„Das war für mich ein Signal!“

Inter­view mit einer chile­ni­schen Emigran­tin und einer ehema­li­gen DDR-Bürge­rin über die Unidad Popu­lar und den Putsch gegen sie, über die Flucht aus Chile und das Leben in der DDR

25. Septem­ber 2023

Plakat zum Film “Ich war, ich bin, ich werde sein” von Heynow­ski & Scheu­mann (1974)

Einführung

Vor 53 Jahren trat das Partei­en­bünd­nis Unidad Popu­lar nach der Wahl Salva­dor Allen­des zum Präsi­den­ten an, die Verhält­nisse in Chile grund­le­gend zu ändern: Ein 40-Punkte-Programm zielte darauf ab, dass kein Bürger mehr hungern oder obdach­los sein sollte, jedes Kind zur Schule gehen kann und die aus der Rohstoff­för­de­rung erwirt­schaf­te­ten Profite in Zukunft den Chile­nin­nen und Chile­nen zugu­te­kom­men soll­ten. Drei Jahre später wurden das Bünd­nis und sein Präsi­dent durch einen vom Gene­ral Augusto Pino­chet ange­führ­ten Mili­tär­putsch gestürzt. Was folgte, waren Jahre einer faschis­ti­schen Dikta­tur, die Vertre­te­rin­nen und Vertre­ter aller Strö­mun­gen des Bünd­nis­ses gezielt und unnach­gie­big verfolgte, in Lager sperrte, folterte und tötete.

Selbst 50 Jahre nach dem Mili­tär­putsch blei­ben Vermisste unauf­ge­fun­den, gera­ten weitere Verstri­ckun­gen des Westens in den Putsch ans Licht. Wie viele Insti­tu­tio­nen dieser Tage möch­ten wir an das unab­ge­schlos­sene Projekt der Unidad Popu­lar und an die inter­na­tio­nale Soli­da­ri­tät mit ihm erin­nern. Dafür haben wir die Erleb­nisse zweier Frauen zusam­men­ge­tra­gen, deren unter­schied­li­che Perspek­ti­ven – als chile­ni­sche Emigran­tin und als enga­gierte DDR-Bürge­rin – unmit­tel­ba­ren Einblick in die Zeit geben und so eine gemein­same Geschichte erzählen.

Nancy Lare­nas lebte bis zum Putsch 1973 in der chile­ni­schen Küsten­stadt Valpa­raíso. Als akti­ves Mitglied der Bünd­nis­par­tei MAPU / OC (Movi­mi­ento de Acción Popu­lar Unita­ria / Obrero Campe­sino, Bewe­gung der Unitaren Volks­ak­tion / Arbei­ter Bauern), betei­ligte sie sich an der Umset­zung des Programms der Unidad Popu­lar, wurde nach dem Putsch am 11. Septem­ber verfolgt und musste aus dem Land flie­hen. Ihr Weg führte sie über Sant­iago in die BRD, nach Kuba und schließ­lich in die DDR. Gudrun Mert­schenk, gebo­ren 1954, studierte Geschichte und spezi­ell die chile­ni­sche Gewerk­schafts­be­we­gung CUT. Sie stand im Austausch mit Chile­nen in der DDR u.a. über ihre Arbeit bei der Inter­na­tio­na­len Verei­ni­gung der Lehrer­ge­werk­schaf­ten (FISE), wo sie sich für Chile enga­gierte und dafür vom „Büro Chile Anti­fa­scista“ ausge­zeich­net wurde.

Hoffnung in die Unidad Popular

Auch wenn Allende selbst diesen Weg expli­zit ausschloss, wirkte die kuba­ni­sche Revo­lu­tion doch wie ein Fanal für linke Kräfte in Latein­ame­rika, so auch für Nancy:

„Ich persön­lich und die Jugend Chiles haben unter dem Eindruck des Siegs der kuba­ni­schen Revo­lu­tion gese­hen, dass es möglich ist, unsere Zukunft selbst in der Hand zu haben und nicht für immer unter dem Druck des US-Impe­ria­lis­mus zu leben.

 

In den 1960er Jahren kommt zwar ein Schwung durch die demo­kra­ti­sche Bewe­gung in Chile auf, aber die Bedin­gun­gen waren poli­tisch andere. 1964 wurde Eduardo Frei von der Christ­de­mo­kra­ti­schen Partei Chiles zum Präsi­den­ten gewählt. Diese Regie­rung hat z.B. ange­fan­gen die Agrar­re­form durch­zu­füh­ren. Dass das ging, hing damit zusam­men, dass die Verfas­sung von 1925 einige Lücken hatte. Durch diese Lücken in der Verfas­sung hatte auch die Regie­rung Allen­des eine Verän­de­rung bewirkt, z.B. die Natio­na­li­sie­rung des Kupfers und die Vertie­fung der Agrar­re­form. Das war die dama­lige Situa­tion, und wir haben uns mit all unse­rer Kraft in diese Bewe­gung gestürzt.

 

Die Unidad Popu­lar machte aber ein Programm für soziale Gerech­tig­keit auf Grund­lage der bestehen­den bürger­li­chen Demo­kra­tie, also ganz anders als in Kuba. D.h. wir haben nur die Exeku­tiv­macht durch den Präsi­den­ten gewon­nen, aber nicht die Abge­ord­ne­ten, die Sena­to­ren, die Justiz sowieso nicht und die Armee auch nicht.“

Der Sieg des UP-Kandi­da­ten Salva­dor Allende bei den Präsi­dent­schafts­wah­len am 04. Septem­ber 1970 war für Nancy zwar „eine Hoff­nung, das erste Mal! Aber wir haben nicht die Mehr­heit gehabt, nur 36%. Dass Salva­dor Allende in die Regie­rung kam, wurde am 24. Okto­ber 1970 im Parla­ment bei einer Stich­wahl entschie­den. Die Christ­de­mo­kra­ti­sche Partei, die teil­weise bei der Agrar­re­form noch eine fort­schritt­li­che Seite hatte, unter­stützte die UP zuerst. Aber danach, beim Putsch, da haben sie mitge­macht. Deswe­gen sagen wir auch golpe civico mili­ta­rio, denn es war nicht nur das Mili­tär dabei, sondern auch zivile Kräfte.“

