„Afghanistan darf keine Schule machen”

Ein Interview mit Dr. Matin Baraki über die historischen Lehren aus der Demokratischen Republik Afghanistan

23. Mai 2023

Inter­view: Matthew Read

Flagge der Demo­kra­ti­schen Volks­par­tei von Afghanistan

Als die Demo­kra­ti­sche Volks­par­tei Afgha­ni­stans (DVPA) April 1978 an die Macht kam, leitete sie eine massive Alpha­be­ti­sie­rungs­kam­pa­gne und eine Boden­re­form ein, um das Land aus dem Halb­feu­da­lis­mus heraus­zu­füh­ren und auf einen nicht­ka­pi­ta­lis­ti­schen Entwick­lungs­weg zu lenken. Mit Hilfe des sozia­lis­ti­schen Lagers brachte die junge Demo­kra­ti­sche Repu­blik Afgha­ni­stan Trak­to­ren und Mähdre­scher zu den Bauern, die zuvor auf Ochsen­pflüge ange­wie­sen waren. Sie sicherte eine Ausbil­dung für dieje­ni­gen, denen sie zuvor verwehrt worden war, und legte zentrale gesell­schaft­li­che Aufga­ben in die Hände zahl­lo­ser Afghaninnen.

Doch für den Westen durfte diese natio­nal­de­mo­kra­ti­sche Revo­lu­tion am Hindu­kusch keine Schule machen. Zusam­men mit ihren Verbün­de­ten setz­ten die USA bald ein Heer von schwer bewaff­ne­ten und erzre­ak­tio­nä­ren „Gottes­kämp­fern“ in Bewe­gung, um die DVPA-Regie­rung zu stür­zen und einen aggres­si­ven funda­men­ta­lis­ti­schen Staat an der Südgrenze der Sowjet­union zu errich­ten. Zbigniew Brze­zinski, der dama­lige natio­nale Sicher­heits­be­ra­ter von US-Präsi­dent Carter, legte später das Kalkül der USA offen: „Was ist denn das Wich­tigste im Hinblick auf die Welt­ge­schichte? […] Einige isla­mi­sche Hitz­köpfe oder die Befrei­ung Mittel­eu­ro­pas und das Ende des Kalten Krie­ges?“1

In seinem kürz­lich veröf­fent­lich­ten Buch Afgha­ni­stan: Revo­lu­tion, Inter­ven­tion, 40 Jahre Krieg, bewer­tet Dr. Matin Baraki diese Entwick­lun­gen neu, um zu zeigen, wie der Westen sein Heimat­land ins jahr­zehn­te­lang währende Elend gestürzt hat. Baraki, der selbst in den frühen klan­des­ti­nen Krei­sen der DVPA aktiv war, reflek­tiert jedoch auch selbst­kri­tisch über die Rolle seiner ehema­li­gen Partei: Ihre interne Zerstrit­ten­heit und ideo­lo­gi­sche Unreife ließen zu viele Türen für die Konter­re­vo­lu­tion offen und führ­ten dazu, dass die DVPA zuneh­mend auf sowje­ti­sche Unter­stüt­zung ange­wie­sen war. Doch er stellt klar, dass die sowje­ti­sche Inter­ven­tion Ende 1979 keines­wegs ein Über­fall war, sondern viel­mehr eine drin­gend gesuchte Hilfe bei der Abwehr einer verhee­ren­den Inva­sion aus dem Ausland.

Im Rahmen unse­rer Unter­su­chung der anti­im­pe­ria­lis­ti­schen Stra­te­gien des sozia­lis­ti­schen Lagers im 20. Jahr­hun­dert frag­ten wir Baraki zunächst nach der Konzep­tion der DVPA von natio­na­ler Demo­kra­tie und dem nicht­ka­pi­ta­lis­ti­schen Entwick­lungs­weg. Wir wand­ten uns dann der konkre­ten Umset­zung dieser Stra­te­gien im afgha­ni­schen Kontext und der Rolle der sozia­lis­ti­schen Staa­ten im Gegen­satz zu denen des Westens zu. Das Inter­view ist dementspre­chend in fünf Abschnitte gegliedert.

I. Die Demokratische Volkspartei Afghanistans und ihre politische Strategie

Kannst du zunächst etwas über deinen Hinter­grund erzäh­len? Du bist zur Zeit der Monar­chie in Afgha­ni­stan aufge­wach­sen und hast zunächst in Kabul gear­bei­tet. Wie bist du poli­ti­siert geworden?

Ich wurde 1947 in einem klei­nen afgha­ni­schen Dorf gebo­ren und bin dort aufge­wach­sen. Mein Vater war ein armer Klein­bauer und Analpha­bet, so wie meine Mutter. Da sein Vater starb, als er gerade fünf Jahre alt war, wurde mein Vater aus der Schule genom­men und musste arbei­ten. Er litt sein ganzes Leben darun­ter und machte es sich zur Aufgabe, mich in die Schule zu brin­gen. Ich habe später dann eine Ausbil­dung als Fein­me­cha­ni­ker ange­fan­gen, aber mein Vater wurde später, als ich 16 Jahre alt war krank, und ist kurz danach verstor­ben. Ich musste dann versu­chen, meine neun­köp­fige Fami­lie zu ernäh­ren. Ich brach also die Ausbil­dung ab und habe ange­fan­gen, als Fein­me­cha­ni­ker auf mitt­le­rem Grad in einer Fabrik zu arbeiten.

Es war die Zeit der Monar­chie. Es gab weder Parteien noch Gewerk­schaf­ten. Aber dort in der Fabrik bin ich poli­ti­siert worden: Wir Arbei­ter hatten uns orga­ni­siert und versucht, durch einen Streik eine Lohn­er­hö­hung zu bekom­men. Die Kolle­gen haben mich damals als Spre­cher für den Streik dele­giert und natür­lich war ich dann der erste, der raus­ge­schmis­sen wurde. Nach einem halben Jahr Arbeits­lo­sig­keit habe ich eine Stelle gefun­den, wo ich Lehr­ma­te­rial für tech­ni­sche Ausbil­dun­gen herstel­len sollte. Durch diese Stelle, die mit dem Minis­te­rium für Erzie­hungs­we­sen verbun­den war, hatte ich das Glück, Weiter­bil­dungs­kurse nach der Arbeit besu­chen zu können, um mein Abitur nachzumachen.

Ich bin danach Grund­schul­leh­rer gewor­den, habe aber weiter auf Fern­ba­sis studiert. Mein Ziel war eigent­lich ein Studium in der Sowjet­union aufzu­neh­men und ich habe mich deswe­gen an der poly­tech­ni­schen Univer­si­tät in Kabul bewor­ben, die von der UdSSR aufge­baut wurde. Dort arbei­tete ich als tech­ni­scher Assis­tent an der natur­wis­sen­schaft­li­chen Fakultät.

Es war zu diesem Zeit­punkt, dass die Monar­chie gestürzt wurde. Alle waren eupho­risch. In Afgha­ni­stan glaubte man, der König sei der Schat­ten Gottes: da Gott immer da ist, muss sein Schat­ten auch für immer und ewig da sein. Aber nun war der Schat­ten Gottes weg. Das war an sich ein großer Erfolg, auch einfach auf dieser psycho­lo­gi­schen Ebene.

Eine sowje­ti­sche Lehre­rin mit afgha­ni­schen Studen­ten am Poly­tech­ni­schen Insti­tut in Kabul. (1981)

Und hattest du zu dieser Zeit Kontakt mit der Demo­kra­ti­sche Volks­par­tei Afgha­ni­stans (DVPA)?

