­jah­ren warnte Nkru­mah vor klas­sen­neu­tra­len „Mythen wie dem ‚afri­ka­ni­schen Sozia­lis­mus‘ und dem ‚prag­ma­ti­schen Sozia­lis­mus‘“ (siehe Zitat in der Fußnote).61 In Mali hatte die US-RDA aus dem ghanai­schen Putsch gelernt und wandte sich ab 1967 dem Leni­nis­mus zu und korri­gierte ihre Poli­tik, um die aufstre­bende einhei­mi­sche Bour­geoi­sie zurück­zu­drän­gen. Doch auch hier hatte der rechte Flügel der Partei in Zusam­men­ar­beit mit dem Neoko­lo­nia­lis­mus bereits großen Scha­den ange­rich­tet (vor allem durch die verhäng­nis­vol­len Finanz­ab­kom­men mit Frank­reich und die Unter­gra­bung der Action rurale), bevor er ausge­schal­tet wurde.

In den darauf­fol­gen­den Jahren erlang­ten viele Parteien mit einem klare­ren Verständ­nis des Klas­sen­kamp­fes in ganz Afrika an Bedeu­tung (z. B. die MPLA in Angola, die FRELIMO in Mosam­bik, die PAIGC in Guinea-Bissau und die PCT in der Repu­blik Kongo). Die Rolle des sozia­lis­ti­schen Lagers bei der Schaf­fung eines Raums für die Entfal­tung dieser ideo­lo­gi­schen Diskus­sio­nen — sei es in Zeit­schrif­ten wie Probleme des Frie­dens und des Sozia­lis­mus oder in den zahl­lo­sen Konfe­ren­zen, die verschie­dene poli­ti­sche Bewe­gun­gen zusam­men­brach­ten — darf nicht unter­schätzt werden. Die Doku­men­ta­tion dieses inter­na­tio­na­len Austauschs bietet eine Menge an theo­re­ti­schen Erkennt­nis­sen und prak­ti­schen Erfah­run­gen, die nach 1990 allzu oft verlo­ren gegan­gen sind oder igno­riert wurden.

Heute, über 50 Jahre nach dem Putsch gegen die US-RDA, werden die Menschen in Mali immer noch des sozia­len Fort­schritts und der wirt­schaft­li­chen Unab­hän­gig­keit beraubt. Die Lebens­er­war­tung liegt nach wie vor unter 60 Jahren, 70 Prozent der Nahrungs­mit­tel müssen impor­tiert werden, und nur ein Drit­tel der erwach­se­nen Bevöl­ke­rung kann lesen und schrei­ben.62 Der erbärm­li­che Zustand des Landes ist eine klare Anklage gegen Frank­reich und seine Verbün­de­ten, die seit 1968 einen langen Schat­ten auf Mali gewor­fen haben. Durch Mecha­nis­men wie den CFA-Franc und die berüch­tig­ten “Struk­tur­an­pas­sungs­pro­gramme” wurden die Abhän­gig­keit und Ausbeu­tung West­afri­kas nur noch vertieft. Nach der Vertrei­bung des fran­zö­si­schen Mili­tärs im Jahr 2022 ist das mali­sche Volk erneut mit der vollen Härte der west­li­chen Straf­maß­nah­men konfron­tiert: Ein Handels­em­bargo wurde verhängt, die Gren­zen zu den Nach­bar­staa­ten wurden abge­rie­gelt und das Vermö­gen der Zentral­bank einge­fro­ren. Mehr als einer von drei Mali­ern ist inzwi­schen auf huma­ni­täre Hilfe ange­wie­sen.63 Diese schmerz­hafte Perp­etu­ie­rung des Neoko­lo­nia­lis­mus steht in schar­fem Gegen­satz zur inter­na­tio­na­lis­ti­schen Soli­da­ri­tät der sozia­lis­ti­schen Staa­ten. Das allein ist schon Grund genug, sich auf diese Tradi­tion zu besin­nen und ihre Diskus­sio­nen neu aufzugreifen.

Schreibe einen Kommentar