Mit dem Wahl­sieg der UP waren nicht nur in Chile selbst große Hoff­nun­gen verbun­den – im gesam­ten sozia­lis­ti­schen Lager wurden die Ereig­nisse mit großer Anteil­nahme verfolgt. Auch in der DDR wurde mitge­fie­bert, wie Gudrun erzählt: „Es waren große Hoff­nun­gen damit verbun­den, auch weil vom Westen immer vorge­wor­fen wurde, der Sozia­lis­mus sei ‚blutig‘ oder ‚unde­mo­kra­tisch‘. Auch die kuba­ni­sche Revo­lu­tion wurde als ‘unde­mo­kra­tisch’ verun­glimpft.“ Doch nun waren Allende und die UP nicht durch einen Volks­auf­stand, sondern durch die eige­nen Mecha­nis­men des bürger­li­chen Systems an die Macht gekom­men. „Eigent­lich hätte man anneh­men müssen, dass die west­li­che Welt Chile jetzt unter­stüt­zen würde, zumal sie gerade Prag 1968 und Dubčeks ‚Sozia­lis­mus mit mensch­li­chem Antlitz‘ so sehr geprie­sen hatten.“ Die Tatsa­che, dass die UP eine breite Front fort­schritt­li­cher Kräfte reprä­sen­tierte, sprach für ihre Legi­ti­mi­tät: „Auch in der DDR gab es ein Bünd­nis, die ‚Natio­nale Front‘, in der die vier Block­par­teien und andere gesell­schaft­li­che Orga­ni­sa­tio­nen vertre­ten waren. So stellte man sich das nun in Chile vor, dass eben ein brei­tes Bünd­nis herrschte und dafür unter­schied­li­che Bedürf­nisse bedient werden können.“

Nancy selbst war Mitglied einer Partei des UP-Bünd­nis­ses: „1971 bin ich in die MAPU einge­tre­ten, sie war eine Abspal­tung des linken Flügels der Christ­de­mo­kra­ti­schen Partei. Es war eine kleine Partei, das waren junge Leute, die woll­ten noch mehr Verän­de­run­gen. 1972 hat sich die Partei als marxis­tisch-leni­nis­tisch erklärt und spal­tete sich kurze Zeit später. Ich war dann Mitglied der MAPU / Obrero Campe­sino (Arbei­ter und Bauern). Als Orga­ni­sa­tion hatten wir Zellen in Wohn­ge­bie­ten, in Betrie­ben und da habe ich das erste Mal Das Kapi­tal gele­sen. Die Entwick­lung war sehr schnell – wir waren 1.000 Tage in der Regie­rung, nur 3 Jahre!“

Nancys Studen­ten­aus­weis an der Univer­si­dad de Chile

Nach der Verstaat­li­chung der Kupfer­mi­nen durch die UP-Regie­rung stell­ten die USA ihre Inves­ti­tio­nen ein und verhäng­ten dras­ti­sche Sank­tio­nen, die das auf den Kupfer­ex­port spezia­li­sierte Land beson­ders hart trafen. Es herrschte Devi­sen­man­gel und die Infla­tion gras­sierte. Da von der Lebens­mit­tel­pro­duk­tion bis zur ‑vertei­lung alles in priva­ten Händen war, wurden die Lebens­mit­tel­preise auf dem entste­hen­den Schwarz­markt durch das Aufkau­fen und Horten von Waren in die Höhe getrie­ben. Als Reak­tion wurden 1972 Kommis­sio­nen zur Versor­gung und Preis­kon­trolle (Juntas de Abas­te­ci­mi­ento y Control de Precios, kurz JAP) als Struk­tur zur Sicher­stel­lung der Lebens­mit­tel­ver­sor­gung gegründet.

Die MAPU dele­gierte Nancy in eine solche Kommission:

„Das waren von der Regie­rung lega­li­sierte Grup­pen auf Wohn­vier­tel­ni­veau, die die Preise auf dem Schwarz­markt kontrol­liert haben, wie ein Minis­te­rium. Der Sekre­tär dieser Orga­ni­sa­tion war Alberto Bache­let, der Vater von Michelle Bache­let. Er wurde natür­lich später fest­ge­nom­men und im März 1974 starb er im Knast an den Folgen der Folter. Er hatte einen Herz­in­farkt. Die JAP zusam­men mit den cordo­nes indus­tria­les [Arbei­ter­kol­lek­ti­ven in den Betrie­ben], waren der Keim der demo­kra­ti­schen Entwick­lung an der Basis. Sie setz­ten sich aus verschie­de­nen Indus­trien zusam­men, die sich in den Händen der Arbei­ter befan­den, nach­dem die Eigen­tü­mer sich weiger­ten, die Produk­tion fort­zu­set­zen. Die Arbei­ter haben dann den Betrieb vertei­digt. Die cordo­nes indus­tria­les, von denen es unge­fähr 200 gab, waren neben der JAP der zweite Kern der Volksmacht.

 

Ich wurde Vorsit­zen­der dieser JAP in meinem Vier­tel. Es war ein bürger­li­ches Vier­tel, in dem Mitglie­der der Patria y Libertad, einer faschis­ti­schen Gruppe, lebten. Wir orga­ni­sier­ten die Versor­gung von 120 Fami­lien. Die Mitglie­der der JAP – nicht alle waren Kommu­nis­ten, es gab auch Sozia­lis­ten und Christ­de­mo­kra­ten – stell­ten je nach Anzahl der Fami­lien Pakete zusam­men. Wir haben mit dem Metz­ger zusam­men­ge­ar­bei­tet. Ich ging mit ihm zum staat­li­chen Fleisch­ver­tei­lungs­zen­trum und wir brach­ten alles in seinen Laden. Wenn wir die Waren abho­len woll­ten, wurden wir oft von den Faschis­ten der Patria y Libertad bedroht, sie verfolg­ten uns und versuch­ten, uns die Waren wegzunehmen.