Ja, natür­lich. Die Partei war aber noch ille­gal. Wir haben uns heim­lich in Teehäu­sern getrof­fen, um die Partei­ar­beit zu orga­ni­sie­ren. Die Sitzun­gen fanden dort oder bei manchen Genos­sen zu Hause statt. Wir sind immer in Abstän­den von 10 oder 15 Minu­ten zu den Treff­punk­ten ange­kom­men, damit keiner merkte, was los war.

Und wie ist es dann dazu gekom­men, dass du in der Bundes­re­pu­blik Deutsch­land promo­viert wurdest? 

Ich wollte wie gesagt in der Sowjet­union studie­ren, aber die natur­wis­sen­schaft­li­che Fakul­tät, an der ich arbei­tete, hatte eine Part­ner­schaft mit der Univer­si­tät Bonn. Im Rahmen dieser Part­ner­schaft erhielt ich 1974 ein Stipen­dium, um dort zu studie­ren. Doch als ich ankam wurde mir erzählt, dass ich nur ein Prak­ti­kum und nicht eine Weiter­bil­dung machen könnte. Das kam für mich nicht in Frage, weil ein solches Prak­ti­kum in Afgha­ni­stan über­flüs­sig wäre. So habe ich es abge­lehnt und ange­fan­gen, auf eigene Kosten an der Univer­si­tät Marburg zu studie­ren. Ich musste während des Semes­ters und der Ferien arbei­ten, um alles zu finan­zie­ren. Hinzu kam, dass ich für das Aufent­halts­recht kämp­fen musste. Das war Ende 1979, Anfang 1980, also gerade als die sowje­ti­sche Inter­ven­tion in Afgha­ni­stan begon­nen hatte. Die BRD hat mir dann erlaubt, erst mal zu blei­ben, aber ich durfte die kleine Stadt Marburg nicht verlas­sen. Ich wollte eigent­lich in die DDR für eine Weiter­bil­dung, aber ich war letzt­end­lich mit dieser Auswei­sung bedroht und musste mein Studium abschließen.

Als sich der Krieg in Afgha­ni­stan weiter zuspitzte, empfahl mir mein Profes­sor in Marburg zu promo­vie­ren und sagte: „Bis du mit deiner Promo­vie­rung fertig bist, hat dein Land sicher­lich Frie­den. Dann kannst du nach Hause.“ Die Idee fand ich damals gut. Doch irgend­wann war ich mit meiner Promo­vie­rung fertig und Afgha­ni­stan hat bis heute keinen Frieden.

Kommen wir zur Partei zurück: In deinem Buch erwähnst du, dass die DVPA haupt­säch­lich aus Mitglie­dern der Intel­li­genz bestand. Kannst du ihren Klas­sen­cha­rak­ter näher beschrei­ben? Und, vor diesem Hinter­grund, auch die Spal­tung der Partei, die sich kurz nach ihrer Grün­dung vollzog?

Die Partei wurde 1965 in der Ille­ga­li­tät gegrün­det. Dieses Grün­dungs­tref­fen fand im Haus von Nur Muham­mad Taraki [1917–1979] in Kabul statt und Taraki wurde als erster Gene­ral­se­kre­tär der Partei gewählt. Die Mitglie­der und vor allem die Führung bestan­den fast ausschließ­lich aus städ­ti­schen Intel­lek­tu­el­len mit klein­bür­ger­li­chen Eigen­schaf­ten. Es gab in Afgha­ni­stan zu dieser Zeit so gut wie keine Möglich­kei­ten für poli­ti­sche Bildung. Das bedeu­tete, dass die Partei nur vage Vorstel­lun­gen vom Marxis­mus hatten. Das war natür­lich einer der Schwach­punkte unse­rer Partei und ein Ausdruck davon war die Spal­tung der Partei, die zwei Jahre nach ihrer Grün­dung erfolgte.

Die unmit­tel­bare Ursa­che für die Spal­tung war der Kampf um die Führungs­po­si­tio­nen. Es gab eigent­lich nichts zu vertei­len, weil wir in der Ille­ga­li­tät waren, aber jeder wollte seine Führungs­po­si­tion haben. Zwei Grup­pen haben sich schnell gebil­det. Eine Gruppe versam­melte sich um Taraki und Hafi­zul­lah Amin [1929–1979] und wurde Chalqi genannt.2 Die zweite Gruppe bildete sich um Babrak Karmal [1929–1996] und wurde Part­schami genannt.3 Die erste Gruppe war radi­kal aufge­stellt, während die Gruppe um Karmal eine wissen­schaft­lich basierte Stra­te­gie verfolgte.

Die große Debatte war die um die Stra­te­gie der Partei: Was wäre, wenn es in Afgha­ni­stan zu einer Revo­lu­tion käme und wir die Macht über­neh­men würden? Die Chalqi sagten, wir werden gleich mit dem Aufbau des Sozia­lis­mus begin­nen. Die Part­schami hinge­gen sagten, nein, das wird eine natio­nal­de­mo­kra­ti­sche Revo­lu­tion sein. Und weil es eine natio­nal­de­mo­kra­ti­sche Revo­lu­tion sein wird, müssen wir Bünd­nisse schlie­ßen, auch mit der natio­na­len Bour­geoi­sie. Wir müssen sogar die natio­nale Bour­geoi­sie unter­stüt­zen, sodass sie hier­zu­lande inves­tiert und es zur Entste­hung der Arbei­ter­klasse und der Arbei­ter­be­we­gung kommen kann. Das war kurz gesagt der ideo­lo­gi­sche Streit­punkt zwischen den beiden Fraktionen.

Hat die Chalq-Frak­tion die Notwen­dig­keit des nicht­ka­pi­ta­lis­ti­schen Entwick­lungs­we­ges geleugnet?

Nein, das haben sie nicht geleug­net. Keine der beiden Frak­tio­nen leug­nete den nicht­ka­pi­ta­lis­ti­schen Entwick­lungs­weg. Aber die Chalqi behaup­te­ten, die Partei soll die führende Rolle spie­len. Die Part­schami stimm­ten zu, argu­men­tier­ten aber, dass es notwen­dig sei, auf diesem Weg ein Bünd­nis zu schließen.

Im Buch habe ich darge­stellt, wie über die glei­che Frage zu Lenins Lebzei­ten in der Komin­tern gestrit­ten wurde.4 Der Genosse M. N. Roy aus Indien und der Genosse Sultan-Zade aus Iran waren der Meinung, dass in den ehema­li­gen Kolo­nien die Kommu­nis­ti­schen Parteien allein die Macht über­neh­men müssen. Lenin sagte nein, das wäre falsch, weil diese Länder in Rück­stän­dig­keit verhaf­tet sind. Da muss zuerst ein brei­tes, natio­na­les, anti­im­pe­ria­lis­ti­sches Bünd­nis geschlos­sen werden. Und diese Diskus­sion hat sich dann in der DVPA wiederholt.

Übri­gens, in Afgha­ni­stan ging man davon aus, dass 5 % der Werk­tä­ti­gen in der Indus­trie beschäf­tigt waren. Ich arbei­tete ja in einer Fabrik und kannte meine Kolle­gen gut: Jeden Mittag nach dem Essen rief der Muez­zin und sie sind alle zum Gebet gegan­gen. Die afgha­ni­schen Arbei­ter waren zum großen Teil Hand­wer­ker, die aus den Dörfern in die Städte geflüch­tet waren. Die meis­ten waren Analpha­be­ten und hatten gar keine Vorstel­lun­gen vom Sozia­lis­mus, ganz zu schwei­gen vom Klassenbewusstsein.

“Von einer Arbei­ter­klasse in Afgha­ni­stan zu spre­chen war also eine falsche Wahr­neh­mung. Das war reine Theo­rie, es war nur in den Köpfen mancher Genossen.”

