Portugal 1974: Erinnerungen an die Nelkenrevolution vor 50 Jahren

John Green

25. April 2024

Der 1. Mai in Lissa­bon, 1974 (Foto: John Green).

John Green studierte in den 1960er Jahren in der Deut­schen Demo­kra­ti­schen Repu­blik Film und Foto­gra­fie. Er kehrte 1968 in sein Heimat­land, das Verei­nigte König­reich, zurück und arbei­tete als Auslands­kor­re­spon­dent für das DDR-Fern­se­hen. Green und seine Kolle­gen gehör­ten zur soge­nann­ten “Gruppe Katins” des DDR-Fern­se­hens, einem Korre­spon­den­ten­team, das von der ange­se­he­nen ostdeut­schen Redak­teu­rin Dr. Sabine Katins gelei­tet wurde. Nach der Nelken­re­vo­lu­tion von 1974 berich­te­ten sie mehrere Jahre lang über die Ereig­nisse in Portu­gal und dreh­ten insge­samt 10 Doku­men­tar­filme. Sie sende­ten auch Repor­ta­gen über die Befrei­ungs­kämpfe in Mosam­bik, Angola, Simbabwe, Nami­bia und Südafrika.

Am Morgen des 25. April 1974 wurde die Welt von der Nach­richt über­rascht, dass die älteste Dikta­tur Euro­pas in Portu­gal gestürzt worden war. Mein Kollege und ich wurden als Jour­na­lis­ten des DDR-Fern­se­hens entsandt, um über die laufen­den Ereig­nisse zu berichten.

Wir lande­ten am Morgen des 27. auf dem Flug­ha­fen von Lissa­bon, pack­ten sofort unsere Kamera aus und began­nen zu foto­gra­fie­ren. Von nun an legten wir die Kamera erst ab, wenn wir spät­abends ins Bett gingen. Schon auf dem Flug­ha­fen herrschte eine aufge­regte Stim­mung: Große Grup­pen von Menschen warte­ten auf die Ankunft ihrer Ange­hö­ri­gen, von denen viele jahre­lang wegen der Dikta­tur im Exil lebten. Es gab stür­mi­sche Umar­mun­gen, Lachen und Freudentränen.

Das Zentrum von Lissa­bon war über­schwemmt mit Blumen, an jeder Stra­ßen­ecke jubel­ten Menschen­men­gen. Solda­ten und Matro­sen stan­den vor öffent­li­chen Gebäu­den Wache, nicht etwa in bedroh­li­cher Manier, sondern lässig und entspannt, rote Nelken im Revers oder in den Läufen ihrer Gewehre, die nun von Tötungs­werk­zeu­gen zu Blumen­va­sen umfunk­tio­niert wurden. Sie wurden stän­dig von den Bürgern umarmt, die sie mit Blumen und Küssen, Geträn­ken und Essen über­schüt­te­ten. Ich habe noch nie eine Armee gese­hen, die so sehr mit dem Volk verschmol­zen war. Ein junger Wehr­pflich­ti­ger sagte uns: “Ja, wir haben jetzt eine Einheit von Volk und Streit­kräf­ten, und wir müssen dafür sorgen, dass niemand diese Einheit zerstört.”

John filmt die portu­gie­si­schen Offi­ziere, die die Nelken­re­vo­lu­tion anführ­ten, 1974 (Foto: John Green).

Jede Stra­ßen­ecke, jedes Büro und jede Fabrik wurde zu einem Bienen­stock revo­lu­tio­nä­rer Akti­vi­tä­ten. Poli­ti­sche Gefan­gene, die zum Teil seit Jahren in den berüch­tig­ten Gefäng­nis­sen des Dikta­tors Caet­ano schmach­te­ten, wurden in die Arme ihrer über­glück­li­chen Fami­lien entlas­sen; das Haupt­quar­tier der Geheim­po­li­zei, die Radio­sen­der und die Regie­rungs­ge­bäude befan­den sich nun in den Händen der aufstän­di­schen Solda­ten, Gewerk­schaf­ten wurden wieder gegrün­det, Wohnungs­bau­ge­sell­schaf­ten und Bürger­ko­mi­tees ins Leben geru­fen, und poli­ti­sche Parteien schos­sen wie Pilze aus dem Boden. Ich empfand instink­tiv die Paral­le­len zur bolsche­wis­ti­schen Revo­lu­tion von 1917, wie sie John Reed in “10 Tage, die die Welt erschüt­ter­ten” beschreibt. Es herrschte ein spür­ba­res Gefühl der Eintracht und Brüder­lich­keit, der wieder­ge­won­ne­nen natio­na­len Würde, und alle feier­ten gemeinsam.

Diese Revo­lu­tion war nicht in Portu­gal allein ein Grund zum Feiern, sondern viel­leicht sogar noch mehr für die portu­gie­si­schen Kolo­nien, wo sich nach Jahren des bruta­len und uner­bitt­li­chen Kamp­fes die Menschen schon bald frei fühlen würden. Und man darf nicht verges­sen, dass die Nelken­re­vo­lu­tion in Portu­gal selbst weit­ge­hend auf den zuneh­men­den Erfol­gen der Befrei­ungs­kräfte in diesen Kolo­nien beruhte.