 

Sie versuch­ten, in die Metz­ge­rei einzu­drin­gen als die Waren verteilt wurden, um sie wegzu­neh­men, aber es gelang ihnen nicht. Wir wuss­ten, dass diese Leute – die Rech­ten und Ultra-Rech­ten – Villen, große Häuser und große Lager­häu­ser hatten. Sie woll­ten alle Waren anhäu­fen, um Knapp­heit zu verursachen.“

Die Lage spitzt sich zu

Zu der Zeit als Nancy in der JAP tätig ist, war Gudrun gerade einmal 17 Jahre alt. Sie war Mitglied der Freien Deut­schen Jugend und in einem Singe­klub aktiv. Sie war faszi­niert von dem, was sich in Latein­ame­rika abspielte, hatte Kontakt zu chile­ni­schen Jung­kom­mu­nis­ten in der DDR, erlebte zum Festi­val des poli­ti­schen Liedes die Gruppe Quila­payún, die ihr „einen ganz beson­de­ren Impuls [gaben] sich mit der spani­schen Spra­che zu beschäftigen“.

Dass ein Aufbäu­men gegen den Impe­ria­lis­mus im eige­nen Land nicht einfach hinge­nom­men werden würde, wuss­ten auch Gudrun und die DDR-Bevölkerung:

„Es kam also auch hier in der Bericht­erstat­tung schon zum Tragen, dass die bürger­li­che Rechte natür­lich alles unter­nom­men hat, um nur den Amts­an­tritt zu verhin­dern. […] Nichts­des­to­trotz hat der Kongress dann Allende gewählt, so dass er am 4. Novem­ber sein Amt antre­ten konnte und von da an wurde eigent­lich konti­nu­ier­lich berich­tet, nicht nur über die Verstaat­li­chung der Kupfer­mi­nen, sondern auch über die Lebens­be­din­gun­gen. Wer das aufmerk­sam verfolgt hat, der konnte sich wirk­lich darüber infor­mie­ren […] Es war eine umfas­sende Bericht­erstat­tung und so wurden auch die Namen nicht nur von Allende bekannt, sondern eben auch von Luis Corvalán, dem Vorsit­zen­den der Kommu­nis­ti­schen Partei, natür­lich auch von Gladys Marín, der Vorsit­zen­den des kommu­nis­ti­schen Jugend­ver­ban­des, beson­ders im Vorfeld der X. Welt­fest­spiele, die 1973 in der DDR statt­fan­den. Die Kultur spielte dabei eine große Rolle wie etwa Quila­payún, Isabel Para, […] und auch Víctor Jara, der als noch rela­tiv Unbe­kann­ter hier in der DDR gewe­sen war. Auch andere Namen wie Carlos Alta­mi­rano, der Vorsit­zende der Sozia­lis­ti­schen Partei, und von der Bewe­gung der Arbei­ter und Bauern… Es fand eine sehr breite Bericht­erstat­tung statt, auch über alle Schwie­rig­kei­ten, die es gab wie etwa den Streik der Last­wa­gen­fah­rer. Der hat sich durch die Nord-Süd-Sper­rung in so einem Land wie Chile natür­lich unwahr­schein­lich ausgewirkt.“

In Chile spitzte sich die Lage indes zu – so auch für Nancy:

„Die Wider­sprü­che waren so stark und wir haben im Prin­zip wenig Macht gehabt. Der Putsch kam an einem Diens­tag, früh am Morgen. Am voran­ge­hen­den Sonn­tag hatte sich Allende mit allen seinen Minis­tern und Parteien getrof­fen. Sie hatten natür­lich gese­hen, wie ernst die Lage war. Da konnte eigent­lich nur ein Bürger­krieg oder ein Putsch kommen. Aber für einen Bürger­krieg waren wir letzt­end­lich nicht bewaff­net. Sie haben immer propa­giert, wir hätten Waffen, aber das stimmte nicht, wir hatten keine Waffen. Die Rech­ten und Ultra­rech­ten haben es übri­gens 1972 – unter Allende also – geschafft, ein neues Gesetz im Parla­ment durch­zu­brin­gen, dass ihnen erlaubte, Waffen­kon­trol­len durch­zu­füh­ren. Ich selbst bin mit meinen Genos­sen in solche Kontrol­len gera­ten, bei denen uns die Marine-Komman­dos durch­such­ten. Das war für mich ein Signal. Ich habe schon gese­hen, wie sie agieren.

 

36 Prozent hatten wir bei den Wahlen 1970 erreicht. Bei der Parla­ments­wahl im März 1973 beka­men wir 44 Prozent. Wir sind also sprung­haft gewach­sen. Das muss­ten die Faschis­ten eben stop­pen. 1972 began­nen sie mit großer Inten­si­tät zu versu­chen, die Regie­rung der Volks­ein­heit zu boykot­tie­ren. Es fing dann an, dass Bomben gelegt wurden, um Unruhe zu verbrei­ten, dass Leute geschla­gen wurden – die Wider­sprü­che und der Klas­sen­kampf spitz­ten sich immer mehr zu.“

Auch im sozia­lis­ti­schen Ausland wurden diese Entwick­lun­gen mit Sorge verfolgt. „Die Angst, dass in Chile dieser hoff­nungs­volle Weg abge­würgt wird, die gab es schon viel länger“, erzählt Gudrun.

„Im März 1973 waren Wahlen und da hat die Rechte sehr stark mobi­li­siert mit dem schö­nen Erfolg für die Unidad Popu­lar, dass die Stim­men­an­zahl oder die Prozente viel höher waren als die Prozent­zahl, mit der Allende gesiegt hat, was aller­dings dazu führte, dass natür­lich der Rech­ten klar wurde, dass mit Wahlen Allende nicht wegzu­wi­schen wäre. Die Angst bei den Rech­ten ging um, dass sich da womög­lich was etabliert, was nicht so schnell wegzu­krie­gen ist, auch nicht aus den Köpfen der Leute. Diese Angst war hier auch durch­aus spür­bar, aber was sich dann im Septem­ber 1973 abspie­len sollte, das hat niemand erwar­tet, weder bei uns noch die Chile­nen selber, weil sich eigent­lich alle daran klam­mer­ten, Chiles Armee wäre verfas­sungs­treu. Das war mehr so eine Hoff­nung, dass sich die Armee in den Kaser­nen zurück­hal­ten würde und nicht poli­tisch eingrei­fen. Das hat sich dann leider als großer Trug­schluss erwiesen.“

Ein Plakat des Soli­da­ri­täts­ko­mi­tees der DDR

Nancy: Der Putsch in Chile

„Valpa­raíso und Vina del Mar wurden an den frühen Morgen­stun­den des 11. Septem­ber von Komman­do­trup­pen besetzt. Mari­ne­schiffe waren in den Hafen Valpa­raíso einge­lau­fen und Komman­do­trup­pen hatten Stra­ßen und Regie­rungs­ge­bäude, Univer­si­tä­ten besetzt. Die US-Flotte der Opera­tion Unitas war vor der Küste von Valpa­raíso statio­niert. Im Gegen­satz zum Putsch­ver­such vom 29. Juni 1973, als das Volk auf die Straße ging, um die Regie­rung zu vertei­di­gen, wurden dieses Mal die Städte und ihre stra­te­gi­schen Punkte im Schlaf einge­nom­men, damit sich das Volk nicht mobi­li­sie­ren konnte.

