Ein Interview mit Dr. Matin Baraki über die historischen Lehren aus der Demokratischen Republik Afghanistan
23. Mai 2023
Interview: Matthew Read
Als die Demokratische Volkspartei Afghanistans (DVPA) April 1978 an die Macht kam, leitete sie eine massive Alphabetisierungskampagne und eine Bodenreform ein, um das Land aus dem Halbfeudalismus herauszuführen und auf einen nichtkapitalistischen Entwicklungsweg zu lenken. Mit Hilfe des sozialistischen Lagers brachte die junge Demokratische Republik Afghanistan Traktoren und Mähdrescher zu den Bauern, die zuvor auf Ochsenpflüge angewiesen waren. Sie sicherte eine Ausbildung für diejenigen, denen sie zuvor verwehrt worden war, und legte zentrale gesellschaftliche Aufgaben in die Hände zahlloser Afghaninnen.
Doch für den Westen durfte diese nationaldemokratische Revolution am Hindukusch keine Schule machen. Zusammen mit ihren Verbündeten setzten die USA bald ein Heer von schwer bewaffneten und erzreaktionären „Gotteskämpfern“ in Bewegung, um die DVPA-Regierung zu stürzen und einen aggressiven fundamentalistischen Staat an der Südgrenze der Sowjetunion zu errichten. Zbigniew Brzezinski, der damalige nationale Sicherheitsberater von US-Präsident Carter, legte später das Kalkül der USA offen: „Was ist denn das Wichtigste im Hinblick auf die Weltgeschichte? […] Einige islamische Hitzköpfe oder die Befreiung Mitteleuropas und das Ende des Kalten Krieges?“1Le Nouvel Observateur (N.O.), Paris, 15.–21. Januar 1998, S.76. Interview von Vincent Jauvert. Übersetzt von Matin Baraki in Afghanistan „Afghanistan: Revolution, Intervention, 40 Jahre Krieg“ (2023), PapyRossa Verlag, Köln, S. 233.
In seinem kürzlich veröffentlichten Buch Afghanistan: Revolution, Intervention, 40 Jahre Krieg, bewertet Dr. Matin Baraki diese Entwicklungen neu, um zu zeigen, wie der Westen sein Heimatland ins jahrzehntelang währende Elend gestürzt hat. Baraki, der selbst in den frühen klandestinen Kreisen der DVPA aktiv war, reflektiert jedoch auch selbstkritisch über die Rolle seiner ehemaligen Partei: Ihre interne Zerstrittenheit und ideologische Unreife ließen zu viele Türen für die Konterrevolution offen und führten dazu, dass die DVPA zunehmend auf sowjetische Unterstützung angewiesen war. Doch er stellt klar, dass die sowjetische Intervention Ende 1979 keineswegs ein Überfall war, sondern vielmehr eine dringend gesuchte Hilfe bei der Abwehr einer verheerenden Invasion aus dem Ausland.
Im Rahmen unserer Untersuchung der antiimperialistischen Strategien des sozialistischen Lagers im 20. Jahrhundert fragten wir Baraki zunächst nach der Konzeption der DVPA von nationaler Demokratie und dem nichtkapitalistischen Entwicklungsweg. Wir wandten uns dann der konkreten Umsetzung dieser Strategien im afghanischen Kontext und der Rolle der sozialistischen Staaten im Gegensatz zu denen des Westens zu. Das Interview ist dementsprechend in fünf Abschnitte gegliedert.
I. Die Demokratische Volkspartei Afghanistans und ihre politische Strategie
II. Der nichtkapitalistische Entwicklungsweg im afghanischen Kontext
III. Die Umsetzung dieser Strategien und die Unterstützung des sozialistischen Lagers
IV. Die Konterrevolutionäre und ihre ausländischen Auftraggeber
I. Die Demokratische Volkspartei Afghanistans und ihre politische Strategie
Kannst du zunächst etwas über deinen Hintergrund erzählen? Du bist zur Zeit der Monarchie in Afghanistan aufgewachsen und hast zunächst in Kabul gearbeitet. Wie bist du politisiert geworden?
Ich wurde 1947 in einem kleinen afghanischen Dorf geboren und bin dort aufgewachsen. Mein Vater war ein armer Kleinbauer und Analphabet, so wie meine Mutter. Da sein Vater starb, als er gerade fünf Jahre alt war, wurde mein Vater aus der Schule genommen und musste arbeiten. Er litt sein ganzes Leben darunter und machte es sich zur Aufgabe, mich in die Schule zu bringen. Ich habe später dann eine Ausbildung als Feinmechaniker angefangen, aber mein Vater wurde später, als ich 16 Jahre alt war krank, und ist kurz danach verstorben. Ich musste dann versuchen, meine neunköpfige Familie zu ernähren. Ich brach also die Ausbildung ab und habe angefangen, als Feinmechaniker auf mittlerem Grad in einer Fabrik zu arbeiten.
Es war die Zeit der Monarchie. Es gab weder Parteien noch Gewerkschaften. Aber dort in der Fabrik bin ich politisiert worden: Wir Arbeiter hatten uns organisiert und versucht, durch einen Streik eine Lohnerhöhung zu bekommen. Die Kollegen haben mich damals als Sprecher für den Streik delegiert und natürlich war ich dann der erste, der rausgeschmissen wurde. Nach einem halben Jahr Arbeitslosigkeit habe ich eine Stelle gefunden, wo ich Lehrmaterial für technische Ausbildungen herstellen sollte. Durch diese Stelle, die mit dem Ministerium für Erziehungswesen verbunden war, hatte ich das Glück, Weiterbildungskurse nach der Arbeit besuchen zu können, um mein Abitur nachzumachen.
Ich bin danach Grundschullehrer geworden, habe aber weiter auf Fernbasis studiert. Mein Ziel war eigentlich ein Studium in der Sowjetunion aufzunehmen und ich habe mich deswegen an der polytechnischen Universität in Kabul beworben, die von der UdSSR aufgebaut wurde. Dort arbeitete ich als technischer Assistent an der naturwissenschaftlichen Fakultät.
Es war zu diesem Zeitpunkt, dass die Monarchie gestürzt wurde. Alle waren euphorisch. In Afghanistan glaubte man, der König sei der Schatten Gottes: da Gott immer da ist, muss sein Schatten auch für immer und ewig da sein. Aber nun war der Schatten Gottes weg. Das war an sich ein großer Erfolg, auch einfach auf dieser psychologischen Ebene.
Und hattest du zu dieser Zeit Kontakt mit der Demokratische Volkspartei Afghanistans (DVPA)?