Zwischen 1961 und 74 führte Portu­gal in seinen afri­ka­ni­schen Kolo­nien einen Zermür­bungs­krieg. Neben Frank­reich war Portu­gal das einzige euro­päi­sche Land, das weiter­hin an seinen über­see­ischen Kolo­nien in Angola, Mosam­bik, Guinea-Bissau und den Kapver­di­schen Inseln in Afrika, Goa in Indien und Macau in China festhielt.

Portu­gal, sich im Griff einer faschis­ti­schen Dikta­tur befin­dend, war entschlos­sen, seine Kolo­nien zu behal­ten, auch wenn dies das Mutter­land ausblu­ten ließ. Auf ihrem Höhe­punkt verschlan­gen die Kriege bis zu 40 Prozent des portu­gie­si­schen Staats­haus­halts. Auch in Bezug auf die verlo­re­nen Menschen­le­ben waren sie kost­spie­lig. Die obli­ga­to­ri­sche Einbe­ru­fung junger Männer in die Armee ging einher mit zwei­jäh­ri­gen Pflicht­ein­sät­zen in Afrika. Neben vielen einfa­chen Solda­ten verlor auch eine beträcht­li­che Anzahl junger Offi­ziere ihr Leben in Krie­gen, die weit­hin als nicht gewinn­bar ange­se­hen wurden, was im eige­nen Land zu wach­sen­dem Wider­stand gegen die Kriege führte. Inner­halb der Armee machte sich Unzu­frie­den­heit breit, die schließ­lich zum Sturz eines unnach­gie­bi­gen und verknö­cher­ten Regimes im Mutter­land führte.

Die Befrei­ungs­kämpfe in Mosam­bik, Angola und Guinea-Bissau entwi­ckel­ten sich sehr effek­tiv und führ­ten zu einem wirt­schaft­li­chen Ader­lass in Portu­gal, der dem Land echte Kopf­schmer­zen berei­tete. Die bewaff­ne­ten Kräfte der FRELIMO in Mosam­bik, der MPLA in Angola und der Afri­ka­ni­schen Partei für die Unab­hän­gig­keit in Guinea und Kap Verde (PAIGC) wurden alle von sehr fähi­gen Führern gelei­tet. Diese Gueril­la­kräfte wurden von den sozia­lis­ti­schen Staa­ten, insbe­son­dere der Sowjet­union und der DDR, mit Waffen und Ausbil­dung unterstützt.

Bauern in Beja fordern eine Agrar­re­form, 1974 (Foto: John Green).

Im Februar 1974 beschloss der portu­gie­si­sche Dikta­tor Caet­ano, Gene­ral Spinola aus dem Kommando der portu­gie­si­schen Streit­kräfte in Guinea-Bissau zu entfer­nen, da dieser seine Unzu­frie­den­heit mit der portu­gie­si­schen Kolo­ni­al­po­li­tik und der Mili­tär­stra­te­gie des Regimes immer deut­li­cher zum Ausdruck brachte. Dies veran­lasste andere Mili­tär­of­fi­ziere zur Grün­dung der gehei­men Bewe­gung der Streit­kräfte (MFA) mit dem Ziel, Portu­gal von dem faschis­ti­schen Regime des Estado Novo zu befreien und die notwen­di­gen Refor­men einzuleiten.

Nur ein Jahr vor der Nelken­re­vo­lu­tion hatte ich eine Repor­tage in Mosam­bik gedreht und aus erster Hand die Demo­ra­li­sie­rung der portu­gie­si­schen Streit­kräfte miter­lebt, die sich bereits auf kleine Stütz­punkte beschränk­ten und kaum noch Kontrolle über das Umland hatten. Ich stellte auch fest, dass die von den Portu­gie­sen verwen­de­ten Waffen als NATO-Liefe­run­gen gekenn­zeich­net waren, eine Tatsa­che, die seiner­zeit nie offen­ge­legt wurde.

Nur wenige Tage nach dem 25. April besuch­ten wir das ehema­lige Lissa­bon­ner Haupt­quar­tier der PIDE, der Geheim­po­li­zei. Im Büro von Silva Pais, dem Sicher­heits­chef, lag sein Tage­buch am 25. noch offen da, seine Papiere wurden von einem riesi­gen Gipspe­nis nieder­ge­hal­ten, eine halb ausge­trun­kene Flasche Johnny Walker stand neben zwei schmut­zi­gen Gläsern. Im Bücher­re­gal hinter seinem Schreib­tisch gab es eine Auswahl von Büchern, darun­ter ein Buch von Regis Debray über Che Guevara, Wälzer über die Geschichte der UdSSR, den Kommu­nis­mus in Afrika, eine Batista-Auto­bio­gra­phie und eine Reihe von Büchern über Kuba, was deut­lich die Beschäf­ti­gung der Geheim­dienste mit den Befrei­ungs­kämp­fen zum Ausdruck brachte.