Die Mari­ne­kom­man­dos stürm­ten die Univer­si­tät, an der ich Archi­tek­tur studierte, verhaf­te­ten alle Studen­ten, die sie finden konn­ten, und brach­ten sie in LKWs in das erste Gefan­ge­nen­kon­zen­tra­ti­ons­la­ger in Valpa­raíso, das Playa Ancha Stadion.

Als wir aufwach­ten, waren die Mari­ne­kom­man­dos und faschis­ti­schen Grup­pen der Patria y Libertad über­all auf der Straße. Sie kontrol­lier­ten die Eingänge zu unse­rem Gebäude. Nach der Über­tra­gung der letz­ten Rede unse­res Präsi­den­ten Salva­dor Allende und der Bombar­die­rung des Regie­rungs­pa­las­tes war unsere Lage klar, es ging darum, unser Leben zu retten. Wir saßen in einer Mause­falle, wir muss­ten so schnell wie möglich aus unse­rer Wohnung und aus dem Gebäude verschwinden.

Doch wir konn­ten zunächst nicht hinaus. Die Faschis­ten sammel­ten sich im Innen­hof und feier­ten die Ereig­nisse. Sie versperr­ten den Ausgang und fingen an zu trin­ken. Erst als einige andere Bewoh­ner des Hauses sich beschwer­ten, ließen sie die Menschen hinaus. Ich bin mit meinem Mann raus­ge­schli­chen. Er war ein bekann­ter Gewerk­schaf­ter und wir muss­ten deswe­gen beson­ders vorsich­tig sein. Die repres­sive Hetze rich­tete sich unter ande­rem gegen Gewerk­schaf­ter und JAP-Mitglie­der. Das bedeu­tet, wir hätten keine Über­le­bens­chance gehabt, wenn wir verhaf­tet worden wären.

Er ging zuerst aus dem Haus und ich danach. Wir hatten im Voraus bestimmte Sicher­heits­maß­nah­men abge­stimmt. Wenn ihm etwas zustieß, müsste ich sofort die Genos­sen aufsu­chen und Bescheid geben. Und wenn ich selber fest­ge­nom­men werden würde, hätte ich schreien müssen, sodass es zumin­dest andere mitbe­kom­men würden. Ich habe meinen Genos­sen von Anfang an gesagt: Wenn ich fest­ge­nom­men werde, habt ihr sieben Stun­den. Nach sieben Stun­den sage ich alles. Ich hatte schon immer Angst gehabt vor Folte­run­gen – wir wuss­ten ja, was kommt! Wir haben viel gele­sen, z.B. über die Verbre­chen der Dikta­tur in Brasilien.

Mili­tär­kom­mu­ni­qués im Fern­se­hen und im Radio ließen nicht lange auf sich warten, um die Mili­tär­ak­tion zu legi­ti­mie­ren und die Unter­drü­ckung der Regime­geg­ner zu recht­fer­ti­gen. Ab 15 Uhr wurde im ganzen Land eine ‚Ausgangs­sperre‘ verhängt. Es war verbo­ten auf die Straße zu gehen, da die Gefahr bestand, von den auf den Stra­ßen patrouil­lie­ren­den Mili­tärs denun­ziert, verhaf­tet oder getö­tet zu werden. Die Leute hatten Angst. Ich bin die Tage nach dem Putsch, den ganzen Tag umher­ge­lau­fen, um nach­zu­den­ken. Was mache ich? Welchen Weg gehe ich jetzt? Ich lief auf der Straße und sah Bekannte von der UP, junge Leute. Ich sah die Todes­angst in ihren Gesichtern.

Bei all der Gewalt und der mili­tä­ri­schen Verfol­gung in Valpa­raíso kam es am 14. Septem­ber zu einer Wider­stands­ak­tion, die die auf den Stra­ßen patrouil­lie­ren­den Mili­tär­kom­man­dos und Regi­men­ter über­raschte, aber keine größe­ren Auswir­kun­gen hatte, da die Wider­stän­di­gen nicht über die erfor­der­li­chen Kräfte verfügten.“

Ein Plakat des Soli­da­ri­täts­ko­mi­tees der DDR

Gudrun: Die Nachricht vom Putsch in der DDR

Es war ein Diens­tag, für mich war die zweite Studi­en­wo­che losge­gan­gen. Ich machte das Radio an und es kam die Meldung, dass die Moneda bombar­diert worden ist. Ich weiß noch, ich habe geweint und gedacht, das kann nicht sein! Wie kann eine Armee das eigene Regie­rungs­ge­bäude bombar­die­ren? Ich meine, Putsche gab es schon viele vor 1973 und nach 1973, und es wurde auch oft die Iden­ti­fi­ka­ti­ons­fi­gur gefan­gen genom­men oder auch erschos­sen, aber dass der Regie­rungs­sitz bombar­diert wird, das war schon ein sehr singu­lä­res Ereig­nis. Ich habe den ganzen Abend versucht, nähere Infor­ma­tio­nen zu bekom­men und ja, wir waren fassungs­los. Es ist für mich heute immer noch unglaub­lich, wenn ich daran denke, an die Bilder. Ich hatte natür­lich dadurch, dass ich etli­che junge Kommu­nis­ten aus dem Kommu­nis­ti­schen Jugend­ver­band kannte, sofort Angst. Denn über ihre Repres­sion wurde ja berich­tet. Was geht da vor? Werden sie gefan­gen genom­men? Werden sie gleich erschos­sen? Werden sie gefol­tert? Und im Laufe der Jahre haben wir dann von sehr vielen Toten erfahren.

