Interview mit einer chilenischen Emigrantin und einer ehemaligen DDR-Bürgerin über die Unidad Popular und den Putsch gegen sie, über die Flucht aus Chile und das Leben in der DDR
25. September 2023
Einführung
Vor 53 Jahren trat das Parteienbündnis Unidad Popular nach der Wahl Salvador Allendes zum Präsidenten an, die Verhältnisse in Chile grundlegend zu ändern: Ein 40-Punkte-Programm zielte darauf ab, dass kein Bürger mehr hungern oder obdachlos sein sollte, jedes Kind zur Schule gehen kann und die aus der Rohstoffförderung erwirtschafteten Profite in Zukunft den Chileninnen und Chilenen zugutekommen sollten. Drei Jahre später wurden das Bündnis und sein Präsident durch einen vom General Augusto Pinochet angeführten Militärputsch gestürzt. Was folgte, waren Jahre einer faschistischen Diktatur, die Vertreterinnen und Vertreter aller Strömungen des Bündnisses gezielt und unnachgiebig verfolgte, in Lager sperrte, folterte und tötete.
Selbst 50 Jahre nach dem Militärputsch bleiben Vermisste unaufgefunden, geraten weitere Verstrickungen des Westens in den Putsch ans Licht. Wie viele Institutionen dieser Tage möchten wir an das unabgeschlossene Projekt der Unidad Popular und an die internationale Solidarität mit ihm erinnern. Dafür haben wir die Erlebnisse zweier Frauen zusammengetragen, deren unterschiedliche Perspektiven – als chilenische Emigrantin und als engagierte DDR-Bürgerin – unmittelbaren Einblick in die Zeit geben und so eine gemeinsame Geschichte erzählen.
Nancy Larenas lebte bis zum Putsch 1973 in der chilenischen Küstenstadt Valparaíso. Als aktives Mitglied der Bündnispartei MAPU / OC (Movimiento de Acción Popular Unitaria / Obrero Campesino, Bewegung der Unitaren Volksaktion / Arbeiter Bauern), beteiligte sie sich an der Umsetzung des Programms der Unidad Popular, wurde nach dem Putsch am 11. September verfolgt und musste aus dem Land fliehen. Ihr Weg führte sie über Santiago in die BRD, nach Kuba und schließlich in die DDR. Gudrun Mertschenk, geboren 1954, studierte Geschichte und speziell die chilenische Gewerkschaftsbewegung CUT. Sie stand im Austausch mit Chilenen in der DDR u.a. über ihre Arbeit bei der Internationalen Vereinigung der Lehrergewerkschaften (FISE), wo sie sich für Chile engagierte und dafür vom „Büro Chile Antifascista“ ausgezeichnet wurde.
Hoffnung in die Unidad Popular
„Ich persönlich und die Jugend Chiles haben unter dem Eindruck des Siegs der kubanischen Revolution gesehen, dass es möglich ist, unsere Zukunft selbst in der Hand zu haben und nicht für immer unter dem Druck des US-Imperialismus zu leben.
In den 1960er Jahren kommt zwar ein Schwung durch die demokratische Bewegung in Chile auf, aber die Bedingungen waren politisch andere. 1964 wurde Eduardo Frei von der Christdemokratischen Partei Chiles zum Präsidenten gewählt. Diese Regierung hat z.B. angefangen die Agrarreform durchzuführen. Dass das ging, hing damit zusammen, dass die Verfassung von 1925 einige Lücken hatte. Durch diese Lücken in der Verfassung hatte auch die Regierung Allendes eine Veränderung bewirkt, z.B. die Nationalisierung des Kupfers und die Vertiefung der Agrarreform. Das war die damalige Situation, und wir haben uns mit all unserer Kraft in diese Bewegung gestürzt.