Ja, natürlich. Die Partei war aber noch illegal. Wir haben uns heimlich in Teehäusern getroffen, um die Parteiarbeit zu organisieren. Die Sitzungen fanden dort oder bei manchen Genossen zu Hause statt. Wir sind immer in Abständen von 10 oder 15 Minuten zu den Treffpunkten angekommen, damit keiner merkte, was los war.
Und wie ist es dann dazu gekommen, dass du in der Bundesrepublik Deutschland promoviert wurdest?
Ich wollte wie gesagt in der Sowjetunion studieren, aber die naturwissenschaftliche Fakultät, an der ich arbeitete, hatte eine Partnerschaft mit der Universität Bonn. Im Rahmen dieser Partnerschaft erhielt ich 1974 ein Stipendium, um dort zu studieren. Doch als ich ankam wurde mir erzählt, dass ich nur ein Praktikum und nicht eine Weiterbildung machen könnte. Das kam für mich nicht in Frage, weil ein solches Praktikum in Afghanistan überflüssig wäre. So habe ich es abgelehnt und angefangen, auf eigene Kosten an der Universität Marburg zu studieren. Ich musste während des Semesters und der Ferien arbeiten, um alles zu finanzieren. Hinzu kam, dass ich für das Aufenthaltsrecht kämpfen musste. Das war Ende 1979, Anfang 1980, also gerade als die sowjetische Intervention in Afghanistan begonnen hatte. Die BRD hat mir dann erlaubt, erst mal zu bleiben, aber ich durfte die kleine Stadt Marburg nicht verlassen. Ich wollte eigentlich in die DDR für eine Weiterbildung, aber ich war letztendlich mit dieser Ausweisung bedroht und musste mein Studium abschließen.
Als sich der Krieg in Afghanistan weiter zuspitzte, empfahl mir mein Professor in Marburg zu promovieren und sagte: „Bis du mit deiner Promovierung fertig bist, hat dein Land sicherlich Frieden. Dann kannst du nach Hause.“ Die Idee fand ich damals gut. Doch irgendwann war ich mit meiner Promovierung fertig und Afghanistan hat bis heute keinen Frieden.
Kommen wir zur Partei zurück: In deinem Buch erwähnst du, dass die DVPA hauptsächlich aus Mitgliedern der Intelligenz bestand. Kannst du ihren Klassencharakter näher beschreiben? Und, vor diesem Hintergrund, auch die Spaltung der Partei, die sich kurz nach ihrer Gründung vollzog?
Die Partei wurde 1965 in der Illegalität gegründet. Dieses Gründungstreffen fand im Haus von Nur Muhammad Taraki [1917–1979] in Kabul statt und Taraki wurde als erster Generalsekretär der Partei gewählt. Die Mitglieder und vor allem die Führung bestanden fast ausschließlich aus städtischen Intellektuellen mit kleinbürgerlichen Eigenschaften. Es gab in Afghanistan zu dieser Zeit so gut wie keine Möglichkeiten für politische Bildung. Das bedeutete, dass die Partei nur vage Vorstellungen vom Marxismus hatten. Das war natürlich einer der Schwachpunkte unserer Partei und ein Ausdruck davon war die Spaltung der Partei, die zwei Jahre nach ihrer Gründung erfolgte.
Die unmittelbare Ursache für die Spaltung war der Kampf um die Führungspositionen. Es gab eigentlich nichts zu verteilen, weil wir in der Illegalität waren, aber jeder wollte seine Führungsposition haben. Zwei Gruppen haben sich schnell gebildet. Eine Gruppe versammelte sich um Taraki und Hafizullah Amin [1929–1979] und wurde Chalqi genannt.2Nach dem ersten Zentralorgan der DVPA. Die zweite Gruppe bildete sich um Babrak Karmal [1929–1996] und wurde Partschami genannt.3Nach dem eigenen Organ, das diese Gruppe wöchentlich herausgegeben hatte. Die erste Gruppe war radikal aufgestellt, während die Gruppe um Karmal eine wissenschaftlich basierte Strategie verfolgte.
Die große Debatte war die um die Strategie der Partei: Was wäre, wenn es in Afghanistan zu einer Revolution käme und wir die Macht übernehmen würden? Die Chalqi sagten, wir werden gleich mit dem Aufbau des Sozialismus beginnen. Die Partschami hingegen sagten, nein, das wird eine nationaldemokratische Revolution sein. Und weil es eine nationaldemokratische Revolution sein wird, müssen wir Bündnisse schließen, auch mit der nationalen Bourgeoisie. Wir müssen sogar die nationale Bourgeoisie unterstützen, sodass sie hierzulande investiert und es zur Entstehung der Arbeiterklasse und der Arbeiterbewegung kommen kann. Das war kurz gesagt der ideologische Streitpunkt zwischen den beiden Fraktionen.
Hat die Chalq-Fraktion die Notwendigkeit des nichtkapitalistischen Entwicklungsweges geleugnet?
Nein, das haben sie nicht geleugnet. Keine der beiden Fraktionen leugnete den nichtkapitalistischen Entwicklungsweg. Aber die Chalqi behaupteten, die Partei soll die führende Rolle spielen. Die Partschami stimmten zu, argumentierten aber, dass es notwendig sei, auf diesem Weg ein Bündnis zu schließen.
Im Buch habe ich dargestellt, wie über die gleiche Frage zu Lenins Lebzeiten in der Komintern gestritten wurde.4Gemeint ist die Auseinandersetzung um „die nationale und koloniale Frage“ beim Zweiten Kongress der Kommunistischen Internationale (1920). Der Genosse M. N. Roy aus Indien und der Genosse Sultan-Zade aus Iran waren der Meinung, dass in den ehemaligen Kolonien die Kommunistischen Parteien allein die Macht übernehmen müssen. Lenin sagte nein, das wäre falsch, weil diese Länder in Rückständigkeit verhaftet sind. Da muss zuerst ein breites, nationales, antiimperialistisches Bündnis geschlossen werden. Und diese Diskussion hat sich dann in der DVPA wiederholt.
Übrigens, in Afghanistan ging man davon aus, dass 5 % der Werktätigen in der Industrie beschäftigt waren. Ich arbeitete ja in einer Fabrik und kannte meine Kollegen gut: Jeden Mittag nach dem Essen rief der Muezzin und sie sind alle zum Gebet gegangen. Die afghanischen Arbeiter waren zum großen Teil Handwerker, die aus den Dörfern in die Städte geflüchtet waren. Die meisten waren Analphabeten und hatten gar keine Vorstellungen vom Sozialismus, ganz zu schweigen vom Klassenbewusstsein.