Die Kommu­nis­ti­sche Partei war die einzige Partei, die während der gesam­ten Dikta­tur im Land exis­tierte, und sie war zu diesem Zeit­punkt die am besten orga­ni­sierte poli­ti­sche Kraft im Lande.

Das erste Büro der PCP wurde 1974 in der Stadt Barreiro eröff­net (Foto: John Green).

Der aus dem Moskauer Exil zurück­ge­kehrte Kommu­nis­ten­füh­rer Álvaro Cunhal und der aus Paris zurück­ge­kehrte Sozia­lis­ten­füh­rer Mário Soares stan­den Seite an Seite mit Solda­ten der MFA (Bewe­gung der Streit­kräfte). Für kurze Zeit sah es so aus, als würde die Nelken­re­vo­lu­tion zu einer sozia­lis­ti­schen Revo­lu­tion werden.

Führende west­li­che Staa­ten waren jedoch entsetzt über die Vorstel­lung, dass Portu­gal, ein NATO-Part­ner, sozia­lis­tisch werden könnte — die Caet­ano-Dikta­tur war ein treues Mitglied der NATO gewe­sen, und das südat­lan­ti­sche Haupt­quar­tier der Orga­ni­sa­tion hatte seinen Sitz in Portugal.

Die Sozia­lis­ti­sche Partei von Mário Soares, erst im Jahr zuvor in West­deutsch­land gegrün­det, war zu diesem Zeit­punkt noch recht klein und unbe­deu­tend, aber für viele stellte sie eine schmack­haf­tere Alter­na­tive zu den Kommu­nis­ten dar. Soares versprach den Menschen einen “Sozia­lis­mus mit mensch­li­chem Antlitz”, als seine Partei jedoch an die Macht kam, gab sie den Menschen nur eine weitere Dosis der glei­chen wirt­schaft­li­chen Spar­me­di­zin, die sie seit Jahr­zehn­ten zu schlu­cken gezwun­gen waren.

Aus den ersten freien Wahlen zur verfas­sungs­ge­ben­den Versamm­lung von 1975 ging die Sozia­lis­ti­sche Partei als stärkste Partei hervor und hatte von nun an das Sagen.

Hinzu kam die wirt­schaft­li­che Sabo­tage seitens der mäch­ti­gen kapi­ta­lis­ti­schen Natio­nen sowie Portu­gals eige­ner herr­schen­der Klasse. Neuer US-Botschaf­ter wurde Frank Carlucci, der ihr Mann im Kongo gewe­sen war, als Lumumba 1961 ermor­det wurde, und in Brasi­lien vor dem Mili­tär­putsch und der bluti­gen Unter­drü­ckung der Demo­kra­tie dort. Er tat sein Äußers­tes, um sicher­zu­stel­len, dass Portu­gal fest im kapi­ta­lis­ti­schen Lager blieb.

John und seine Kolle­gen bei der Bericht­erstat­tung über den 1. Mai in Lissa­bon, 1975 (Foto: John Green).

Mário Soares wurde 1976 der erste zivile Premier­mi­nis­ter und 1986 Präsi­dent. Er präsi­dierte glück­lich über ein Land, das noch fest kapi­ta­lis­tisch und wirt­schaft­lich kaum besser gestellt war als in der Vergan­gen­heit, obwohl es nun eine plura­lis­ti­sche und stabile bürger­li­che Demo­kra­tie hatte.

Leider bedeu­tete die nomi­nelle Befrei­ung der afri­ka­ni­schen Kolo­nien Portu­gals nicht das Ende der Unter­drü­ckung. Als Portu­gal seine Nieder­lage einge­stand und seine Trup­pen zurück­zog, folgte kurz darauf der Abzug prak­tisch des gesam­ten Verwal­tungs- und Hilfs­per­so­nals aus den Kolo­nien, so dass diese ohne das drin­gend benö­tigte Fach­wis­sen dastan­den. Vor allem Angola und Mosam­bik waren später auch der ekla­tan­ten Einmi­schung und Sabo­tage durch die impe­ria­lis­ti­schen Mächte und ihre loka­len Stell­ver­tre­ter, Südafrika und Rhode­sien (wie Simbabwe damals hieß), ausge­setzt. Diese Inter­ven­tio­nen kamen die neu befrei­ten Länder teuer zu stehen, und trotz der fort­ge­setz­ten groß­zü­gi­gen Hilfe aus den sozia­lis­ti­schen Ländern waren diese ersten Jahre nach der Unab­hän­gig­keit Jahre erbit­ter­ten und anhal­ten­den Kampfes.

Wir haben mit John Green im Septem­ber 2021 ein Inter­view geführt. Im folgen­den Auszug erin­nert er sich an die Bericht­erstat­tung über die Revo­lu­tion und wie der Westen inter­ve­nierte, um eine soziale Revo­lu­tion in Portu­gal zu verhindern.