Die Unidad Popular machte aber ein Programm für soziale Gerechtigkeit auf Grundlage der bestehenden bürgerlichen Demokratie, also ganz anders als in Kuba. D.h. wir haben nur die Exekutivmacht durch den Präsidenten gewonnen, aber nicht die Abgeordneten, die Senatoren, die Justiz sowieso nicht und die Armee auch nicht.“
Der Sieg des UP-Kandidaten Salvador Allende bei den Präsidentschaftswahlen am 04. September 1970 war für Nancy zwar „eine Hoffnung, das erste Mal! Aber wir haben nicht die Mehrheit gehabt, nur 36%. Dass Salvador Allende in die Regierung kam, wurde am 24. Oktober 1970 im Parlament bei einer Stichwahl entschieden. Die Christdemokratische Partei, die teilweise bei der Agrarreform noch eine fortschrittliche Seite hatte, unterstützte die UP zuerst. Aber danach, beim Putsch, da haben sie mitgemacht. Deswegen sagen wir auch golpe civico militario, denn es war nicht nur das Militär dabei, sondern auch zivile Kräfte.“
Mit dem Wahlsieg der UP waren nicht nur in Chile selbst große Hoffnungen verbunden – im gesamten sozialistischen Lager wurden die Ereignisse mit großer Anteilnahme verfolgt. Auch in der DDR wurde mitgefiebert, wie Gudrun erzählt: „Es waren große Hoffnungen damit verbunden, auch weil vom Westen immer vorgeworfen wurde, der Sozialismus sei ‚blutig‘ oder ‚undemokratisch‘. Auch die kubanische Revolution wurde als ‘undemokratisch’ verunglimpft.“ Doch nun waren Allende und die UP nicht durch einen Volksaufstand, sondern durch die eigenen Mechanismen des bürgerlichen Systems an die Macht gekommen. „Eigentlich hätte man annehmen müssen, dass die westliche Welt Chile jetzt unterstützen würde, zumal sie gerade Prag 1968 und Dubčeks ‚Sozialismus mit menschlichem Antlitz‘ so sehr gepriesen hatten.“ Die Tatsache, dass die UP eine breite Front fortschrittlicher Kräfte repräsentierte, sprach für ihre Legitimität: „Auch in der DDR gab es ein Bündnis, die ‚Nationale Front‘, in der die vier Blockparteien und andere gesellschaftliche Organisationen vertreten waren. So stellte man sich das nun in Chile vor, dass eben ein breites Bündnis herrschte und dafür unterschiedliche Bedürfnisse bedient werden können.“
Nancy selbst war Mitglied einer Partei des UP-Bündnisses: „1971 bin ich in die MAPU eingetreten, sie war eine Abspaltung des linken Flügels der Christdemokratischen Partei. Es war eine kleine Partei, das waren junge Leute, die wollten noch mehr Veränderungen. 1972 hat sich die Partei als marxistisch-leninistisch erklärt und spaltete sich kurze Zeit später. Ich war dann Mitglied der MAPU / Obrero Campesino (Arbeiter und Bauern). Als Organisation hatten wir Zellen in Wohngebieten, in Betrieben und da habe ich das erste Mal Das Kapital gelesen. Die Entwicklung war sehr schnell – wir waren 1.000 Tage in der Regierung, nur 3 Jahre!“
Nach der Verstaatlichung der Kupferminen durch die UP-Regierung stellten die USA ihre Investitionen ein und verhängten drastische Sanktionen, die das auf den Kupferexport spezialisierte Land besonders hart trafen. Es herrschte Devisenmangel und die Inflation grassierte. Da von der Lebensmittelproduktion bis zur ‑verteilung alles in privaten Händen war, wurden die Lebensmittelpreise auf dem entstehenden Schwarzmarkt durch das Aufkaufen und Horten von Waren in die Höhe getrieben. Als Reaktion wurden 1972 Kommissionen zur Versorgung und Preiskontrolle (Juntas de Abastecimiento y Control de Precios, kurz JAP) als Struktur zur Sicherstellung der Lebensmittelversorgung gegründet.