Von einer Arbei­ter­klasse in Afgha­ni­stan zu spre­chen war also eine falsche Wahr­neh­mung. Das war reine Theo­rie, es war nur in den Köpfen mancher Genos­sen. Sie rede­ten von der Arbei­ter­klasse, erkann­ten, dass nur 5 % der Werk­tä­ti­gen Prole­ta­rier waren, und irgend­wie sollte das für eine sozia­lis­ti­sche Revo­lu­tion, für eine Dikta­tur des Prole­ta­ri­ats ausreichen.

Wie verstand die Part­scham-Frak­tion die Rolle der DVPA in einem natio­nal­de­mo­kra­ti­schen Staat? Sollte sie eine Arbei­ter­par­tei sein, die eine anti­im­pe­ria­lis­ti­sche Front führt, oder sollte sie eine klas­sen­über­grei­fende Volks­par­tei sein, die die gesamte natio­nale Bewe­gung vertrat?

Die DVPA nannte sich die Vorhut der Arbei­ter­klasse. Auch Karmal sprach eindeu­tig davon in seinen Reden. Sie sagten, wir sind die Partei der Arbei­ter­klasse, aber in unse­rer Stra­te­gie wollen wir ein brei­tes Bünd­nis schaf­fen. Die DVPA wird die führende Rolle spie­len und die Orien­tie­rung geben, aber auf dem Weg brau­chen wir Mitstrei­ter. Und die Mitstrei­ter müssen eigent­lich das gesamte afgha­ni­sche Volk sein, von Bauern und Arbei­tern bis zur natio­na­len Bour­geoi­sie. Die Part­schami argu­men­tier­ten drüber hinaus, dass wir die natio­nale Bour­geoi­sie unter­stüt­zen müss­ten, damit wir uns von der Kompra­doren­bour­geoi­sie und dem auslän­di­schen Kapi­tal befreien könnten.

Eine letzte Frage zur Partei, bevor wir genauer auf die Stra­te­gie des nicht­ka­pi­ta­lis­ti­schen Entwick­lungs­we­ges einge­hen: Welche Verbin­dun­gen hatte die DVPA mit der inter­na­tio­na­len kommu­nis­ti­schen Bewe­gung und dem sozia­lis­ti­schen Lager? Die Mili­tär­of­fi­ziere, die 1973 zum Sturz der Monar­chie beitru­gen und dann auch die April­re­vo­lu­tion von 1978 durch­führ­ten, gehör­ten doch der DVPA an und wurden sogar in der Sowjet­union ausgebildet.

Es gab beim Mili­tär geheime Partei­zir­kel, genauso, wie ich unsere Zivil­zir­kel beschrie­ben habe. Sie orga­ni­sier­ten also ihre eige­nen Partei­grup­pen. Und ja, viele Offi­ziere wurden in der Sowjet­union ausge­bil­det. Aber erst mal zu den Verbin­dun­gen der DVPA zur inter­na­tio­na­len kommu­nis­ti­schen Bewe­gung: Diese Verbin­dung kam eigent­lich über die Tudeh-Partei des Irans zustande. Die kommu­nis­ti­sche Bewe­gung hat die DVPA zunächst nicht aner­kannt, weil sie so zerstrit­ten war. Sie war ja so zerstrit­ten, dass es schon zwei Jahre nach der Grün­dung eine Spal­tung gab. Die Kommu­nis­ti­schen Parteien weiger­ten sich, diese zwei Frak­tio­nen anzu­er­ken­nen und forder­ten, dass sie sich erst eini­gen müssen. Die Tudeh-Partei hat den Auftrag bekom­men, zwischen den Frak­tio­nen zu vermit­teln, um eine Verei­ni­gung zu verhan­deln. Die irani­schen Genos­sen haben es auch geschafft, diese poli­ti­sche Rolle zu spie­len. Als die Partei kurz vor der April­re­vo­lu­tion stark unter Druck gesetzt wurde, hat sie sich nolens volens wieder verei­nigt. Aber allge­mein waren wir eine Schwes­ter­par­tei der inter­na­tio­na­len kommu­nis­ti­schen Bewe­gung. Die Vertre­ter der Partei nahmen auf allen großen Tref­fen der Bewe­gung teil. Sie waren über­all präsent. Auf Tref­fen der KPdSU oder SED, und sogar auf dem Partei­tag der DKP in Mann­heim im Jahr 1978.

Die Verbin­dun­gen zwischen Afgha­ni­stan und der Sowjet­union waren immer sehr eng, auch vor der April­re­vo­lu­tion. Die Russi­sche Sozia­lis­ti­sche Föde­ra­tive Sowjet­re­pu­blik (RSFSR) war das erste Land, das die Unab­hän­gig­keit Afgha­ni­stans von briti­scher kolo­nia­ler Bevor­mun­dung 1919 aner­kannte. Zudem annul­lierte sie sofort alle ungleich­be­rech­tig­ten Verträge mit Afgha­ni­stan und baute quali­ta­tiv neuen Bezie­hun­gen auf. Als ich im Rahmen meiner Doktor­ar­beit die afgha­nisch-sowje­ti­schen Bezie­hun­gen behan­delt habe, habe ich die Briefe zwischen Lenin und dem dama­li­gen König Amanullah abge­druckt. Das sind fast Liebes­briefe… mit welchen Begrif­fen und welchem Voka­bu­lar sie sich gegen­sei­tig über die freund­schaft­li­chen Bezie­hun­gen zwischen dem afgha­ni­schen und dem russi­schen Volk anspre­chen – das ist wirk­lich phänomenal!

II. Der nichtkapitalistische Entwicklungsweg im afghanischen Kontext

Kannst du die sozi­al­öko­no­mi­sche Lage in Afgha­ni­stan Anfang der 1970er schil­dern? Und wie sollte die Stra­te­gie des nicht­ka­pi­ta­lis­ti­schen Entwick­lungs­wegs das Land aus dieser Situa­tion herausführen?

Afgha­ni­stan war ein Agrar­land. Über 80 % der Bevöl­ke­rung lebten auf dem Land. Obwohl sie nur 5 % der länd­li­chen Bevöl­ke­rung ausmach­ten, verfüg­ten die Groß­grund­be­sit­zer über mehr als 50 % des Bodens. Im Norden des Landes mach­ten sie sogar nur 2 % der länd­li­chen Bevöl­ke­rung aus, verfüg­ten aber über 75 % des Bodens. Diesen Groß­grund­be­sit­zern unter­ge­ord­net waren land­arme und land­lose Klein­bau­ern sowie Land­ar­bei­ter. Es gab auch einige staat­li­che land­wirt­schaft­li­che Unter­neh­men, aber die über­wie­gende Mehr­heit der land­wirt­schaft­li­chen Produk­tion war privat.

In den Städ­ten gab es leichte Indus­trie, die teil­weise im Besitz von auslän­di­schem Kapi­tal war. Zum Beispiel gab es ein woll­ver­ar­bei­ten­des Werk aus Wupper­tal. Aber haupt­säch­lich wurde diese Leicht­in­dus­trie von natio­na­lem Kapi­tal, also von afgha­ni­schen Kapi­ta­lis­ten betrie­ben. Neben der Leicht­in­dus­trie operier­ten staat­li­che Kombi­nate in der Schwer­indus­trie. Dort, wo ich arbei­tete, zum Beispiel, war ein staat­li­ches Stahl-Kombi­nat, das dem Minis­te­rium für Indus­trie und Berg­bau ange­hörte. Es wurde von der Sowjet­union aufge­baut und auch von der Sowjet­union unter­stützt. Mein Meis­ter war ein sowje­ti­scher Fachmann.