“Von einer Arbeiterklasse in Afghanistan zu sprechen war also eine falsche Wahrnehmung. Das war reine Theorie, es war nur in den Köpfen mancher Genossen.”
Von einer Arbeiterklasse in Afghanistan zu sprechen war also eine falsche Wahrnehmung. Das war reine Theorie, es war nur in den Köpfen mancher Genossen. Sie redeten von der Arbeiterklasse, erkannten, dass nur 5 % der Werktätigen Proletarier waren, und irgendwie sollte das für eine sozialistische Revolution, für eine Diktatur des Proletariats ausreichen.
Wie verstand die Partscham-Fraktion die Rolle der DVPA in einem nationaldemokratischen Staat? Sollte sie eine Arbeiterpartei sein, die eine antiimperialistische Front führt, oder sollte sie eine klassenübergreifende Volkspartei sein, die die gesamte nationale Bewegung vertrat?
Die DVPA nannte sich die Vorhut der Arbeiterklasse. Auch Karmal sprach eindeutig davon in seinen Reden. Sie sagten, wir sind die Partei der Arbeiterklasse, aber in unserer Strategie wollen wir ein breites Bündnis schaffen. Die DVPA wird die führende Rolle spielen und die Orientierung geben, aber auf dem Weg brauchen wir Mitstreiter. Und die Mitstreiter müssen eigentlich das gesamte afghanische Volk sein, von Bauern und Arbeitern bis zur nationalen Bourgeoisie. Die Partschami argumentierten drüber hinaus, dass wir die nationale Bourgeoisie unterstützen müssten, damit wir uns von der Kompradorenbourgeoisie und dem ausländischen Kapital befreien könnten.
Eine letzte Frage zur Partei, bevor wir genauer auf die Strategie des nichtkapitalistischen Entwicklungsweges eingehen: Welche Verbindungen hatte die DVPA mit der internationalen kommunistischen Bewegung und dem sozialistischen Lager? Die Militäroffiziere, die 1973 zum Sturz der Monarchie beitrugen und dann auch die Aprilrevolution von 1978 durchführten, gehörten doch der DVPA an und wurden sogar in der Sowjetunion ausgebildet.
Es gab beim Militär geheime Parteizirkel, genauso, wie ich unsere Zivilzirkel beschrieben habe. Sie organisierten also ihre eigenen Parteigruppen. Und ja, viele Offiziere wurden in der Sowjetunion ausgebildet. Aber erst mal zu den Verbindungen der DVPA zur internationalen kommunistischen Bewegung: Diese Verbindung kam eigentlich über die Tudeh-Partei des Irans zustande. Die kommunistische Bewegung hat die DVPA zunächst nicht anerkannt, weil sie so zerstritten war. Sie war ja so zerstritten, dass es schon zwei Jahre nach der Gründung eine Spaltung gab. Die Kommunistischen Parteien weigerten sich, diese zwei Fraktionen anzuerkennen und forderten, dass sie sich erst einigen müssen. Die Tudeh-Partei hat den Auftrag bekommen, zwischen den Fraktionen zu vermitteln, um eine Vereinigung zu verhandeln. Die iranischen Genossen haben es auch geschafft, diese politische Rolle zu spielen. Als die Partei kurz vor der Aprilrevolution stark unter Druck gesetzt wurde, hat sie sich nolens volens wieder vereinigt. Aber allgemein waren wir eine Schwesterpartei der internationalen kommunistischen Bewegung. Die Vertreter der Partei nahmen auf allen großen Treffen der Bewegung teil. Sie waren überall präsent. Auf Treffen der KPdSU oder SED, und sogar auf dem Parteitag der DKP in Mannheim im Jahr 1978.
Die Verbindungen zwischen Afghanistan und der Sowjetunion waren immer sehr eng, auch vor der Aprilrevolution. Die Russische Sozialistische Föderative Sowjetrepublik (RSFSR) war das erste Land, das die Unabhängigkeit Afghanistans von britischer kolonialer Bevormundung 1919 anerkannte. Zudem annullierte sie sofort alle ungleichberechtigten Verträge mit Afghanistan und baute qualitativ neuen Beziehungen auf. Als ich im Rahmen meiner Doktorarbeit die afghanisch-sowjetischen Beziehungen behandelt habe, habe ich die Briefe zwischen Lenin und dem damaligen König Amanullah abgedruckt. Das sind fast Liebesbriefe… mit welchen Begriffen und welchem Vokabular sie sich gegenseitig über die freundschaftlichen Beziehungen zwischen dem afghanischen und dem russischen Volk ansprechen – das ist wirklich phänomenal!
II. Der nichtkapitalistische Entwicklungsweg im afghanischen Kontext
Kannst du die sozialökonomische Lage in Afghanistan Anfang der 1970er schildern? Und wie sollte die Strategie des nichtkapitalistischen Entwicklungswegs das Land aus dieser Situation herausführen?
Afghanistan war ein Agrarland. Über 80 % der Bevölkerung lebten auf dem Land. Obwohl sie nur 5 % der ländlichen Bevölkerung ausmachten, verfügten die Großgrundbesitzer über mehr als 50 % des Bodens. Im Norden des Landes machten sie sogar nur 2 % der ländlichen Bevölkerung aus, verfügten aber über 75 % des Bodens. Diesen Großgrundbesitzern untergeordnet waren landarme und landlose Kleinbauern sowie Landarbeiter. Es gab auch einige staatliche landwirtschaftliche Unternehmen, aber die überwiegende Mehrheit der landwirtschaftlichen Produktion war privat.
In den Städten gab es leichte Industrie, die teilweise im Besitz von ausländischem Kapital war. Zum Beispiel gab es ein wollverarbeitendes Werk aus Wuppertal. Aber hauptsächlich wurde diese Leichtindustrie von nationalem Kapital, also von afghanischen Kapitalisten betrieben. Neben der Leichtindustrie operierten staatliche Kombinate in der Schwerindustrie. Dort, wo ich arbeitete, zum Beispiel, war ein staatliches Stahl-Kombinat, das dem Ministerium für Industrie und Bergbau angehörte. Es wurde von der Sowjetunion aufgebaut und auch von der Sowjetunion unterstützt. Mein Meister war ein sowjetischer Fachmann.