Die MAPU delegierte Nancy in eine solche Kommission:
„Das waren von der Regierung legalisierte Gruppen auf Wohnviertelniveau, die die Preise auf dem Schwarzmarkt kontrolliert haben, wie ein Ministerium. Der Sekretär dieser Organisation war Alberto Bachelet, der Vater von Michelle Bachelet. Er wurde natürlich später festgenommen und im März 1974 starb er im Knast an den Folgen der Folter. Er hatte einen Herzinfarkt. Die JAP zusammen mit den cordones industriales [Arbeiterkollektiven in den Betrieben], waren der Keim der demokratischen Entwicklung an der Basis. Sie setzten sich aus verschiedenen Industrien zusammen, die sich in den Händen der Arbeiter befanden, nachdem die Eigentümer sich weigerten, die Produktion fortzusetzen. Die Arbeiter haben dann den Betrieb verteidigt. Die cordones industriales, von denen es ungefähr 200 gab, waren neben der JAP der zweite Kern der Volksmacht.
Ich wurde Vorsitzender dieser JAP in meinem Viertel. Es war ein bürgerliches Viertel, in dem Mitglieder der Patria y Libertad, einer faschistischen Gruppe, lebten. Wir organisierten die Versorgung von 120 Familien. Die Mitglieder der JAP – nicht alle waren Kommunisten, es gab auch Sozialisten und Christdemokraten – stellten je nach Anzahl der Familien Pakete zusammen. Wir haben mit dem Metzger zusammengearbeitet. Ich ging mit ihm zum staatlichen Fleischverteilungszentrum und wir brachten alles in seinen Laden. Wenn wir die Waren abholen wollten, wurden wir oft von den Faschisten der Patria y Libertad bedroht, sie verfolgten uns und versuchten, uns die Waren wegzunehmen.
Sie versuchten, in die Metzgerei einzudringen als die Waren verteilt wurden, um sie wegzunehmen, aber es gelang ihnen nicht. Wir wussten, dass diese Leute – die Rechten und Ultra-Rechten – Villen, große Häuser und große Lagerhäuser hatten. Sie wollten alle Waren anhäufen, um Knappheit zu verursachen.“
Die Lage spitzt sich zu
Zu der Zeit als Nancy in der JAP tätig ist, war Gudrun gerade einmal 17 Jahre alt. Sie war Mitglied der Freien Deutschen Jugend und in einem Singeklub aktiv. Sie war fasziniert von dem, was sich in Lateinamerika abspielte, hatte Kontakt zu chilenischen Jungkommunisten in der DDR, erlebte zum Festival des politischen Liedes die Gruppe Quilapayún, die ihr „einen ganz besonderen Impuls [gaben] sich mit der spanischen Sprache zu beschäftigen“.
Dass ein Aufbäumen gegen den Imperialismus im eigenen Land nicht einfach hingenommen werden würde, wussten auch Gudrun und die DDR-Bevölkerung:
„Es kam also auch hier in der Berichterstattung schon zum Tragen, dass die bürgerliche Rechte natürlich alles unternommen hat, um nur den Amtsantritt zu verhindern. […] Nichtsdestotrotz hat der Kongress dann Allende gewählt, so dass er am 4. November sein Amt antreten konnte und von da an wurde eigentlich kontinuierlich berichtet, nicht nur über die Verstaatlichung der Kupferminen, sondern auch über die Lebensbedingungen. Wer das aufmerksam verfolgt hat, der konnte sich wirklich darüber informieren […] Es war eine umfassende Berichterstattung und so wurden auch die Namen nicht nur von Allende bekannt, sondern eben auch von Luis Corvalán, dem Vorsitzenden der Kommunistischen Partei, natürlich auch von Gladys Marín, der Vorsitzenden des kommunistischen Jugendverbandes, besonders im Vorfeld der X. Weltfestspiele, die 1973 in der DDR stattfanden. Die Kultur spielte dabei eine große Rolle wie etwa Quilapayún, Isabel Para, […] und auch Víctor Jara, der als noch relativ Unbekannter hier in der DDR gewesen war. Auch andere Namen wie Carlos Altamirano, der Vorsitzende der Sozialistischen Partei, und von der Bewegung der Arbeiter und Bauern… Es fand eine sehr breite Berichterstattung statt, auch über alle Schwierigkeiten, die es gab wie etwa den Streik der Lastwagenfahrer. Der hat sich durch die Nord-Süd-Sperrung in so einem Land wie Chile natürlich unwahrscheinlich ausgewirkt.“