So war kurz und knapp die ökono­mi­sche Lage. Was die Klas­sen­struk­tur betrifft, habe ich schon erwähnt, dass nur 5 % der Werk­tä­ti­gen in der Indus­trie arbei­te­ten. Der Rest war Klein­bau­ern oder Knechte. Und jetzt, wenn man von dieser Analyse ausgeht, dann stellt sich die Frage: Wie können wir dieses Land weiter­ent­wi­ckeln? Wie soll ein Land, in dem feudale und halb­feu­dale Verhält­nisse herr­schen, zum Sozia­lis­mus gebracht werden? Für uns war klar, es gibt nur einen Weg, nämlich den nicht­ka­pi­ta­lis­ti­schen. Wir lehnen also den Kapi­ta­lis­mus ab, aber erken­nen, dass wir Verbün­dete brau­chen werden. Einer der wich­tigs­ten Verbün­de­ten war, wie ich vorhin gesagt habe, das natio­nale Kapi­tal. Also, wir müssen die natio­nale Indus­trie und die Handels­bour­geoi­sie unter­stüt­zen, um die Entwick­lung der Produk­tiv­kräfte in Afgha­ni­stan voranzutreiben.

Aber vor allem müssen wir für die Besei­ti­gung des Groß­grund­be­sit­zes sorgen. Wir brau­chen also eine Boden­re­form, und dies haben wir auch nach der April­re­vo­lu­tion ange­fan­gen. Das Land der Groß­grund­be­sit­zer sollte auf die land­ar­men und land­lo­sen Bauern und auf die Knechte verteilt werden. Doch wir haben den alten Groß­grund­be­sit­zern genug Land übrig­ge­las­sen, um ein gutes Leben zu führen, sofern sie es selbst bewirt­schaf­ten würden. Aber sie durf­ten nicht mehr die ande­ren Bauern auf ihrem Land ausbeuten.

Die andere zentrale Aufgabe war die Über­win­dung des Analpha­be­tis­mus. In Afgha­ni­stan konn­ten über 90 % der Bevöl­ke­rung weder lesen noch schrei­ben. Bei Frauen war die Zahl noch höher.

Das waren die drei Aufga­ben: Alpha­be­ti­sie­rung, Boden­re­form und Unter­stüt­zung der natio­na­len Bour­geoi­sie im Rahmen eines natio­na­len Bünd­nis­ses. Auf diese Weise würden wir den Weg zum Sozia­lis­mus in Afgha­ni­stan ebnen. Zusam­men­ge­nom­men soll­ten diese Maßnah­men den Prozess beschleu­ni­gen und unsere sozia­lis­ti­sche Orien­tie­rung ökono­misch unter­mau­ern. Durch die Alpha­be­ti­sie­rung und Schu­lung der Menschen soll­ten die subjek­ti­ven Bedin­gun­gen für eine spätere sozia­lis­ti­sche Revo­lu­tion geschafft werden.

Eine Lehre­rin bringt Arbei­tern der Stick­stoff­fa­brik in Mazar-i-Sharif das Lesen und Schrei­ben bei. (Foto: РИА Новости, 1981)

Was heißt das konkret, die natio­nale Bour­geoi­sie und die Handels­bour­geoi­sie zu unter­stüt­zen? Fördert man damit nicht in Wirk­lich­keit eine kapi­ta­lis­ti­sche Entwicklung?

Auch diese Diskus­sion hatte es schon in der Komin­tern gege­ben. Es gibt eine Reihe von Beispie­len, wo Parteien, die aus dem kolo­nia­len Kampf entstan­den sind und nach­her die Macht über­nom­men haben, nicht bereit waren, Bünd­nisse zu schlie­ßen. Sie hatten Angst, dass die natio­nale Bour­geoi­sie, wenn man sie unter­stützt, dadurch stär­ker werden und uns eines Tages verdrän­gen könnte. Aber Lenin sagte, davor brau­chen wir keine Angst zu haben: Wir haben noch die Macht. Wir haben die Regie­rung, das Mili­tär und so weiter. Wir sind es, die die Orien­tie­rung und Lenkung geben, weil wir an der Spitze der natio­na­len Bewe­gung stehen. Die natio­nale Bour­geoi­sie soll im Rahmen dieser Stra­te­gie, die wir entwi­ckelt haben, einge­glie­dert werden. Die Angst war also unbegründet.

Die Folge dieser Angst war, dass die Stra­te­gie des nicht­ka­pi­ta­lis­ti­schen Entwick­lungs­we­ges oft nicht umge­setzt wurde. Und die Parteien, die an die Macht kamen, wurden deswe­gen dikta­to­risch. Schauen wir mal Alge­rien an: Alge­rien war für die Dritte Welt ein Muster­land. Wir haben die alge­ri­sche Verfas­sung in Afgha­ni­stan wie die Bibel oder der Koran gele­sen. Das war für uns ein star­kes Vorbild. Aber was haben die Alge­rier gemacht, nach­dem sie die Macht über­nom­men hatten? Sie haben die natio­nale Bour­geoi­sie und den nicht­ka­pi­ta­lis­ti­schen Entwick­lungs­weg zum Sozia­lis­mus nicht ernst genom­men. Sie haben ein dikta­to­ri­sches Regime installiert.

Man muss geeig­nete Bedin­gun­gen und Struk­tu­ren schaf­fen, damit die Partei und das System auch nach dem Wegfall einzel­ner Führer weiter­le­ben und sich entwi­ckeln können. Dafür muss man die Stra­te­gie des nicht­ka­pi­ta­lis­ti­schen Entwick­lungs­we­ges ernst nehmen und sie entspre­chend umsetzen.

Um auf einen weite­ren Aspekt einzu­ge­hen: Die Unter­stüt­zung der natio­na­len Bour­geoi­sie war für ein Agrar­land wie Afgha­ni­stan notwen­dig, um die Indus­trie zu entwi­ckeln. Mit Bauern allein kann man keine Revo­lu­tion machen. Wir woll­ten eine sozia­lis­ti­sche Revo­lu­tion, aber eine sozia­lis­ti­sche Revo­lu­tion kann nur die Arbei­ter­klasse führen. Und wir woll­ten eine wirk­li­che Arbei­ter­par­tei werden – wir waren wie gesagt eine intel­lek­tu­elle Partei mit klein­bür­ger­li­chen Vorstel­lun­gen. Die Arbei­ter müssen von irgendwo herkom­men. Nur durch das natio­nale Kapi­tal kann die Arbei­ter­klasse entste­hen und sich zu einer Klasse für sich entwi­ckeln. Das war ein Kern­ge­danke dieser Strategie.

III. Die Umsetzung dieser Strategien und die Unterstützung des sozialistischen Lagers

Wenden wir uns den Ereig­nis­sen in Afgha­ni­stan in den 1970er Jahren zu, um diese Stra­te­gien konkret zu unter­su­chen. Fünf Jahre vor der April­re­vo­lu­tion kommt es zum Sturz der Monar­chie durch die der DVPA zuge­hö­ri­gen Offi­ziere. Sie geben die Macht an Moham­med Daoud, ehema­li­ger Minis­ter­prä­si­dent [1953–63] und Schwa­ger des abge­setz­ten Königs. Warum machen sie das? War dies ein Versuch, den natio­nal­de­mo­kra­ti­schen Staat mit Daoud an der Spitze aufzubauen?

Daoud hatte gute Kontakte sowohl zum Mili­tär als auch zur Sowjet­union. Um etwas mehr Kontext zu geben: Afgha­ni­stan ist nach dem Zwei­ten Welt­krieg Teil der block­freien Staa­ten gewor­den. Die afgha­ni­sche Regie­rung hat sich zunächst an die USA gewen­det, um mili­tä­ri­sche und ökono­mi­sche Hilfe zu bekom­men, aber der US-Außen­mi­nis­ter John Foster Dulles verlangte, dass Afgha­ni­stan im Gegen­zug dem Bagdad-Pakt beitre­ten müsse. Die Afgha­nen lehn­ten dies ab und wand­ten sich an die Sowjet­union, die Hilfe ohne Bedin­gun­gen in Bezug auf den Warschauer Pakt anbot. So begann nach dem Krieg die Bildungs‑, Wirt­schafts- und Mili­tär­ko­ope­ra­tion zwischen Afgha­ni­stan und der UdSSR. Das fing alles während Daouds Amts­zeit als Minis­ter­prä­si­dent an und wurde durch ihn inten­si­viert. Da wurde viel in der Land­wirt­schaft und Indus­trie geleis­tet, neben wich­ti­gen Infra­struk­tur­pro­jek­ten. Viele Stra­ßen wurden asphal­tiert und natür­lich der Salang-Tunnel gebaut. Solche Projekte fanden bei der afgha­ni­schen Bevöl­ke­rung großen Anklang.