So war kurz und knapp die ökonomische Lage. Was die Klassenstruktur betrifft, habe ich schon erwähnt, dass nur 5 % der Werktätigen in der Industrie arbeiteten. Der Rest war Kleinbauern oder Knechte. Und jetzt, wenn man von dieser Analyse ausgeht, dann stellt sich die Frage: Wie können wir dieses Land weiterentwickeln? Wie soll ein Land, in dem feudale und halbfeudale Verhältnisse herrschen, zum Sozialismus gebracht werden? Für uns war klar, es gibt nur einen Weg, nämlich den nichtkapitalistischen. Wir lehnen also den Kapitalismus ab, aber erkennen, dass wir Verbündete brauchen werden. Einer der wichtigsten Verbündeten war, wie ich vorhin gesagt habe, das nationale Kapital. Also, wir müssen die nationale Industrie und die Handelsbourgeoisie unterstützen, um die Entwicklung der Produktivkräfte in Afghanistan voranzutreiben.
Aber vor allem müssen wir für die Beseitigung des Großgrundbesitzes sorgen. Wir brauchen also eine Bodenreform, und dies haben wir auch nach der Aprilrevolution angefangen. Das Land der Großgrundbesitzer sollte auf die landarmen und landlosen Bauern und auf die Knechte verteilt werden. Doch wir haben den alten Großgrundbesitzern genug Land übriggelassen, um ein gutes Leben zu führen, sofern sie es selbst bewirtschaften würden. Aber sie durften nicht mehr die anderen Bauern auf ihrem Land ausbeuten.
Die andere zentrale Aufgabe war die Überwindung des Analphabetismus. In Afghanistan konnten über 90 % der Bevölkerung weder lesen noch schreiben. Bei Frauen war die Zahl noch höher.
Das waren die drei Aufgaben: Alphabetisierung, Bodenreform und Unterstützung der nationalen Bourgeoisie im Rahmen eines nationalen Bündnisses. Auf diese Weise würden wir den Weg zum Sozialismus in Afghanistan ebnen. Zusammengenommen sollten diese Maßnahmen den Prozess beschleunigen und unsere sozialistische Orientierung ökonomisch untermauern. Durch die Alphabetisierung und Schulung der Menschen sollten die subjektiven Bedingungen für eine spätere sozialistische Revolution geschafft werden.
Was heißt das konkret, die nationale Bourgeoisie und die Handelsbourgeoisie zu unterstützen? Fördert man damit nicht in Wirklichkeit eine kapitalistische Entwicklung?
Auch diese Diskussion hatte es schon in der Komintern gegeben. Es gibt eine Reihe von Beispielen, wo Parteien, die aus dem kolonialen Kampf entstanden sind und nachher die Macht übernommen haben, nicht bereit waren, Bündnisse zu schließen. Sie hatten Angst, dass die nationale Bourgeoisie, wenn man sie unterstützt, dadurch stärker werden und uns eines Tages verdrängen könnte. Aber Lenin sagte, davor brauchen wir keine Angst zu haben: Wir haben noch die Macht. Wir haben die Regierung, das Militär und so weiter. Wir sind es, die die Orientierung und Lenkung geben, weil wir an der Spitze der nationalen Bewegung stehen. Die nationale Bourgeoisie soll im Rahmen dieser Strategie, die wir entwickelt haben, eingegliedert werden. Die Angst war also unbegründet.
Die Folge dieser Angst war, dass die Strategie des nichtkapitalistischen Entwicklungsweges oft nicht umgesetzt wurde. Und die Parteien, die an die Macht kamen, wurden deswegen diktatorisch. Schauen wir mal Algerien an: Algerien war für die Dritte Welt ein Musterland. Wir haben die algerische Verfassung in Afghanistan wie die Bibel oder der Koran gelesen. Das war für uns ein starkes Vorbild. Aber was haben die Algerier gemacht, nachdem sie die Macht übernommen hatten? Sie haben die nationale Bourgeoisie und den nichtkapitalistischen Entwicklungsweg zum Sozialismus nicht ernst genommen. Sie haben ein diktatorisches Regime installiert.
Man muss geeignete Bedingungen und Strukturen schaffen, damit die Partei und das System auch nach dem Wegfall einzelner Führer weiterleben und sich entwickeln können. Dafür muss man die Strategie des nichtkapitalistischen Entwicklungsweges ernst nehmen und sie entsprechend umsetzen.
Um auf einen weiteren Aspekt einzugehen: Die Unterstützung der nationalen Bourgeoisie war für ein Agrarland wie Afghanistan notwendig, um die Industrie zu entwickeln. Mit Bauern allein kann man keine Revolution machen. Wir wollten eine sozialistische Revolution, aber eine sozialistische Revolution kann nur die Arbeiterklasse führen. Und wir wollten eine wirkliche Arbeiterpartei werden – wir waren wie gesagt eine intellektuelle Partei mit kleinbürgerlichen Vorstellungen. Die Arbeiter müssen von irgendwo herkommen. Nur durch das nationale Kapital kann die Arbeiterklasse entstehen und sich zu einer Klasse für sich entwickeln. Das war ein Kerngedanke dieser Strategie.
III. Die Umsetzung dieser Strategien und die Unterstützung des sozialistischen Lagers
Wenden wir uns den Ereignissen in Afghanistan in den 1970er Jahren zu, um diese Strategien konkret zu untersuchen. Fünf Jahre vor der Aprilrevolution kommt es zum Sturz der Monarchie durch die der DVPA zugehörigen Offiziere. Sie geben die Macht an Mohammed Daoud, ehemaliger Ministerpräsident [1953–63] und Schwager des abgesetzten Königs. Warum machen sie das? War dies ein Versuch, den nationaldemokratischen Staat mit Daoud an der Spitze aufzubauen?
Daoud hatte gute Kontakte sowohl zum Militär als auch zur Sowjetunion. Um etwas mehr Kontext zu geben: Afghanistan ist nach dem Zweiten Weltkrieg Teil der blockfreien Staaten geworden. Die afghanische Regierung hat sich zunächst an die USA gewendet, um militärische und ökonomische Hilfe zu bekommen, aber der US-Außenminister John Foster Dulles verlangte, dass Afghanistan im Gegenzug dem Bagdad-Pakt beitreten müsse. Die Afghanen lehnten dies ab und wandten sich an die Sowjetunion, die Hilfe ohne Bedingungen in Bezug auf den Warschauer Pakt anbot. So begann nach dem Krieg die Bildungs‑, Wirtschafts- und Militärkooperation zwischen Afghanistan und der UdSSR. Das fing alles während Daouds Amtszeit als Ministerpräsident an und wurde durch ihn intensiviert. Da wurde viel in der Landwirtschaft und Industrie geleistet, neben wichtigen Infrastrukturprojekten. Viele Straßen wurden asphaltiert und natürlich der Salang-Tunnel gebaut. Solche Projekte fanden bei der afghanischen Bevölkerung großen Anklang.