Während die DDR sofort zu Soli­da­ri­täts­ak­tio­nen aufge­ru­fen hat und es natür­lich klar war, dass auf keinen Fall das Regime als solches gestützt werden sollte, was sich auch gar nicht mit unse­ren Ideen verein­ba­ren ließ, waren die offi­zi­el­len Äuße­run­gen in der BRD: Jetzt werden die Handels­be­zie­hun­gen wieder norma­ler. Die Einschrän­kung durch die Verstaat­li­chung der Kupfer­berg­werke war für die bundes­deut­sche Regie­rung mal wieder der Eingriff in die »Frei­heit« schlecht­hin. Rela­tiv früh tauchte hier die Frage auf, wieso eigent­lich die Bundes­re­gie­rung mit dem sozi­al­de­mo­kra­ti­schen Minis­ter­prä­si­den­ten Willy Brandt nicht den Sozi­al­de­mo­kra­ten bzw. den Sozia­lis­ten Allende mehr gestützt hat. Da kam im Prin­zip sofort zum Tragen, wer eigent­lich wirk­lich die Macht im Staat hat: Sie waren an der Regie­rung und glaub­ten, sie wären an der Macht. Die sozi­al­de­mo­kra­ti­sche Regie­rung in der BRD hat also nicht den Sozia­lis­ten Allende vor dem Putsch [gewarnt], obwohl sie vorab Infor­ma­tio­nen hatten. Das Minis­te­rium für Staats­si­cher­heit der DDR hatte Kennt­nis erhal­ten von diesen Infor­ma­tio­nen, die in der Bundes­re­pu­blik vorla­gen, und hat dann versucht, noch zu warnen, aber die Warnun­gen kamen leider zu spät.

Und so war dann also auch das Verhal­ten nach dem Putsch ganz unter­schied­lich. […] Wie wir erst viel später erfah­ren haben, gab es auch konkrete Maßnah­men der DDR, um Leute zu schüt­zen und aus dem Land zu holen. Denn es wurden ja sofort Listen veröf­fent­licht mit den meist­ge­such­ten (!) Perso­nen und da tauch­ten sowohl Luis Corvalán als auch Gladys Marín, Carlos Alta­mi­rano, also alle Spit­zen­funk­tio­näre auf und es wurde gnaden­los Jagd auf sie gemacht. Das schlimmste Beispiel ist Víctor Jara, der also nur durch die Lieder, die er geschrie­ben hat, so gehasst wurde von der Rech­ten, so sehr, dass es früher schon Versu­che gab, ihn physisch zu vernich­ten. Damals wurde ihm immer Schutz gege­ben, auch durch den Jugend­ver­band. Als man seiner habhaft wurde, hat man ihn aufs Schlimmste gequält und dann ermordet.“

Ein Plakat des Soli­da­ri­täts­ko­mi­tees der DDR

Flucht und Exil

In der von der Marine besetz­ten Heimat­stadt Nancys wurden die Menschen in den Stra­ßen stän­dig kontrol­liert. Sie berich­tet, wie Leute allein aufgrund ihrer Klei­dung als Linke iden­ti­fi­ziert und verhaf­tet wurden. Nancy blieb nichts ande­res übrig als zu lächeln. Ging sie auf die Straße, zog sie ihre besten Klei­der an, schminkte sich und lächelte. Das war die beste, die einzige Tarnung. Sie und ihr Mann mach­ten sich auf den Weg zu ihren Fami­lien, um sich zu verabschieden.

„Am 11. Septem­ber begann unsere Flucht und dauerte bis Ende Novem­ber. Am Tag des faschis­ti­schen Putsches kamen wir zum Haus meiner Schwie­ger­el­tern, um uns vor der Ausgangs­sperre zu verab­schie­den. Zwei Tage später nahm die Poli­zei meinen Schwie­ger­va­ter fest, als sie auf der Suche nach meinem Mann war. Er saß die ganze Nacht in der Haft, aber kam wieder raus. Meine Schwie­ger­el­tern sind Jahr­zehnte zuvor selbst aus Deutsch­land geflo­hen. Er war Jude aus Frank­furt und wurde damals von der Gestapo verfolgt. Mein Mann hatte also durch seine Eltern einen deut­schen Pass.

Im Gegen­satz zu unse­rer Verzweif­lung waren meine Schwä­ge­rin und ihr Mann sehr froh über den Putsch. Sie hatten mit Cham­pa­gner die Ereig­nisse gefei­ert. Es gab eben auch inner­halb der Fami­lien diese Polarisierung.

Schließ­lich gingen wir zum Haus meiner Eltern, die eben­falls poli­tisch waren. Auch ihr Haus wurde durch­sucht und alle Nach­barn schau­ten bei der Durch­su­chung zu. Die Situa­tion wurde für uns immer enger. Während der Ausgangs­sper­ren wurden die Stadt­teile abge­rie­gelt und Haus für Haus durch­sucht. Dieje­ni­gen, die UP-Leute bei sich zuhause hatten, konn­ten verhaf­tet oder getö­tet werden.“

Ein Plakat des Soli­da­ri­täts­ko­mi­tees der DDR

Wochen­lang dauerte dieser Zustand für Nancy an, bevor sie im Novem­ber mit ihrem Mann nach Sant­iago trampte, wo ihre Partei eine Wohnung für die beiden orga­ni­siert hatte. Doch auch von dort muss­ten sie Hals über Kopf flie­hen, als bekannt wurde, dass der Genosse, der ihnen die Wohnung vermit­telte, in Valpa­raíso fest­ge­nom­men wurde. Nancy landete über ihre JAP-Kontakte bei Bekann­ten, doch diese wiesen ihren Mann wegen seiner Promi­nenz ab:

„Für ihn war die einzige Möglich­keit, zur west­deut­schen Botschaft zu gehen. Der bundes­deut­sche Botschaf­ter Kurt Lüdde-Neur­ath weigerte sich jedoch, diplo­ma­ti­schen Schutz zu gewäh­ren. Aber mein Mann wehrte sich dage­gen, das Gebäude zu verlas­sen. Er konnte nicht gewalt­sam entfernt werden. Andere Chile­nen wurden weggeschickt.