Daoud genoss also große Popu­la­ri­tät und war sehr bekannt. Die DVPA war hinge­gen zu dieser Zeit kaum bekannt. Zudem hatte Daoud diesen Putsch tatsäch­lich initi­iert. Das Mili­tär half ihm nur bei der Durch­füh­rung. Deshalb wurde er danach natür­lich zum Präsi­den­ten ernannt.

Der 2,5 km lange Salang-Tunnel wurde von der Sowjet­union gebaut und verbin­det den Norden Afgha­ni­stans mit Kabul und den südli­chen Regio­nen. Auf diesem Foto von 1975 hängt ein Porträt von Daoud über dem Eingang.

Doch Daoud erwies sich als dikta­to­risch, er brachte die verspro­che­nen Refor­men nicht zustande, zeigte pro-impe­ria­lis­ti­sche Tenden­zen und versuchte sogar, die DVPA zu vernich­ten. Wie ebne­ten diese Entwick­lun­gen den Weg für die April­re­vo­lu­tion von 1978?

Diese dikta­to­ri­schen Tenden­zen haben sich tatsäch­lich über die Jahre entwi­ckelt. Daouds histo­ri­scher Fehler war, dass er im Früh­jahr 1978 zu offe­nen Repres­sio­nen gegen die Partei­füh­rung der DVPA über­ging. Er ließ Taraki und Karmal verhaf­ten und wollte sie hinrich­ten lassen. In den Abend­nach­rich­ten wurde bekannt­ge­ge­ben, dass die Partei­füh­rung zur Rechen­schaft gezo­gen werde und even­tu­ell liqui­diert werden soll. Das DVPA-zuge­hö­rige Mili­tär griff ein, um die Partei zu retten, sonst wäre sie mit der Führung vernich­tet worden. So provo­zierte Daoud den mili­tä­ri­schen Aufstand, der am 27. April 1978 erfolgte und den wir später die April­re­vo­lu­tion nann­ten. Das Mili­tär befreite die DVPA-Führung aus dem Gefäng­nis und über­gab ihr die Macht – drei Tage später wurde die Demo­kra­ti­sche Repu­blik Afgha­ni­stan ausgerufen.

Im Buch habe ich über die inter­nen Diskus­sio­nen in der Partei zu dieser Zeit speku­liert. Wieder einmal ging es um die unter­schied­li­chen Stra­te­gien der beiden Frak­tio­nen. Die Part­schami ging davon aus, dass die objek­ti­ven und subjek­ti­ven Bedin­gun­gen erst reifen müssen, bevor es zu einer Revo­lu­tion kommen kann. Die Chalqi um Taraki und vor allem Amin mein­ten, dass die DVPA  einfach nur genü­gend Mili­tär­of­fi­ziere für sich gewin­nen müsse, um einen Mili­tär­auf­stand herbei­zu­füh­ren. Amin hat gezielt darauf hinge­ar­bei­tet. Unter den Mitglie­dern des Zentral­ko­mi­tees, die für die Kontakte mit dem Mili­tär zustän­dig waren, kam es zu Konflik­ten. Amin sprach sich immer wieder für den mili­tä­ri­schen Aufstand aus, während die Part­schami dies als Aben­teu­rer­tum ablehn­ten. Amin sollte infol­ge­des­sen von seiner Funk­tion entlas­sen werden.

Ich habe im Buch formu­liert, dass Amin hinter der Ermor­dung von Riva­len und auch eines Regie­rungs­mi­nis­ters zu diesem Zeit­punkt stecken könnte, um Daoud zur Repres­sion gegen die DVPA zu provo­zie­ren. Auf diese Weise hätte Amin eine Recht­fer­ti­gung für die Durch­füh­rung eines mili­tä­ri­schen Aufstan­des gehabt. Ich stütze diese Theo­rie auf seine Reden und ein Geschichts­buch, das er selbst hat schrei­ben lassen. Amin wollte einen Aufstand und er suchte nach einem Vorwand. Der histo­ri­sche Fehler Daouds war, ihm genau das zu geben, indem er die DVPA-Führung verhaftete.

Wie gesagt, Karmal und die Part­schami woll­ten warten, bis die objek­ti­ven und subjek­ti­ven Bedin­gun­gen reif für einen Volks­auf­stand waren. Man kann nur in einer revo­lu­tio­nä­ren Situa­tion eine Revo­lu­tion führen. Sie lehn­ten Amins Vorge­hen als aben­teu­er­lich ab, und in der Tat hätte der mili­tä­ri­sche Aufstand schief gehen können – der Kampf mit Daouds Leuten dauerte zwei Tage.

Wie hat die inter­na­tio­nale kommu­nis­ti­sche Bewe­gung auf diese Entwick­lung reagiert?

Die Parteien waren natür­lich über­rascht. Ich nehme aber an, dass die Führung der KPdSU durch den KGB wusste, was in Afgha­ni­stan los war. Die Sowjet­union hat trotz­dem als erstes Land die DR Afgha­ni­stan aner­kannt und alle ande­ren Länder darauf hinge­wie­sen, dass es keine Einmi­schung in deren inne­ren Ange­le­gen­hei­ten geben darf.

Trotz dieser ungüns­ti­gen Umstände, die die Grün­dung der DR Afgha­ni­stan beglei­te­ten, leitete die DVPA ihre tief­grei­fen­den Refor­men ein. Wie entwi­ckel­ten sich diese Maßnah­men in den Städ­ten und auf dem Land? Welche Schwie­rig­kei­ten traten auf?

In der ersten Phase sind einige Refor­men gut gelau­fen. Inner­halb von sechs Mona­ten haben zum Beispiel 1,5 Millio­nen Menschen Lesen und Schrei­ben gelernt. Aber bei der Boden­re­form gab es Fehler. Man ist zu brutal und unge­schickt mit den Groß­grund­be­sit­zern umgegangen.

Afgha­ni­stan war immer noch von Stam­mes­struk­tu­ren geprägt. Es gab zum Beispiel Bauern, die das Land von ihrem Stam­mes­füh­rer oder Geist­li­chen nicht haben woll­ten. Dann hat man teil­weise durch Zwang diese Land­ver­tei­lung vorge­nom­men. Das war ein Fehler. Man hätte sagen können: Gut, wenn ihr das nicht so machen wollt, dann macht doch eine land­wirt­schaft­li­che Genos­sen­schaft daraus. Dann hat nicht nur der Groß­grund­be­sit­zer das Sagen, sondern ihr alle.

“Die Partei und vor allem wir jungen Mitglie­der woll­ten das Land von heute auf morgen entwi­ckeln. Die revo­lu­tio­näre Geduld, die man haben muss, hatten wir nicht.”

Aber da waren wir zu unge­dul­dig. Diese Unge­duld hatte damit zu tun, dass die Lage in Afgha­ni­stan unglaub­lich schlecht war. 1971/72 gab es eine Dürre­pe­ri­ode und fast 2 Millio­nen Menschen sind ums Leben gekom­men. Die Partei und vor allem wir jungen Mitglie­der woll­ten das Land von heute auf morgen entwi­ckeln. Die revo­lu­tio­näre Geduld, die man haben muss, hatten wir nicht. Wir haben viele Fehler gemacht, die letzt­lich Türen offen­lie­ßen, durch die die Konter­re­vo­lu­tion leicht Zugang hatte.