Daoud genoss also große Popularität und war sehr bekannt. Die DVPA war hingegen zu dieser Zeit kaum bekannt. Zudem hatte Daoud diesen Putsch tatsächlich initiiert. Das Militär half ihm nur bei der Durchführung. Deshalb wurde er danach natürlich zum Präsidenten ernannt.
Doch Daoud erwies sich als diktatorisch, er brachte die versprochenen Reformen nicht zustande, zeigte pro-imperialistische Tendenzen und versuchte sogar, die DVPA zu vernichten. Wie ebneten diese Entwicklungen den Weg für die Aprilrevolution von 1978?
Diese diktatorischen Tendenzen haben sich tatsächlich über die Jahre entwickelt. Daouds historischer Fehler war, dass er im Frühjahr 1978 zu offenen Repressionen gegen die Parteiführung der DVPA überging. Er ließ Taraki und Karmal verhaften und wollte sie hinrichten lassen. In den Abendnachrichten wurde bekanntgegeben, dass die Parteiführung zur Rechenschaft gezogen werde und eventuell liquidiert werden soll. Das DVPA-zugehörige Militär griff ein, um die Partei zu retten, sonst wäre sie mit der Führung vernichtet worden. So provozierte Daoud den militärischen Aufstand, der am 27. April 1978 erfolgte und den wir später die Aprilrevolution nannten. Das Militär befreite die DVPA-Führung aus dem Gefängnis und übergab ihr die Macht – drei Tage später wurde die Demokratische Republik Afghanistan ausgerufen.
Im Buch habe ich über die internen Diskussionen in der Partei zu dieser Zeit spekuliert. Wieder einmal ging es um die unterschiedlichen Strategien der beiden Fraktionen. Die Partschami ging davon aus, dass die objektiven und subjektiven Bedingungen erst reifen müssen, bevor es zu einer Revolution kommen kann. Die Chalqi um Taraki und vor allem Amin meinten, dass die DVPA einfach nur genügend Militäroffiziere für sich gewinnen müsse, um einen Militäraufstand herbeizuführen. Amin hat gezielt darauf hingearbeitet. Unter den Mitgliedern des Zentralkomitees, die für die Kontakte mit dem Militär zuständig waren, kam es zu Konflikten. Amin sprach sich immer wieder für den militärischen Aufstand aus, während die Partschami dies als Abenteurertum ablehnten. Amin sollte infolgedessen von seiner Funktion entlassen werden.
Ich habe im Buch formuliert, dass Amin hinter der Ermordung von Rivalen und auch eines Regierungsministers zu diesem Zeitpunkt stecken könnte, um Daoud zur Repression gegen die DVPA zu provozieren. Auf diese Weise hätte Amin eine Rechtfertigung für die Durchführung eines militärischen Aufstandes gehabt. Ich stütze diese Theorie auf seine Reden und ein Geschichtsbuch, das er selbst hat schreiben lassen. Amin wollte einen Aufstand und er suchte nach einem Vorwand. Der historische Fehler Daouds war, ihm genau das zu geben, indem er die DVPA-Führung verhaftete.
Wie gesagt, Karmal und die Partschami wollten warten, bis die objektiven und subjektiven Bedingungen reif für einen Volksaufstand waren. Man kann nur in einer revolutionären Situation eine Revolution führen. Sie lehnten Amins Vorgehen als abenteuerlich ab, und in der Tat hätte der militärische Aufstand schief gehen können – der Kampf mit Daouds Leuten dauerte zwei Tage.
Wie hat die internationale kommunistische Bewegung auf diese Entwicklung reagiert?
Die Parteien waren natürlich überrascht. Ich nehme aber an, dass die Führung der KPdSU durch den KGB wusste, was in Afghanistan los war. Die Sowjetunion hat trotzdem als erstes Land die DR Afghanistan anerkannt und alle anderen Länder darauf hingewiesen, dass es keine Einmischung in deren inneren Angelegenheiten geben darf.
Trotz dieser ungünstigen Umstände, die die Gründung der DR Afghanistan begleiteten, leitete die DVPA ihre tiefgreifenden Reformen ein. Wie entwickelten sich diese Maßnahmen in den Städten und auf dem Land? Welche Schwierigkeiten traten auf?
In der ersten Phase sind einige Reformen gut gelaufen. Innerhalb von sechs Monaten haben zum Beispiel 1,5 Millionen Menschen Lesen und Schreiben gelernt. Aber bei der Bodenreform gab es Fehler. Man ist zu brutal und ungeschickt mit den Großgrundbesitzern umgegangen.
Afghanistan war immer noch von Stammesstrukturen geprägt. Es gab zum Beispiel Bauern, die das Land von ihrem Stammesführer oder Geistlichen nicht haben wollten. Dann hat man teilweise durch Zwang diese Landverteilung vorgenommen. Das war ein Fehler. Man hätte sagen können: Gut, wenn ihr das nicht so machen wollt, dann macht doch eine landwirtschaftliche Genossenschaft daraus. Dann hat nicht nur der Großgrundbesitzer das Sagen, sondern ihr alle.
“Die Partei und vor allem wir jungen Mitglieder wollten das Land von heute auf morgen entwickeln. Die revolutionäre Geduld, die man haben muss, hatten wir nicht.”
Aber da waren wir zu ungeduldig. Diese Ungeduld hatte damit zu tun, dass die Lage in Afghanistan unglaublich schlecht war. 1971/72 gab es eine Dürreperiode und fast 2 Millionen Menschen sind ums Leben gekommen. Die Partei und vor allem wir jungen Mitglieder wollten das Land von heute auf morgen entwickeln. Die revolutionäre Geduld, die man haben muss, hatten wir nicht. Wir haben viele Fehler gemacht, die letztlich Türen offenließen, durch die die Konterrevolution leicht Zugang hatte.
Dies ist ein entscheidendes Merkmal der jungen Nationalstaaten, denke ich. Das Fortbestehen vorfeudaler Verhältnisse wie Stammesstrukturen macht die Aufgaben des nationalen Aufbaus sehr viel komplizierter. Es gab zum Beispiel ähnliche Schwierigkeiten in Mali, wo die Widersprüche zwischen den verschiedenen Klassen auf dem Lande zunächst durch patriarchalische und dörfliche Gemeinschaftsstrukturen verschleiert wurden. Dies erschwerte die Reformen auf dem Lande erheblich. Die Bodenreform in den ehemaligen Kolonien müsste man also als eine qualitativ andere Aufgabe als die in den osteuropäischen Volksdemokratien verstehen.