Helmut Frenz, der ehema­lige Bischof der Evan­ge­lisch-Luthe­ri­schen Kirche in Chile und Gene­ral­se­kre­tär der deut­schen Sektion von Amnesty Inter­na­tio­nal, übte Druck auf die bundes­deut­sche Regie­rung aus und der Botschaf­ter musste schließ­lich seine Haltung ändern.“

In ihrer Not wandte sich Nancy eben­falls an die deut­sche Botschaft und beharrte darauf, zu blei­ben, da ihr Mann deut­scher Staats­bür­ger sei. Der verant­wort­li­che Kultur­at­ta­ché gab schließ­lich nach und instru­ierte sie, noch am selben Abend an der Resi­denz des Botschaf­ters zu erschei­nen, wo sich Punkt 21 Uhr eine Tür öffnen würde – das sei ihre einzige Möglich­keit. Nancy stimmte zu und um 16 Uhr fuhr sie zusam­men mit einem Genos­sen ihrer Partei (MAPU-OC) in dessen Auto zur Resi­denz des Botschafters.

„Wir such­ten die Seiten­tür, konn­ten sie aber nicht finden. Der Genosse musste gehen und ich fuhr vier Stun­den lang herum, immer mit einem Lächeln. Ein paar Minu­ten vor 21.00 Uhr traf ich meinen Genos­sen auf einem klei­nen Platz hinter der Resi­denz des Botschaf­ters. Er sollte die Partei infor­mie­ren, wenn etwas schief­läuft und ich fest­ge­nom­men werde. Die Straße war vom Mili­tär über­wacht. Während wir noch über­leg­ten, was wir tun soll­ten, tauchte ein junger Mann auf und lief ziel­stre­big in Rich­tung der Seiten­straße der Resi­denz. Ich wusste instink­tiv, dass ich ihm folgen musste. Ich verab­schie­dete mich von meinem Genos­sen und lief dem jungen Mann hinter­her. Der sprang plötz­lich zur Seite, und zeigte mir so die Seiten­tür. Es stellte sich heraus, dass er ein Arzt und Mitglied der Kommu­nis­ti­schen Partei war.”

In der Resi­denz wurde Nancy von einer BND-Kommis­sion verhört, erhielt einen Frem­den­pass und wurde zum Flug­ha­fen beglei­tet, weil sie auf dem Weg zum Flug­ha­fen immer noch hätte fest­ge­nom­men werden können. Im Dezem­ber 1973 wurde Nancy kurz nach der Ausreise ihres Mannes aus ihrer verlo­re­nen Heimat nach West­deutsch­land ausge­flo­gen. Die beiden wurden nach Hanau gebracht in „eine Flücht­lings­un­ter­kunft, wo auch Russen und ehema­lige DDR-Bewoh­ner unter­ge­bracht waren. Jede Fami­lie, egal wie groß, hatte nur ein Zimmer, es gab eine Toilette für alle, zum Abwa­schen nur ein Wasch­be­cken, nichts weiter.“ 

Nancy und ihr Mann reis­ten nach Kuba aus, von wo sie eigent­lich nach Argen­ti­nien woll­ten, doch dort fand bereits der nächste Mili­tär­putsch statt. 1976 soll­ten sie zurück in die BRD „und ich sagte, nein, kommt für mich nicht in Frage.“ Statt­des­sen sorgte ihre Partei dafür, dass sie in die DDR gehen konnte.

Ankunft in der DDR

Unmit­tel­bar nach dem Putsch wurde die DDR das Haupt­auf­nah­me­land für chile­ni­sche Exilan­ten in Osteu­ropa. Sie nahm etwa 2.000 Flücht­linge auf und stat­tete sie mit einem zins­lo­sen Kredit und neuen Wohnun­gen aus, erin­nert sich Gudrun: „Rela­tiv schnell wurden konkrete Maßnah­men umge­setzt. Die Flücht­linge – wir nann­ten sie damals Emigran­ten – wurden nicht nur nach Berlin, sondern in verschie­dene Bezirke verteilt. […] Es war von vorn­her­ein klar, sie würden nicht nur aufge­nom­men und sich selbst über­las­sen werden, sondern sie beka­men Wohnun­gen, was zu dem Zeit­punkt in der DDR auch nicht so einfach war, weil wir immer noch ein großes Wohnungs­pro­blem hatten. Glück­li­cher­weise hat das Wohnungs­bau­pro­gramm schon begon­nen, sodass die chile­ni­schen Emigran­ten eigent­lich immer entspre­chende Wohnun­gen erhiel­ten. Auch Schule und Ausbil­dung, Arbeits­stel­len und Studi­en­plätze, sodass viele rela­tiv naht­los – trotz der Sprach­bar­riere natür­lich – ihre Ausbil­dung fort­set­zen konn­ten. Dasselbe galt für ihre Berufe, die sie dann entwe­der hier erst abge­schlos­sen haben oder in denen sie arbei­ten konnten.“

Auch Nancy schloss ihr Studium in der DDR ab, promo­vierte und arbei­tete dort. Das Land wurde ihr schnell zu einem neuen Zuhause:

„In der DDR hatte ich vieles bekom­men, was ich noch nie hatte – in Chile nicht und in der BRD sowieso nicht. Ich hatte alles, was ich brauchte, um mich zu entwi­ckeln. In Magde­burg wurde ein neuer Wohn­block für uns Chile­nen bereit­ge­stellt. Wir erhiel­ten 5.000 DDR-Mark pro Kopf. Das war viel Geld damals. Damit konn­ten wir alle Haus­halts­ge­räte, Möbel und Bett­wä­sche kaufen, die wir brauch­ten. Ich hatte meine Wohnung noch nie mit Teppich ausge­legt!  Alles war neu. Wir muss­ten natür­lich monat­lich Miete bezah­len, aber es war rela­tiv gering. Wir haben 50 DDR-Mark für drei Zimmer bezahlt. Durch die Arbeit habe ich allein 660 Mark verdient und das Gehalt meines Mannes kam dann dazu.“

Für die Chile­nen wurde in den frühen Morgen­stun­den von 7 bis 9 Uhr Deutsch­un­ter­richt orga­ni­siert, damit sie lernen konn­ten, bevor sie zur Arbeit oder zur Univer­si­tät gingen. Da Nancy erst später dazu kam und der Lehrer wegen Krank­heit nicht mehr unter­rich­tete, begann sie ohne Sprach­kennt­nisse im Wohnungs­bau­kom­bi­nat Magde­burg zu arbei­ten. Dort schloss sie sich einer Arbeits­bri­gade an:

„Die Brigade traf sich jede Woche, um die geleis­tete Arbeit zu bespre­chen und die neue Arbeit zu planen. Ich arbei­tete mit Archi­tek­ten, Absol­ven­ten aus Weimar, die das Stadt­zen­trum von Magde­burg neuge­stal­te­ten. Wir arbei­te­ten in einer kame­rad­schaft­li­chen Atmo­sphäre, unser Büro war das verrück­teste von allen, natür­lich, mit so vielen Architekten.