Dies ist ein entschei­den­des Merk­mal der jungen Natio­nal­staa­ten, denke ich. Das Fort­be­stehen vorfeu­da­ler Verhält­nisse wie Stam­mes­struk­tu­ren macht die Aufga­ben des natio­na­len Aufbaus sehr viel kompli­zier­ter. Es gab zum Beispiel ähnli­che Schwie­rig­kei­ten in Mali, wo die Wider­sprü­che zwischen den verschie­de­nen Klas­sen auf dem Lande zunächst durch patri­ar­cha­li­sche und dörf­li­che Gemein­schafts­struk­tu­ren verschlei­ert wurden. Dies erschwerte die Refor­men auf dem Lande erheb­lich. Die Boden­re­form in den ehema­li­gen Kolo­nien müsste man also als eine quali­ta­tiv andere Aufgabe als die in den osteu­ro­päi­schen Volks­de­mo­kra­tien verstehen.

So ist es. Und hier braucht man natür­lich eine fähige, erfah­rene und gedul­dige Partei.

Ein deut­scher Profes­sor hat mich einmal gefragt, warum der afgha­ni­sche Prozess geschei­tert ist. Ich antwor­tete, dass wenn die afgha­ni­sche Revo­lu­tion Erfolg gehabt hätte, dann wäre die Gesell­schafts­wis­sen­schaft des Marxis­mus falsch, weil wir als DVPA alle Kinder­krank­hei­ten hatten, die es jemals in den kommu­nis­ti­schen Parteien gege­ben hat. So wie es Lenin nannte, wir hatten alle diese Krank­hei­ten – das klein­bür­ger­li­che Sektie­rer­tum war unter uns sehr weit verbrei­tet. Und wir waren uner­fah­ren. Stell dir vor: Die Partei war gerade 18 Jahre alt gewor­den als sie die Macht über­nahm. Wir hatten keine poli­ti­sche Bildung, keine Erfah­rung mit der Demo­kra­tie oder mit einer Revo­lu­tion. Einer solchen Partei die Macht und den Auftrag zu geben, eine Revo­lu­tion durch­zu­füh­ren, das ist wirk­lich kompliziert.

Ende Dezem­ber 1979 wurde Amin gestürzt und die Gruppe um Karmal über­nahm die Führung. Sie haben einige Refor­men gestoppt, die zu weit gegan­gen waren. Einige andere Refor­men wurden verlang­samt und andere fort­ge­setzt. Die Ergeb­nisse waren gemischt. Zum Zeit­punkt der sowje­ti­schen Inter­ven­tion war Afgha­ni­stan bereits wie das Kind, das in den Brun­nen gefal­len war. Die Fehler der Taraki-Regie­rung und vor allem der Amin-Regie­rung hatten die Situa­tion äußerst schwie­rig gemacht. Amin hat ja 12.000 Partei­mit­glie­der umge­bracht – er war ein afgha­ni­scher Pol Pot. Karmal und die Sowjets soll­ten dann dieses Kind aus diesem Brun­nen raus­ho­len. Wir steck­ten bis zum Hals im Schla­mas­sel. Lang­sam wurden Fehler korri­giert und die Situa­tion verbes­sert, aber die Probleme wurden nicht weni­ger – die Unter­stüt­zung für die Konter­re­vo­lu­tion hatte massiv zugenommen.

Kannst du kurz den Umfang und Charak­ter der Hilfe des sozia­lis­ti­schen Lagers für die DR Afgha­ni­stan in diesen Jahren beschreiben?

In Afgha­ni­stan hat man vorher nur Ochsen und Esel gehabt. Zum ersten Mal haben wir Maschi­nen wie Trak­to­ren oder Mähdre­scher gese­hen. Plötz­lich haben wir Tief­brun­nen gehabt. Da wurden auch land­wirt­schaft­li­che Koope­ra­ti­ven aufge­baut, um den Bauern zu ermög­li­chen z.B. diese Maschi­nen zu leihen oder in den koope­ra­ti­ven Läden Lebens­mit­tel sehr billig zu kaufen.

Zuvor hatte kaum jemand einen Kühl­schrank oder einen Fern­se­her. Die Sowjet­union und andere sozia­lis­ti­sche Länder haben massen­weise Sachen zu uns geschickt und man konnte sie für ganz billi­ges Geld kaufen. Als mein Sohn die Liste der Sachen durch­ging, die wir erhal­ten soll­ten, scherzte er zu mir: „Vater, das Einzige, was auf dieser Liste noch fehlt, ist eine Frau!“ Sonst war alles drauf. Hinzu kamen tausende Wissen­schaft­ler und Fach­kräfte aus den sozia­lis­ti­schen Ländern und tausende junge Afgha­nen und Afgha­nin­nen gingen in diese Länder, um Ausbil­dun­gen in allen mögli­chen Fach­rich­tun­gen zu erhalten.

Was die DDR angeht, da hat die SED der DVPA eine komplette Drucke­rei geschenkt. Wir haben vorher Bücher gehabt, die waren krumm und schief, die konnte man kaum lesen. Und durch die DDR beka­men wir eine der moderns­ten Drucke­reien. Hinzu hat die SED eine Gruppe von Genos­sen nach Afgha­ni­stan geschickt, um zu bera­ten, wie man eine Natio­nale Front aufbauen kann. Diese Genos­sen hatten lebens­lang in der Natio­na­len Front der DDR gear­bei­tet und konn­ten ihre Erfah­run­gen vermit­teln. Das war zu der Zeit als die DVPA begon­nen hatte, ihre vergan­ge­nen Fehler zu korri­gie­ren – Amin war schon entmach­tet worden und die Gruppe um Karmal versuchte nun, das natio­nal­de­mo­kra­ti­sche Bünd­nis aufzu­bauen. Die Genos­sen aus der DDR soll­ten dabei unterstützen.

In vielen Berei­chen gab es also massive Unter­stüt­zung durch die sozia­lis­ti­schen Länder, insbe­son­dere bei der Ausbil­dung junger Afgha­nin­nen und Afghanen.

IV. Die Konterrevolutionäre und ihre ausländischen Auftraggeber

Kommen wir nun zum Kampf der DVPA gegen die Konter­re­vo­lu­tion und die damit verbun­dene sowje­ti­sche Inter­ven­tion in Afgha­ni­stan, die Ende Dezem­ber 1979 begann. In deinem Buch zitierst du verschie­dene Quel­len, um zu zeigen, dass die USA spätes­tens im Juli 1979, also sechs Monate vor der sowje­ti­schen Inter­ven­tion, mit der Unter­stüt­zung isla­mi­scher Extre­mis­ten began­nen. Kannst du kurz den Hinter­grund dazu schildern?

Man muss mit dem Freund­schafts­ver­trag zwischen der DR Afgha­ni­stan und der UdSSR begin­nen. Am 5. Dezem­ber 1978 wird dieser Vertrag von beiden Seiten unter­schrie­ben. Der vierte Arti­kel dieses Vertra­ges beinhal­tete eine mili­tä­ri­sche Kompo­nente. Die besagte, dass Afgha­ni­stan im Falle eines Angriffs auf die UdSSR verpflich­tet ist, der UdSSR beizu­ste­hen und umge­kehrt. Also, wenn Afgha­ni­stan von einem frem­den Land über­fal­len wird oder wenn seine Regie­rung von außen gestürzt werden sollte, dann ist die Sowjet­union verpflich­tet, „entspre­chende Maßnah­men zu ergrei­fen“. Das entspricht auch dem Arti­kel 51 der UNO-Char­ter.5 Beide Seiten waren also völker­recht­lich legi­ti­miert und verpflich­tet, gegen­sei­tige Hilfe zu leis­ten, auch mili­tä­risch. Das ist zunächst eine wich­tige Kompo­nente der Bezie­hun­gen zwischen den beiden Ländern.