So ist es. Und hier braucht man natürlich eine fähige, erfahrene und geduldige Partei.
Ein deutscher Professor hat mich einmal gefragt, warum der afghanische Prozess gescheitert ist. Ich antwortete, dass wenn die afghanische Revolution Erfolg gehabt hätte, dann wäre die Gesellschaftswissenschaft des Marxismus falsch, weil wir als DVPA alle Kinderkrankheiten hatten, die es jemals in den kommunistischen Parteien gegeben hat. So wie es Lenin nannte, wir hatten alle diese Krankheiten – das kleinbürgerliche Sektierertum war unter uns sehr weit verbreitet. Und wir waren unerfahren. Stell dir vor: Die Partei war gerade 18 Jahre alt geworden als sie die Macht übernahm. Wir hatten keine politische Bildung, keine Erfahrung mit der Demokratie oder mit einer Revolution. Einer solchen Partei die Macht und den Auftrag zu geben, eine Revolution durchzuführen, das ist wirklich kompliziert.
Ende Dezember 1979 wurde Amin gestürzt und die Gruppe um Karmal übernahm die Führung. Sie haben einige Reformen gestoppt, die zu weit gegangen waren. Einige andere Reformen wurden verlangsamt und andere fortgesetzt. Die Ergebnisse waren gemischt. Zum Zeitpunkt der sowjetischen Intervention war Afghanistan bereits wie das Kind, das in den Brunnen gefallen war. Die Fehler der Taraki-Regierung und vor allem der Amin-Regierung hatten die Situation äußerst schwierig gemacht. Amin hat ja 12.000 Parteimitglieder umgebracht – er war ein afghanischer Pol Pot. Karmal und die Sowjets sollten dann dieses Kind aus diesem Brunnen rausholen. Wir steckten bis zum Hals im Schlamassel. Langsam wurden Fehler korrigiert und die Situation verbessert, aber die Probleme wurden nicht weniger – die Unterstützung für die Konterrevolution hatte massiv zugenommen.
Kannst du kurz den Umfang und Charakter der Hilfe des sozialistischen Lagers für die DR Afghanistan in diesen Jahren beschreiben?
In Afghanistan hat man vorher nur Ochsen und Esel gehabt. Zum ersten Mal haben wir Maschinen wie Traktoren oder Mähdrescher gesehen. Plötzlich haben wir Tiefbrunnen gehabt. Da wurden auch landwirtschaftliche Kooperativen aufgebaut, um den Bauern zu ermöglichen z.B. diese Maschinen zu leihen oder in den kooperativen Läden Lebensmittel sehr billig zu kaufen.
Zuvor hatte kaum jemand einen Kühlschrank oder einen Fernseher. Die Sowjetunion und andere sozialistische Länder haben massenweise Sachen zu uns geschickt und man konnte sie für ganz billiges Geld kaufen. Als mein Sohn die Liste der Sachen durchging, die wir erhalten sollten, scherzte er zu mir: „Vater, das Einzige, was auf dieser Liste noch fehlt, ist eine Frau!“ Sonst war alles drauf. Hinzu kamen tausende Wissenschaftler und Fachkräfte aus den sozialistischen Ländern und tausende junge Afghanen und Afghaninnen gingen in diese Länder, um Ausbildungen in allen möglichen Fachrichtungen zu erhalten.
Was die DDR angeht, da hat die SED der DVPA eine komplette Druckerei geschenkt. Wir haben vorher Bücher gehabt, die waren krumm und schief, die konnte man kaum lesen. Und durch die DDR bekamen wir eine der modernsten Druckereien. Hinzu hat die SED eine Gruppe von Genossen nach Afghanistan geschickt, um zu beraten, wie man eine Nationale Front aufbauen kann. Diese Genossen hatten lebenslang in der Nationalen Front der DDR gearbeitet und konnten ihre Erfahrungen vermitteln. Das war zu der Zeit als die DVPA begonnen hatte, ihre vergangenen Fehler zu korrigieren – Amin war schon entmachtet worden und die Gruppe um Karmal versuchte nun, das nationaldemokratische Bündnis aufzubauen. Die Genossen aus der DDR sollten dabei unterstützen.
In vielen Bereichen gab es also massive Unterstützung durch die sozialistischen Länder, insbesondere bei der Ausbildung junger Afghaninnen und Afghanen.
IV. Die Konterrevolutionäre und ihre ausländischen Auftraggeber
Kommen wir nun zum Kampf der DVPA gegen die Konterrevolution und die damit verbundene sowjetische Intervention in Afghanistan, die Ende Dezember 1979 begann. In deinem Buch zitierst du verschiedene Quellen, um zu zeigen, dass die USA spätestens im Juli 1979, also sechs Monate vor der sowjetischen Intervention, mit der Unterstützung islamischer Extremisten begannen. Kannst du kurz den Hintergrund dazu schildern?
Man muss mit dem Freundschaftsvertrag zwischen der DR Afghanistan und der UdSSR beginnen. Am 5. Dezember 1978 wird dieser Vertrag von beiden Seiten unterschrieben. Der vierte Artikel dieses Vertrages beinhaltete eine militärische Komponente. Die besagte, dass Afghanistan im Falle eines Angriffs auf die UdSSR verpflichtet ist, der UdSSR beizustehen und umgekehrt. Also, wenn Afghanistan von einem fremden Land überfallen wird oder wenn seine Regierung von außen gestürzt werden sollte, dann ist die Sowjetunion verpflichtet, „entsprechende Maßnahmen zu ergreifen“. Das entspricht auch dem Artikel 51 der UNO-Charter.5Artikel 51 lautet: „Diese Charta beeinträchtigt im Falle eines bewaffneten Angriffs gegen ein Mitglied der Vereinten Nationen keineswegs das naturgegebene Recht zur individuellen oder kollektiven Selbstverteidigung, bis der Sicherheitsrat die zur Wahrung des Weltfriedens und der internationalen Sicherheit erforderlichen Maßnahmen getroffen hat. Maßnahmen, die ein Mitglied in Ausübung dieses Selbstverteidigungsrechts trifft, sind dem Sicherheitsrat sofort anzuzeigen; sie berühren in keiner Weise dessen auf dieser Charta beruhende Befugnis und Pflicht, jederzeit die Maßnahmen zu treffen, die er zur Wahrung oder Wiederherstellung des Weltfriedens und der internationalen Sicherheit für erforderlich hält.“ Beide Seiten waren also völkerrechtlich legitimiert und verpflichtet, gegenseitige Hilfe zu leisten, auch militärisch. Das ist zunächst eine wichtige Komponente der Beziehungen zwischen den beiden Ländern.