Die Sozia­li­sa­tion in der DDR hat mich geprägt und in meiner kommu­nis­ti­schen Über­zeu­gung bestärkt. Die Gesetze haben mich auch beein­druckt: Als Frau hatte ich genauso viele Rechte wie die Männer. Das hatte ich vorher noch nie erlebt. Im Wohnungs­bau­kom­bi­nat Magde­burg oder im Baube­trieb in Jena gab es zusätz­li­che Räume nur für Frauen, in die sie sich zurück­zie­hen konn­ten, wenn sie sich unwohl fühl­ten. Es gab auch einen Tag bezahlte Haus­ar­beit pro Monat. Natür­lich war das alles ein Prozess, die Frauen mach­ten immer noch zu viel Haus­ar­beit zusätz­lich zu ihrer Arbeit im Betrieb. Aber es ging in die rich­tige Rich­tung. Die Zeit in der DDR war für mich sehr gut.

Ich habe damals auch gese­hen, wie die Propa­ganda des Westens gegen die DDR immer inten­si­ver wurde. Sie zielte darauf ab, den Neid auf Luxus­gü­ter im Westen zu wecken: Klei­dung oder tropi­sche Früchte und so weiter.“

Die geflüch­te­ten Mitglie­der der verschie­de­nen UP-Bünd­nis­par­teien setz­ten ihren poli­ti­schen Kampf im Exil fort. In der DDR konn­ten sich „die Struk­tu­ren der Unidad Popu­lar […] in gewis­ser Weise wieder etablie­ren, dank des Enga­ge­ments des Büros Chile Anti­fa­scista“, erklärt Gudrun.

„Dieses Büro ging hervor aus der chile­ni­schen Botschaft in der DDR, und wurde zum Dreh- und Angel­punkt für Soli­da­ri­täts­ak­tio­nen in den unter­schied­li­chen Ländern und zur Pflege der Kontakte zu unse­ren poli­ti­schen Orga­ni­sa­tio­nen. Die Kommu­nis­ti­sche Partei Chiles hatte ihren Haupt­sitz in Moskau, während die Sozia­lis­ti­sche Partei ihren Sitz hier in der DDR hatte. Da spielte sicher­lich auch eine Rolle, dass […] der Gene­ral­se­kre­tär der Sozia­lis­ti­schen Partei, Carlos Alta­mi­rano, im Koffer­raum des Autos eines DDR-Geheim­dienst­mit­ar­bei­ters aus Chile heraus­ge­schmug­gelt wurde. Alta­mi­rano fand dann erst­mal Asyl in der DDR. Nach dem Putsch unter­brach die DDR die diplo­ma­ti­schen Bezie­hun­gen zu Chile. Es wurde nur noch eine Handels­ver­tre­tung in Chile erhal­ten, die dafür benutzt wurde, mehr Leute rauszuholen.“

Das Soli­da­ri­täts­ko­mi­tee der DDR wirbt für eine Foto­aus­stel­lung. Abge­bil­det ist Gladys Marín, der Vorsit­zen­den des kommu­nis­ti­schen Jugendverbandes.

In der Inter­na­tio­na­len Verei­ni­gung der Lehrer­ge­werk­schaf­ten (FISE), die in den 1980er Jahren ihren Sitz in Berlin hatte, arbei­tete Gudrun gemein­sam mit chile­ni­schen Kolle­gen, um über die Lage in Chile zu infor­mie­ren und Genos­sen zu unterstützen:

„Ich habe nicht nur Dienst nach Vorschrift gemacht, sondern habe mich beson­ders für die chile­ni­sche Sache einge­setzt. […] Ich hatte den Kontakt zu den unter­schied­li­chen chile­ni­schen Lehrer­ge­werk­schaf­ten gehal­ten und die Leute betreut, wenn Sie hier waren. Wir hatten auch mit Radio Moskau ab und zu Kontakt gehabt, um Aufrufe zu verle­sen und so weiter. Ich habe deshalb die Auszeich­nung ‚Ehren­ur­kunde für Chile-Soli­da­ri­tät des Büros Chile Anti­fa­scista‘ bekommen.“

„Die Soli­da­ri­tät war massiv“, bestä­tigt Nancy. „Es gab viele Veran­stal­tun­gen über Chile und wir waren sehr privi­le­giert. Sie haben uns alles gege­ben. Bis heute berührt mich diese Erfah­rung.“ Auch West­deutsch­land, das sich zunächst gegen die Aufnahme poli­ti­scher Flücht­linge sträubte, nahm schließ­lich Mitglie­der verschie­de­ner UP-Parteien auf, wenn auch wider­wil­lig, wie Nancy betont: „Im Westen war die ganze CDU gegen die Chile­nen. Wir wurden als Terro­ris­ten bezeich­net. Sie haben poli­ti­sche Emigran­ten aus Chile nur da aufge­nom­men, wo die SPD regierte – in Hamburg, Frank­furt, West-Berlin, Hanno­ver, und so weiter.“

Nach 1990

1988 unter­nimmt Nancy den Versuch, ein neues Leben in Chile zu begin­nen. Knapp zwei Jahre lang bemüht sie sich, in der alten Heimat Fuß zu fassen, doch die schlech­ten Bedin­gun­gen verun­mög­li­chen das Vorha­ben. Sie brauchte zwei Jahre, um ihren akade­mi­schen Abschluss aner­ken­nen zu lassen, ohne dabei Geld verdie­nen zu können. Als sie zurück­kehrt, befin­det sich die DDR in Auflösung:

„Dann kam unsere große Nieder­lage. Ich kam zurück und befand mich plötz­lich wieder im Kapi­ta­lis­mus! Alles war weg und ich musste wieder von null anfan­gen. Ich war in Berlin und hatte keine poli­ti­sche Heimat mehr. Die MAPU war zwar marxis­tisch-leni­nis­tisch, aber die Mitglie­der waren über­wie­gend klein­bür­ger­lich – Rechts­an­wälte, Wissen­schaft­ler – da waren wenige Arbei­ter und Bauern. 1996 bin ich dann hier in Deutsch­land in die Kommu­nis­ti­sche Partei Chiles einge­tre­ten. Das war nach unse­rer Nieder­lage die einzige Partei, die meine Ideale ausdrückte. Die Chile­nen in der DDR hatten Angst, denn es bestand die Gefahr, dass die BRD uns auslie­fern könnte. Sie grün­de­ten daher einen Verein, um uns zu schützen.“

In Chile selbst wirkt die Dikta­tur noch lange nach. Seit 1990 reisen Gudrun und ihr Mann regel­mä­ßig in das Land. Schnell fiel ihnen auf, wie die Ausstrei­chung des sozia­lis­ti­schen Projekts sich auch nach dem Ende der Dikta­tur fort­setzt. Gudrun berich­tet von ihren Reisen in den 1990er Jahren vom Flüs­tern linker Akti­vis­ten, vom Schwei­gen der Verant­wort­li­chen, vom Fehlen der UP-Zeit in den Geschichts­bü­chern und Allen­des im öffent­li­chen Raum:

„Wir haben Freunde besucht, alles Leute, die ich über die FISE kennen­ge­lernt hatte. Leute, die Chile nie verlas­sen haben, und Leute, die emigrie­ren muss­ten und dann zurück­ge­gan­gen waren. Es war sehr inter­es­sant zu sehen, weil 1995 die Dikta­tur wirk­lich noch sehr präsent war auch bei diesen Leuten selbst. Wir haben uns immer vorge­stellt als ehema­lige DDR-Bürger und hatten ganz unter­schied­li­che Reak­tio­nen: Manche sagten gar nichts, andere sagten, die haben uns gleich gehol­fen – dann wurde aber auch sofort leiser gespro­chen. Das war wirk­lich auffäl­lig. Wir waren bei Bekann­ten im Bildungs­mi­nis­te­rium und muss­ten fest­stel­len, dass also auch dort die Geschichte natür­lich vom Sieger geschrie­ben wird und die Unidad Popu­lar entwe­der gar nicht in den Schul­bü­chern vorkam oder nega­tiv belas­tet. Wir sahen auch ein Monu­ment, wo alle chile­ni­schen Präsi­den­ten seit der Unab­hän­gig­keit 1818 aufge­führt waren, nur im Jahre 1970 gab es keinen Präsi­den­ten, der letzte war Eduardo Frei und dann wurde Pino­chet genannt. Also Allende erschien gar nicht und das war schon sehr erstaun­lich für uns.“

Als das Ehepaar auf seiner Reise zwei Tram­pende mitnahm und Gudrun erklä­ren musste, dass sie ihr Spanisch mit chile­ni­schen Emigran­ten geübt hatte, trafen sie auf Unver­ständ­nis. Emigran­ten waren jene, die der Zeit entflo­hen waren, in der es „nichts gab, nichts zu essen, keine Arbeit“. Ein völlig distan­zier­tes und verzerr­tes Bild dieser Zeit begeg­nete Gudrun dort unter jungen Menschen:

„Die hatten, wenn sie irgend­was in der Schule gehört haben, nur Nega­ti­ves gehört. Dass aber Leute aus der Armut geholt worden sind, dass es Leute gab, die das erste Mal ein festes Haus bezie­hen konn­ten; dass keine Land­be­set­zun­gen mehr statt­fin­den muss­ten, um sich einen Unter­schlupf aus Pappe und Holz zusam­men­zu­zim­mern; dass es einen halben Liter Milch für die Kinder gab; dass es ein Schu­les­sen gab; dass die Kinder über­haupt zur Schule gehen konn­ten – das wurde eben alles nicht gelernt.“

Ahnungs­voll erkannte Gudrun darin eine Paral­lele dazu, wie auch mit der DDR umge­gan­gen werden sollte:

„Das war eigent­lich der Vorbote darauf, was jetzt bei uns hier statt­fin­det: Dass die DDR also im Wesent­li­chen verun­glimpft wird und selbst posi­tive Errun­gen­schaf­ten immer noch mit einem nega­ti­ven Touch verse­hen werden. Das ist eigent­lich erschre­ckend, was wir damals vor fast 30 Jahren schon gese­hen haben, was hier also jetzt auch in Voll­endung aufge­bo­ten wird.“

Ein Plakat des Soli­da­ri­täts­ko­mi­tees der DDR

Trotz aller Schwie­rig­kei­ten in Latein­ame­rika sieht Nancy das Erbe der UP in den Kämp­fen der linken Kräfte auf dem Konti­nent fortgeführt:

„Allen­des Programm sah vor, dass jedes Kind einen halben Liter Milch bekommt. Genug Essen für alle. Bildung für alle. […] Und man sieht die Wieder­be­le­bung dieser Ziele in den fort­schritt­li­chen Regie­run­gen Latein­ame­ri­kas: Vene­zuela, Boli­vien, Ecua­dor, und so weiter. Sie versuch­ten auch, soziale Gerech­tig­keit durch die bestehen­den Gesetze herbei­zu­füh­ren. Aber das ist unheim­lich schwie­rig. 2000 fing es mit Hugo Chávez in Vene­zuela an. Als Armee­of­fi­zier hatte er das Mili­tär hinter sich. Jetzt gibt es auch einen Versuch in Kolum­bien, aber das steht noch in den Ster­nen. Das ist das Problem mit diesen fort­schritt­li­chen Regie­run­gen in Latein­ame­rika: Die Volks­mehr­heit schafft es, die Exeku­tive (das Präsi­den­ten­amt) zu gewin­nen, aber nicht das Parla­ment, die Justiz und noch weni­ger das Mili­tär. Vene­zuela bleibt hier eine Ausnahme.”

Umso wich­ti­ger ist es ihr, aus den Erfah­run­gen der UP-Zeit zu lernen und soli­da­risch zu sein:

„Weil sie damals auf den Putsch nicht gut vorbe­rei­tet waren, sind viele Genos­sen der Kommu­nis­ti­schen Partei in Chile gefal­len. Sie hatten die Lage nicht gut einge­schätzt. Sie versuch­ten, die Verbrei­tung von Angst zu vermei­den. Aber schließ­lich haben wir uns alle gegen­sei­tig beschützt – sonst wäre ich heute auch nicht hier.“