In Chile spitzte sich die Lage indes zu – so auch für Nancy:
„Die Widersprüche waren so stark und wir haben im Prinzip wenig Macht gehabt. Der Putsch kam an einem Dienstag, früh am Morgen. Am vorangehenden Sonntag hatte sich Allende mit allen seinen Ministern und Parteien getroffen. Sie hatten natürlich gesehen, wie ernst die Lage war. Da konnte eigentlich nur ein Bürgerkrieg oder ein Putsch kommen. Aber für einen Bürgerkrieg waren wir letztendlich nicht bewaffnet. Sie haben immer propagiert, wir hätten Waffen, aber das stimmte nicht, wir hatten keine Waffen. Die Rechten und Ultrarechten haben es übrigens 1972 – unter Allende also – geschafft, ein neues Gesetz im Parlament durchzubringen, dass ihnen erlaubte, Waffenkontrollen durchzuführen. Ich selbst bin mit meinen Genossen in solche Kontrollen geraten, bei denen uns die Marine-Kommandos durchsuchten. Das war für mich ein Signal. Ich habe schon gesehen, wie sie agieren.
36 Prozent hatten wir bei den Wahlen 1970 erreicht. Bei der Parlamentswahl im März 1973 bekamen wir 44 Prozent. Wir sind also sprunghaft gewachsen. Das mussten die Faschisten eben stoppen. 1972 begannen sie mit großer Intensität zu versuchen, die Regierung der Volkseinheit zu boykottieren. Es fing dann an, dass Bomben gelegt wurden, um Unruhe zu verbreiten, dass Leute geschlagen wurden – die Widersprüche und der Klassenkampf spitzten sich immer mehr zu.“
Auch im sozialistischen Ausland wurden diese Entwicklungen mit Sorge verfolgt. „Die Angst, dass in Chile dieser hoffnungsvolle Weg abgewürgt wird, die gab es schon viel länger“, erzählt Gudrun.
„Im März 1973 waren Wahlen und da hat die Rechte sehr stark mobilisiert mit dem schönen Erfolg für die Unidad Popular, dass die Stimmenanzahl oder die Prozente viel höher waren als die Prozentzahl, mit der Allende gesiegt hat, was allerdings dazu führte, dass natürlich der Rechten klar wurde, dass mit Wahlen Allende nicht wegzuwischen wäre. Die Angst bei den Rechten ging um, dass sich da womöglich was etabliert, was nicht so schnell wegzukriegen ist, auch nicht aus den Köpfen der Leute. Diese Angst war hier auch durchaus spürbar, aber was sich dann im September 1973 abspielen sollte, das hat niemand erwartet, weder bei uns noch die Chilenen selber, weil sich eigentlich alle daran klammerten, Chiles Armee wäre verfassungstreu. Das war mehr so eine Hoffnung, dass sich die Armee in den Kasernen zurückhalten würde und nicht politisch eingreifen. Das hat sich dann leider als großer Trugschluss erwiesen.“
Nancy: Der Putsch in Chile
„Valparaíso und Vina del Mar wurden an den frühen Morgenstunden des 11. September von Kommandotruppen besetzt. Marineschiffe waren in den Hafen Valparaíso eingelaufen und Kommandotruppen hatten Straßen und Regierungsgebäude, Universitäten besetzt. Die US-Flotte der Operation Unitas war vor der Küste von Valparaíso stationiert. Im Gegensatz zum Putschversuch vom 29. Juni 1973, als das Volk auf die Straße ging, um die Regierung zu verteidigen, wurden dieses Mal die Städte und ihre strategischen Punkte im Schlaf eingenommen, damit sich das Volk nicht mobilisieren konnte.