Im Buch habe ich den dama­li­gen US-Außen­mi­nis­ter Henry Kissin­ger zitiert. Er sagte, dass Afgha­ni­stan keine Schule machen dürfte. Wenn die afgha­ni­sche Revo­lu­tion erfolg­reich sein wird, dann wird sie zu einem Vorbild und die ganze Region wird revol­tie­ren. Dann sind nicht nur die stra­te­gi­schen Inter­es­sen der USA, sondern auch „ihr“ Öl gefähr­det. Also müss­ten sie alles dafür tun, dass diese natio­nal­de­mo­kra­ti­sche Revo­lu­tion schei­tert. Das war eigent­lich eine Kriegs­er­klä­rung seitens des US-Impe­ria­lis­mus mit ihren NATO-Verbün­de­ten gegen Afgha­ni­stan. Und sie haben dann tatsäch­lich diesen Krieg ange­zet­telt und ihn bis 1992 verfolgt, bis der Nach­fol­ger der DVPA kapi­tu­liert.6

Sie haben das Land buch­stäb­lich zerstört. Jähr­lich wurden 65.000 Tonnen Waffen nach Afgha­ni­stan geschickt. Aus über 40 isla­mi­schen Ländern wurden Kämp­fer nach Paki­stan gebracht, ausge­bil­det, und ausge­rüs­tet, und dann über die Grenze nach Afgha­ni­stan geschleust. Bis Ende 1983 gelang es ihnen, 1.800 Schu­len, also die Hälfte aller Schu­len in Afgha­ni­stan, und 130 Kran­ken­häu­ser zu zerstö­ren. Insbe­son­dere Mädchen­schu­len wurden gezielt zerstört. Der Gesamt­scha­den belief sich auf etwa 50 % der gesam­ten Inves­ti­tio­nen des Landes in den voran­ge­gan­ge­nen 20 Jahren.

Die Volks­re­pu­blik China war übri­gens auch dabei. Sie schickte Uigu­ren aus Xinjiang nach Afgha­ni­stan, um mit Unter­stüt­zung der CIA auf der Seite der Isla­mis­ten gegen uns zu kämp­fen. Gulbu­din Hekma­tyar, der radi­kalste Isla­mist und Führer der Isla­mi­schen Partei Afgha­ni­stans, war der Lieb­lings-Mudja­hed der CIA. Ich habe einen Brief von ihm zitiert, in dem er um Exper­ten aus „den befreun­de­ten Ländern USA und China“ bittet, um „unsere Mudja­he­din” in der Anwen­dung der von ihnen gelie­fer­ten Waffen zu schu­len.7 Die Mudja­he­din hatten nämlich Stalin­or­geln aus chine­si­scher Produk­tion erhal­ten und muss­ten lernen, wie man sie bedient. Diese Stalin­or­geln wurden in klei­nere Stücke zerlegt, mit Eseln und Kame­len über die Grenze gebracht und den Isla­mis­ten zum Einsatz gegen uns übergeben.

Zbigniew Brze­zinski besucht einen paki­sta­ni­schen Mili­tär­pos­ten am Khyber-Pass, nahe der afgha­ni­schen Grenze. Hier erkun­digt er sich nach einem in China herge­stell­ten auto­ma­ti­schen AK-47-Sturm­ge­wehr (3. Februar 1980).

War diese auslän­di­sche Unter­stüt­zung am Ende entschei­dend für den Erfolg der Konter­re­vo­lu­tion in Afghanistan?

Nein, entschei­dend war Gorbat­schow. Afgha­ni­stan war Gorbat­schows erstes Geschenk an den Westen. Als der Abzug der sowje­ti­schen Trup­pen beschlos­sen wurde, hat der Komman­deur der sowje­ti­schen Armee, Boris Gromow, gesagt, dass dieser Abzug mili­tä­risch nicht notwen­dig sei. Sie hatten große Erfolge erzielt und hatten große Teile des Landes komplett unter Kontrolle. Gromow argu­men­tierte, dass das Land sich zuneh­mend stabi­li­sie­ren würde. Kabul war ja zu dieser Zeit so fried­lich wie nie zuvor und nie danach. Es war möglich, in der Haupt­stadt ein ganz norma­les Leben zu genie­ßen. Der Abzug war eine poli­ti­sche Entschei­dung und sie wurde von Gorbat­schow getrof­fen. Er hat Afgha­ni­stan an den Westen verschenkt, genauso wie später die DDR.

“Gorbat­schow hat Afgha­ni­stan an den Westen verschenkt, genauso wie später die DDR.”

Ende der 1980er waren die Isla­mis­ten tatsäch­lich fast am Ende. Dies zeigt sich daran, dass das afgha­ni­sche Mili­tär für drei weitere Jahre ohne die sowje­ti­schen Streit­kräfte kämpfte. Es gab drei große Opera­tio­nen der Konter­re­vo­lu­tio­näre aus Paki­stan gegen die DR Afgha­ni­stan und sie waren alle vernich­tend geschla­gen worden – ganz ohne sowje­ti­sche Trup­pen!8 Ich habe an einer Stelle im Buch einen Leit­ar­ti­kel der Frank­fur­ter Allge­meine Zeitung vom Januar 1990 zitiert. Sie war frus­triert, dass die afgha­ni­schen Mudja­he­din nicht in der Lage waren, „eine einzige bedeu­tende Stadt in Afgha­ni­stan zu erobern“.

Wenn also die Sowjets geblie­ben wären und ihre Unter­stüt­zung weiter fort­ge­setzt hätten, dann hätte sich das Land stabilisiert.

Welche Folgen hatte die Inter­ven­tion für die Sowjet­union und die DVPA? Gab es einen signi­fi­kan­ten Verlust an Vertrauen oder Anse­hen in der afgha­ni­schen Bevölkerung?

Die DVPA rich­tete insge­samt 21 Bitt­ge­su­che an die UdSSR, mili­tä­ri­sche Trup­pen zu entsen­den.9 Die Sowjets haben immer gesagt: Nein, das können und werden wir nicht tun. Wir unter­stüt­zen euch ökono­misch, mili­tä­risch, propa­gan­dis­tisch, ideo­lo­gisch, poli­tisch, diplo­ma­tisch – aber kämpft für euch selbst. Die DVPA wollte das aber nicht tun.

Man muss verste­hen: Die NATO wollte diese Inter­ven­tion. Brze­zinski, der natio­nale Sicher­heits­be­ra­ter von US-Präsi­dent Carter von 1977 bis 1981, sagte, wir wollen aus Afgha­ni­stan ein Viet­nam für die Sowjets machen. Gut, die UdSSR hat lange gesagt, dass sie keine Trup­pen entsen­den würden. Warum haben sie es am Ende doch gemacht? Es gibt zwei Gründe.

Erstens, sie wollte zuerst warten, um zu sehen, was die NATO mit der Statio­nie­rung der Pers­hing II Rake­ten, also Erst­schlag­waf­fen in West­eu­ropa macht. Die Sowjets haben versucht, dies zu verhin­dern, sind aber geschei­tert. Der dama­lige Bundes­kanz­ler Helmut Schmidt war der Kopf hinter dieser Aktion. Am 12. Dezem­ber 1979 wurde beschlos­sen, Pers­hing II Rake­ten in West­eu­ropa zu statio­nie­ren. Zwei­tens wurde etwa zur glei­chen Zeit für Januar oder Februar 1980 eine Mili­tär­ope­ra­tion geplant, bei der bewaff­nete Isla­mis­ten mit Fall­schir­men in Kabul abge­setzt werden soll­ten, um die Regie­rung zu stür­zen. Darüber wuss­ten die Sowjets genau Bescheid.

