9 November 2022
Matthew Read
Es ist über hundert Jahre her, dass sich im November 1918 Tausende von Soldaten und Arbeitern gegen die herrschende Ordnung des Deutschen Kaiserreichs erhoben. Die revoltierenden Massen erreichten damals das, was ihren Großeltern 70 Jahre zuvor nicht gelungen war: den Sturz der Monarchie und die Beseitigung der Fürstenherrschaft. Aber ähnlich wie dem Revolutionsmärz 1848 wurde auch dem Revolutionsnovember durch rückschrittliche Kräfte Einhalt geboten. Die Revolution von 1918/19 blieb in ihrer Anfangsphase stecken, als die Mehrheits-SPD ein Bündnis mit dem reaktionär-kaiserlichen Militär einging und die revolutionären Kräfte im Land niederschlug. Mit der Waffe setzte die SPD ihre reformistischen Auffassungen durch: Die Arbeiterklasse sollte den Sozialismus nicht durch die Errichtung eigener Staatsapparate erreichen, sondern durch den Eintritt in den bestehenden Staat, durch den Kampf für Reformen innerhalb des bürgerlichen Parlaments.
So entstand die Weimarer Republik, deren Verfassung nur so weit ging, eine formale politische Demokratie zu sichern. Im Namen der „Gewaltenteilung“ wurde die Legislative einer demokratischen Legitimation unterworfen, die Verwaltung und die Justiz aber blieben in der Hand der alten kaiserlichen Bürokratie. Gleichzeitig gelang es den reaktionären Kräften – trotz begrenzter Zugeständnisse wie dem 8‑Stunden-Arbeitstag, der Einführung von Betriebsräten und dem Wahlrecht für Frauen – ihre wirtschaftliche und soziale Machtstellung zu wahren. So behielten die Bourgeoisie die Industrien, die Junker ihren Landbesitz und das Militär seinen Status als „Staat im und über dem Staat“. Diejenigen, die den Ersten Weltkrieg in Gang gesetzt hatten, um den deutschen Monopolen gewaltsam eine Führungsposition in Europa zu sichern, blieben in ihren Schlüsselpositionen, was es ihnen ermöglichte, zwei Jahrzehnte später die deutsche Kriegsmaschinerie erneut zu mobilisieren, um ihre „Verluste“ von 1918 rückgängig zu machen.
Wir haben den Jahrestag der Novemberrevolution zum Anlass genommen, uns mit den Debatten innerhalb der Arbeiterbewegung nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges zu beschäftigen. Es wurde uns erneut deutlich gemacht, dass man die Geschichte und Kontinuität der deutschen Arbeiterbewegung verstehen muss, wenn man die Entstehung und Entwicklung der DDR nachvollziehen und historisch einordnen will.
Mit der Kapitulation des faschistischen Deutschlands wurde die Frage, wie die Fehler der Vergangenheit vermieden werden können, zu einem entscheidenden Thema innerhalb der SPD und der KPD. Ein zentraler Moment dieser Debatten war die kritische Reflexion der Rolle der SPD-Führung in der Novemberrevolution. Otto Grotewohl, der in den Weimarer Jahren Reichstagsabgeordneter der SPD und zeitweise Volksbildungs- und Justizminister und nun Vorsitzender der SPD in der Sowjetischen Besatzungszone war, wurde zu einer Schlüsselfigur und leitete einen Prozess des Umdenkens in seiner Partei ein. In seinem Werk „Dreißig Jahre Später“ von 1948 legte Grotewohl die kritische Analyse der Ereignisse von 1918/19 dar:
„Heute wie damals wird von führenden Vertretern der Sozialdemokratie die Bedeutung der formalen Demokratie überschätzt und dabei übersehen, dass solange die Klassenverhältnisse nicht geändert, die Machtverhältnisse in Staat und Gesellschaft nicht gründlich umgestaltet sind, die Demokratie nur eine Tarnkappe für die alten reaktionären Mächte ist, die beiseite geworfen wird, sobald Monopolkapitalisten und Junker die Zeit dafür reif halten.” (Otto Grotewohl: Dreißig Jahre später, Dietz-Verlag, Berlin, 1948, S. 10)
Grotewohl argumentierte, dass die unentschlossene Demokratisierung Deutschlands nach der Novemberrevolution das Aufkommen des Faschismus ermöglichte:
„Der grundliegende Mangel dieser ‚Demokratie‘ bestand eben darin, dass sie gar keine wahre Demokratie war, kein wahrer Volksstaat, der den Massen des Volkes auch nur die Möglichkeit gewährt hätte, sich wirkungsvoll der aufsteigenden Diktatur zu widersetzen; denn wesentliche – ja, wir können heute sagen die wesentlichsten – Zweige der staatlichen Machtausübung lagen gar nicht in den Händen des Volkes, sie wurden in Funktion gesetzt und arbeiteten ohne oder jedenfalls fast ohne Kontrolle des Volkes.” (Grotewohl: Dreißig Jahre später, S. 106)
Diese „Mängel“ der Weimarer Republik entsprangen letztlich dem Staatsverständnis der SPD-Führung. Sie fasste den Staat als eine neutrale Institution auf, als etwas, das über den Klassen steht, und nicht als Instrument der herrschenden Klasse:
„Für die Revolution musste sich [diese Auffassung] tödlich auswirken, denn ihre Konsequenz war nicht Kampf gegen den Staat, Bruch des Staates, sondern unter dem Motto seiner ‚Ausnutzung‘ und der Sicherung von ‚Ruhe und Ordnung‘ führte sie faktisch zur Beugung der Arbeiterklasse unter den Staat. War aber die Frage der Zertrümmerung des alten Staats nicht von Anbeginn als die zentrale Frage der Revolution gestellt, so war der Kampf verloren, bevor er überhaupt begonnen hatte.“ (Grotewohl: Dreißig Jahre später, S. 128)
Die historische Lehre für Grotewohl und seine Mitstreiter war klar. Nach 1945 musste gelingen, was 1918 nicht gelungen war: die vollständige Enteignung der Kriegstreiber, die Zerschlagung des alten Staatsapparates und des Beamtentums sowie der Aufbau neuer, demokratischer Apparate der Verwaltung, Polizei, Justiz und Bildung. Mit der Vereinigung von SPD und KPD und dem Bündnis mit den anderen Kräften des antifaschistischen Blocks und der Sowjetischen Militärverwaltung begann die demokratische Umwälzung in Ostdeutschland.
Angesichts der Nachkriegszerstörung, der Reparationszahlungen und der Spaltungspolitik des Westens war dies ein schwieriger und widersprüchlicher Prozess. Er markierte jedoch den Kulminationspunkt des revolutionären Prozesses, der 30 Jahre zuvor, im November 1918, begonnen hatte. Es ist dies auch der Punkt, der die entschieden gegensätzliche Entwicklung West- und Ostdeutschlands nach Kriegsende, mit der Zäsur der beiden Staatsgründungen im Jahr 1949, bis 1990 markiert: In der Bundesrepublik sorgten unter Nichtantastung der bestehenden Eigentumsverhältnisse die bürgerlichen Parteien mit Rückhalt der Westmächte dafür, dass der alte Staat restauriert wurde, und die westdeutsche SPD führte die Arbeiterklasse weiter mit der Ansicht in die Irre, der Sozialismus könne durch parlamentarische Reformen erreicht werden (wobei sie selbst diese Illusion im Godesberger Programm von 1959 aufgab). In der DDR hingegen wurde der konsequente Bruch mit der Vergangenheit vollzogen. Sie verkörperte einen neuen Staat – einen Staat, der sich nicht auf die aristokratischen oder kapitalistischen Klassen, sondern auf die Macht der Arbeiter und Bauern stützte. Dies war die historische Leistung derjenigen, die aus ihren früheren Irrtümern gelernt hatten. Wie es Grotewohl sagte, „Man muss den Mut haben, Fehler der Vergangenheit zu begreifen, zu verstehen und richtig zu analysieren“.
1 Gedanke zu „Artikel: Die historischen Lehren aus der November Revolution“
Vielen Dank fur diese artikel. Ich habe in der damaligen DDR philosophie studiert. Ich freue mich dass sie uber die geschichte der DDR schreiben. Es ist sehr wichtig, dass junge leute Darüber lernen, besonderes Jetzt als die kapitalisten Schön wieder den faschismus benutzen um Ihre economische und Politische macht uber die arbeitenden massen nutze.