Im Buch habe ich den damaligen US-Außenminister Henry Kissinger zitiert. Er sagte, dass Afghanistan keine Schule machen dürfte. Wenn die afghanische Revolution erfolgreich sein wird, dann wird sie zu einem Vorbild und die ganze Region wird revoltieren. Dann sind nicht nur die strategischen Interessen der USA, sondern auch „ihr“ Öl gefährdet. Also müssten sie alles dafür tun, dass diese nationaldemokratische Revolution scheitert. Das war eigentlich eine Kriegserklärung seitens des US-Imperialismus mit ihren NATO-Verbündeten gegen Afghanistan. Und sie haben dann tatsächlich diesen Krieg angezettelt und ihn bis 1992 verfolgt, bis der Nachfolger der DVPA kapituliert.6Im Juli 1990 wurde die DVPA in Hesbe Watan (Partei der Heimat) umbenannt und sozialdemokratisiert. Laut Baraki beschloss die Führung um Außenminister Abdul Wakil nach dem Rücktritt des Parteivorsitzenden Mohammad Najibullah im März 1992, die Macht den Konterrevolutionären zu übertragen – d.h. es fand keine Machtergreifung durch die Konterrevolutionäre statt, sondern eine Machtübergabe an diese.
Sie haben das Land buchstäblich zerstört. Jährlich wurden 65.000 Tonnen Waffen nach Afghanistan geschickt. Aus über 40 islamischen Ländern wurden Kämpfer nach Pakistan gebracht, ausgebildet, und ausgerüstet, und dann über die Grenze nach Afghanistan geschleust. Bis Ende 1983 gelang es ihnen, 1.800 Schulen, also die Hälfte aller Schulen in Afghanistan, und 130 Krankenhäuser zu zerstören. Insbesondere Mädchenschulen wurden gezielt zerstört. Der Gesamtschaden belief sich auf etwa 50 % der gesamten Investitionen des Landes in den vorangegangenen 20 Jahren.
Die Volksrepublik China war übrigens auch dabei. Sie schickte Uiguren aus Xinjiang nach Afghanistan, um mit Unterstützung der CIA auf der Seite der Islamisten gegen uns zu kämpfen. Gulbudin Hekmatyar, der radikalste Islamist und Führer der Islamischen Partei Afghanistans, war der Lieblings-Mudjahed der CIA. Ich habe einen Brief von ihm zitiert, in dem er um Experten aus „den befreundeten Ländern USA und China“ bittet, um „unsere Mudjahedin” in der Anwendung der von ihnen gelieferten Waffen zu schulen.7Vgl. Matin Baraki: Die Politik der VR China gegenüber Afghanistan.
http://www.zeitschrift-marxistische-erneuerung.de/article/666.die-politik-der-vr-china-gegenueber-afghanistan.html
Die Mudjahedin hatten nämlich Stalinorgeln aus chinesischer Produktion erhalten und mussten lernen, wie man sie bedient. Diese Stalinorgeln wurden in kleinere Stücke zerlegt, mit Eseln und Kamelen über die Grenze gebracht und den Islamisten zum Einsatz gegen uns übergeben.
War diese ausländische Unterstützung am Ende entscheidend für den Erfolg der Konterrevolution in Afghanistan?
Nein, entscheidend war Gorbatschow. Afghanistan war Gorbatschows erstes Geschenk an den Westen. Als der Abzug der sowjetischen Truppen beschlossen wurde, hat der Kommandeur der sowjetischen Armee, Boris Gromow, gesagt, dass dieser Abzug militärisch nicht notwendig sei. Sie hatten große Erfolge erzielt und hatten große Teile des Landes komplett unter Kontrolle. Gromow argumentierte, dass das Land sich zunehmend stabilisieren würde. Kabul war ja zu dieser Zeit so friedlich wie nie zuvor und nie danach. Es war möglich, in der Hauptstadt ein ganz normales Leben zu genießen. Der Abzug war eine politische Entscheidung und sie wurde von Gorbatschow getroffen. Er hat Afghanistan an den Westen verschenkt, genauso wie später die DDR.
“Gorbatschow hat Afghanistan an den Westen verschenkt, genauso wie später die DDR.”
Ende der 1980er waren die Islamisten tatsächlich fast am Ende. Dies zeigt sich daran, dass das afghanische Militär für drei weitere Jahre ohne die sowjetischen Streitkräfte kämpfte. Es gab drei große Operationen der Konterrevolutionäre aus Pakistan gegen die DR Afghanistan und sie waren alle vernichtend geschlagen worden – ganz ohne sowjetische Truppen!8Gemeint sind z.B. Dschalalabad (März 1989), Kabul (Oktober 1990), die Stadt Chost in der Provinz Paktya (März 1991) und Dschalalabad (Juli 1991). Ich habe an einer Stelle im Buch einen Leitartikel der Frankfurter Allgemeine Zeitung vom Januar 1990 zitiert. Sie war frustriert, dass die afghanischen Mudjahedin nicht in der Lage waren, „eine einzige bedeutende Stadt in Afghanistan zu erobern“.
Wenn also die Sowjets geblieben wären und ihre Unterstützung weiter fortgesetzt hätten, dann hätte sich das Land stabilisiert.
Welche Folgen hatte die Intervention für die Sowjetunion und die DVPA? Gab es einen signifikanten Verlust an Vertrauen oder Ansehen in der afghanischen Bevölkerung?
Die DVPA richtete insgesamt 21 Bittgesuche an die UdSSR, militärische Truppen zu entsenden.9Im Anhang von Barakis Buch sind einige Protokolle dieser Treffen und Kommunikationen dokumentiert. Die Sowjets haben immer gesagt: Nein, das können und werden wir nicht tun. Wir unterstützen euch ökonomisch, militärisch, propagandistisch, ideologisch, politisch, diplomatisch – aber kämpft für euch selbst. Die DVPA wollte das aber nicht tun.
Man muss verstehen: Die NATO wollte diese Intervention. Brzezinski, der nationale Sicherheitsberater von US-Präsident Carter von 1977 bis 1981, sagte, wir wollen aus Afghanistan ein Vietnam für die Sowjets machen. Gut, die UdSSR hat lange gesagt, dass sie keine Truppen entsenden würden. Warum haben sie es am Ende doch gemacht? Es gibt zwei Gründe.