Diese beiden Entwick­lun­gen haben dazu geführt, dass die KPdSU am Tag des NATO-Doppel­be­schlus­ses entschied, eine Spezi­al­ein­heit nach Kabul zu entsen­den. In seiner ersten Stel­lung­nahme gegen­über der sowje­ti­schen Zeitung Prawda sagte Bresch­new, man wolle ein zwei­tes Chile verhin­dern.10 Hinzu kamen stra­te­gi­sche Über­le­gun­gen: Sie könn­ten nicht zulas­sen, dass ein funda­men­ta­lis­ti­scher isla­mi­scher Staat von auslän­di­schen Mäch­ten direkt an der sowje­ti­schen Grenze errich­tet werde. Sie haben also interveniert.

Natür­lich war das für die Sowjet­union eine große Belas­tung. Ihr Anse­hen in Afgha­ni­stan wurde beschä­digt . Durch ihre massive Unter­stüt­zung konnte sie eini­ges wett­ma­chen. Die Sowjets haben vieles geschickt und Tausende junge Menschen ausge­bil­det. In der Endphase ihrer Unter­stüt­zung waren 80 % der Werk­tä­ti­gen im Erzie­hungs- und Gesund­heits­we­sen Frauen. Die Analpha­be­ten­rate unter den afgha­ni­schen Frauen war immer unglaub­lich hoch, aber nach dieser Unter­stüt­zung wurden 80 % der wich­tigs­ten Posi­tio­nen von Frauen über­nom­men. Es gab also eine massive Entwick­lung in dieser kurzen Phase und das darf man nicht vergessen.

Eine Kämp­fe­rin eines Frau­en­ba­tail­lons während der jähr­li­chen Parade zum Jahres­tag der April­re­vo­lu­tion in Kabul. (Foto: Viktor Khaba­rov, 1980)

V. Historische Lehren aus der DR Afghanistan

Was sind die histo­ri­schen Lehren aus der DR Afgha­ni­stan und ihrer Partei, der DVPA?

Als die Sowjet­union damals in Afgha­ni­stan inter­ve­nierte, hat mich eine Gruppe junger Studen­ten in der BRD einge­la­den, um über die Situa­tion zu spre­chen. Eine Genos­sin sagte zu mir: „Es sind jetzt 100.000 sowje­ti­sche Solda­ten dort, warum schickt man nicht noch 100.000 dahin, um dann den Sozia­lis­mus aufzu­bauen.“ Ich antwor­tete: „Der Sozia­lis­mus kann nicht durch das Mili­tär aufge­baut werden. Das Mili­tär hat die Aufgabe, uns vor Angrif­fen von außen und vor einer Konter­re­vo­lu­tion zu schüt­zen, aber der Sozia­lis­mus muss vom Volk, von den Arbei­tern aufge­baut werden.“ Die Arbei­ter­klasse ist die tragende Säule des Sozia­lis­mus. Und in Afgha­ni­stan fehlte genau das. Wir Afgha­nen haben während der Führung von Taraki und Amin die Situa­tion genauso einfach verstan­den wie diese Genos­sin aus der BRD.

Uns fehlte eine exakte gesell­schaft­li­che Analyse der Klas­sen­ver­hält­nisse. Wir hatten keine reale Bestands­auf­nahme der Verhält­nisse in Afgha­ni­stan. Gerade am Beispiel der Boden­re­form: Wir hätten nicht einfach versu­chen sollen, das Land der Groß­grund­be­sit­zer, die gleich­zei­tig Stam­mes- und Geis­tes­füh­rer waren, zu enteig­nen und umzu­ver­tei­len. Wir hätten uns mit dem Groß­grund­be­sit­zer und seinem Stamm zusam­men­set­zen und sagen sollen: „Wir wollen, dass es euch besser geht. Nicht nur dem Stam­mes­füh­rer und dem Geist­li­chen, sondern Euch allen. Wie machen wir das?“ Statt­des­sen haben wir eine sektie­re­ri­sche Poli­tik betrie­ben. Wir sahen die Welt durch unsere eigene Fanta­sie beein­träch­tigt und waren zu weit von der afgha­ni­schen Reali­tät entfernt. Das kann man als Schluss­fol­ge­rung aus der Geschichte der DR Afgha­ni­stan und der DVPA ziehen.

[1] Le Nouvel Obser­va­teur (N.O.), Paris, 15.–21. Januar 1998, S.76. Inter­view von Vincent Jauvert. Über­setzt von Matin Baraki in Afgha­ni­stan „Afgha­ni­stan: Revo­lu­tion, Inter­ven­tion, 40 Jahre Krieg“ (2023), Papy­Rossa Verlag, Köln, S. 233.

 

[2] Nach dem ersten Zentral­or­gan der DVPA.

 

[3] Nach dem eige­nen Organ, das diese Gruppe wöchent­lich heraus­ge­ge­ben hatte.

 

[4] Gemeint ist die Ausein­an­der­set­zung um „die natio­nale und kolo­niale Frage“ beim Zwei­ten Kongress der Kommu­nis­ti­schen Inter­na­tio­nale (1920).

 

[5] Arti­kel 51 lautet: „Diese Charta beein­träch­tigt im Falle eines bewaff­ne­ten Angriffs gegen ein Mitglied der Verein­ten Natio­nen keines­wegs das natur­ge­ge­bene Recht zur indi­vi­du­el­len oder kollek­ti­ven Selbst­ver­tei­di­gung, bis der Sicher­heits­rat die zur Wahrung des Welt­frie­dens und der inter­na­tio­na­len Sicher­heit erfor­der­li­chen Maßnah­men getrof­fen hat. Maßnah­men, die ein Mitglied in Ausübung dieses Selbst­ver­tei­di­gungs­rechts trifft, sind dem Sicher­heits­rat sofort anzu­zei­gen; sie berüh­ren in keiner Weise dessen auf dieser Charta beru­hende Befug­nis und Pflicht, jeder­zeit die Maßnah­men zu tref­fen, die er zur Wahrung oder Wieder­her­stel­lung des Welt­frie­dens und der inter­na­tio­na­len Sicher­heit für erfor­der­lich hält.“

 

[6] Im Juli 1990 wurde die DVPA in Hesbe Watan (Partei der Heimat) umbe­nannt und sozi­al­de­mo­kra­ti­siert. Laut Baraki beschloss die Führung um Außen­mi­nis­ter Abdul Wakil nach dem Rück­tritt des Partei­vor­sit­zen­den Moham­mad Naji­bullah im März 1992, die Macht den Konter­re­vo­lu­tio­nä­ren zu über­tra­gen – d.h. es fand keine Macht­er­grei­fung durch die Konter­re­vo­lu­tio­näre statt, sondern eine Macht­über­gabe an diese.

 

[7] Vgl. Matin Baraki: Die Poli­tik der VR China gegen­über Afghanistan.

 

[8] Gemeint sind z.B. Dscha­lal­abad (März 1989), Kabul (Okto­ber 1990), die Stadt Chost in der Provinz Paktya (März 1991) und Dscha­lal­abad (Juli 1991).

 

[9] Im Anhang von Bara­kis Buch sind einige Proto­kolle dieser Tref­fen und Kommu­ni­ka­tio­nen dokumentiert.

 

[10] Im Septem­ber 1973 wurde die sozia­lis­ti­sche Regie­rung der Unidad Popu­lar in Chile durch einen von den USA unter­stütz­ten Putsch gestürzt.

Das Inter­view wurde am 10. Mai 2023 durch­ge­führt und wurde zur besse­ren Lesbar­keit leicht bearbeitet.

Schreibe einen Kommentar