Erstens, sie wollte zuerst warten, um zu sehen, was die NATO mit der Stationierung der Pershing II Raketen, also Erstschlagwaffen in Westeuropa macht. Die Sowjets haben versucht, dies zu verhindern, sind aber gescheitert. Der damalige Bundeskanzler Helmut Schmidt war der Kopf hinter dieser Aktion. Am 12. Dezember 1979 wurde beschlossen, Pershing II Raketen in Westeuropa zu stationieren. Zweitens wurde etwa zur gleichen Zeit für Januar oder Februar 1980 eine Militäroperation geplant, bei der bewaffnete Islamisten mit Fallschirmen in Kabul abgesetzt werden sollten, um die Regierung zu stürzen. Darüber wussten die Sowjets genau Bescheid.
Diese beiden Entwicklungen haben dazu geführt, dass die KPdSU am Tag des NATO-Doppelbeschlusses entschied, eine Spezialeinheit nach Kabul zu entsenden. In seiner ersten Stellungnahme gegenüber der sowjetischen Zeitung Prawda sagte Breschnew, man wolle ein zweites Chile verhindern.10Im September 1973 wurde die sozialistische Regierung der Unidad Popular in Chile durch einen von den USA unterstützten Putsch gestürzt. Hinzu kamen strategische Überlegungen: Sie könnten nicht zulassen, dass ein fundamentalistischer islamischer Staat von ausländischen Mächten direkt an der sowjetischen Grenze errichtet werde. Sie haben also interveniert.
Natürlich war das für die Sowjetunion eine große Belastung. Ihr Ansehen in Afghanistan wurde beschädigt . Durch ihre massive Unterstützung konnte sie einiges wettmachen. Die Sowjets haben vieles geschickt und Tausende junge Menschen ausgebildet. In der Endphase ihrer Unterstützung waren 80 % der Werktätigen im Erziehungs- und Gesundheitswesen Frauen. Die Analphabetenrate unter den afghanischen Frauen war immer unglaublich hoch, aber nach dieser Unterstützung wurden 80 % der wichtigsten Positionen von Frauen übernommen. Es gab also eine massive Entwicklung in dieser kurzen Phase und das darf man nicht vergessen.
V. Historische Lehren aus der DR Afghanistan
Was sind die historischen Lehren aus der DR Afghanistan und ihrer Partei, der DVPA?
Als die Sowjetunion damals in Afghanistan intervenierte, hat mich eine Gruppe junger Studenten in der BRD eingeladen, um über die Situation zu sprechen. Eine Genossin sagte zu mir: „Es sind jetzt 100.000 sowjetische Soldaten dort, warum schickt man nicht noch 100.000 dahin, um dann den Sozialismus aufzubauen.“ Ich antwortete: „Der Sozialismus kann nicht durch das Militär aufgebaut werden. Das Militär hat die Aufgabe, uns vor Angriffen von außen und vor einer Konterrevolution zu schützen, aber der Sozialismus muss vom Volk, von den Arbeitern aufgebaut werden.“ Die Arbeiterklasse ist die tragende Säule des Sozialismus. Und in Afghanistan fehlte genau das. Wir Afghanen haben während der Führung von Taraki und Amin die Situation genauso einfach verstanden wie diese Genossin aus der BRD.
Uns fehlte eine exakte gesellschaftliche Analyse der Klassenverhältnisse. Wir hatten keine reale Bestandsaufnahme der Verhältnisse in Afghanistan. Gerade am Beispiel der Bodenreform: Wir hätten nicht einfach versuchen sollen, das Land der Großgrundbesitzer, die gleichzeitig Stammes- und Geistesführer waren, zu enteignen und umzuverteilen. Wir hätten uns mit dem Großgrundbesitzer und seinem Stamm zusammensetzen und sagen sollen: „Wir wollen, dass es euch besser geht. Nicht nur dem Stammesführer und dem Geistlichen, sondern Euch allen. Wie machen wir das?“ Stattdessen haben wir eine sektiererische Politik betrieben. Wir sahen die Welt durch unsere eigene Fantasie beeinträchtigt und waren zu weit von der afghanischen Realität entfernt. Das kann man als Schlussfolgerung aus der Geschichte der DR Afghanistan und der DVPA ziehen.
[1] Le Nouvel Observateur (N.O.), Paris, 15.–21. Januar 1998, S.76. Interview von Vincent Jauvert. Übersetzt von Matin Baraki in Afghanistan „Afghanistan: Revolution, Intervention, 40 Jahre Krieg“ (2023), PapyRossa Verlag, Köln, S. 233.
[2] Nach dem ersten Zentralorgan der DVPA.
[3] Nach dem eigenen Organ, das diese Gruppe wöchentlich herausgegeben hatte.
[4] Gemeint ist die Auseinandersetzung um „die nationale und koloniale Frage“ beim Zweiten Kongress der Kommunistischen Internationale (1920).
[5] Artikel 51 lautet: „Diese Charta beeinträchtigt im Falle eines bewaffneten Angriffs gegen ein Mitglied der Vereinten Nationen keineswegs das naturgegebene Recht zur individuellen oder kollektiven Selbstverteidigung, bis der Sicherheitsrat die zur Wahrung des Weltfriedens und der internationalen Sicherheit erforderlichen Maßnahmen getroffen hat. Maßnahmen, die ein Mitglied in Ausübung dieses Selbstverteidigungsrechts trifft, sind dem Sicherheitsrat sofort anzuzeigen; sie berühren in keiner Weise dessen auf dieser Charta beruhende Befugnis und Pflicht, jederzeit die Maßnahmen zu treffen, die er zur Wahrung oder Wiederherstellung des Weltfriedens und der internationalen Sicherheit für erforderlich hält.“
[6] Im Juli 1990 wurde die DVPA in Hesbe Watan (Partei der Heimat) umbenannt und sozialdemokratisiert. Laut Baraki beschloss die Führung um Außenminister Abdul Wakil nach dem Rücktritt des Parteivorsitzenden Mohammad Najibullah im März 1992, die Macht den Konterrevolutionären zu übertragen – d.h. es fand keine Machtergreifung durch die Konterrevolutionäre statt, sondern eine Machtübergabe an diese.
[7] Vgl. Matin Baraki: Die Politik der VR China gegenüber Afghanistan.
[8] Gemeint sind z.B. Dschalalabad (März 1989), Kabul (Oktober 1990), die Stadt Chost in der Provinz Paktya (März 1991) und Dschalalabad (Juli 1991).
[9] Im Anhang von Barakis Buch sind einige Protokolle dieser Treffen und Kommunikationen dokumentiert.
[10] Im September 1973 wurde die sozialistische Regierung der Unidad Popular in Chile durch einen von den USA unterstützten Putsch gestürzt.
Das Interview wurde am 10. Mai 2023 durchgeführt und wurde zur besseren Lesbarkeit leicht bearbeitet.