Die Marinekommandos stürmten die Universität, an der ich Architektur studierte, verhafteten alle Studenten, die sie finden konnten, und brachten sie in LKWs in das erste Gefangenenkonzentrationslager in Valparaíso, das Playa Ancha Stadion.
Als wir aufwachten, waren die Marinekommandos und faschistischen Gruppen der Patria y Libertad überall auf der Straße. Sie kontrollierten die Eingänge zu unserem Gebäude. Nach der Übertragung der letzten Rede unseres Präsidenten Salvador Allende und der Bombardierung des Regierungspalastes war unsere Lage klar, es ging darum, unser Leben zu retten. Wir saßen in einer Mausefalle, wir mussten so schnell wie möglich aus unserer Wohnung und aus dem Gebäude verschwinden.
Doch wir konnten zunächst nicht hinaus. Die Faschisten sammelten sich im Innenhof und feierten die Ereignisse. Sie versperrten den Ausgang und fingen an zu trinken. Erst als einige andere Bewohner des Hauses sich beschwerten, ließen sie die Menschen hinaus. Ich bin mit meinem Mann rausgeschlichen. Er war ein bekannter Gewerkschafter und wir mussten deswegen besonders vorsichtig sein. Die repressive Hetze richtete sich unter anderem gegen Gewerkschafter und JAP-Mitglieder. Das bedeutet, wir hätten keine Überlebenschance gehabt, wenn wir verhaftet worden wären.
Er ging zuerst aus dem Haus und ich danach. Wir hatten im Voraus bestimmte Sicherheitsmaßnahmen abgestimmt. Wenn ihm etwas zustieß, müsste ich sofort die Genossen aufsuchen und Bescheid geben. Und wenn ich selber festgenommen werden würde, hätte ich schreien müssen, sodass es zumindest andere mitbekommen würden. Ich habe meinen Genossen von Anfang an gesagt: Wenn ich festgenommen werde, habt ihr sieben Stunden. Nach sieben Stunden sage ich alles. Ich hatte schon immer Angst gehabt vor Folterungen – wir wussten ja, was kommt! Wir haben viel gelesen, z.B. über die Verbrechen der Diktatur in Brasilien.
Militärkommuniqués im Fernsehen und im Radio ließen nicht lange auf sich warten, um die Militäraktion zu legitimieren und die Unterdrückung der Regimegegner zu rechtfertigen. Ab 15 Uhr wurde im ganzen Land eine ‚Ausgangssperre‘ verhängt. Es war verboten auf die Straße zu gehen, da die Gefahr bestand, von den auf den Straßen patrouillierenden Militärs denunziert, verhaftet oder getötet zu werden. Die Leute hatten Angst. Ich bin die Tage nach dem Putsch, den ganzen Tag umhergelaufen, um nachzudenken. Was mache ich? Welchen Weg gehe ich jetzt? Ich lief auf der Straße und sah Bekannte von der UP, junge Leute. Ich sah die Todesangst in ihren Gesichtern.
Bei all der Gewalt und der militärischen Verfolgung in Valparaíso kam es am 14. September zu einer Widerstandsaktion, die die auf den Straßen patrouillierenden Militärkommandos und Regimenter überraschte, aber keine größeren Auswirkungen hatte, da die Widerständigen nicht über die erforderlichen Kräfte verfügten.“
Gudrun: Die Nachricht vom Putsch in der DDR
„Es war ein Dienstag, für mich war die zweite Studienwoche losgegangen. Ich machte das Radio an und es kam die Meldung, dass die Moneda bombardiert worden ist. Ich weiß noch, ich habe geweint und gedacht, das kann nicht sein! Wie kann eine Armee das eigene Regierungsgebäude bombardieren? Ich meine, Putsche gab es schon viele vor 1973 und nach 1973, und es wurde auch oft die Identifikationsfigur gefangen genommen oder auch erschossen, aber dass der Regierungssitz bombardiert wird, das war schon ein sehr singuläres Ereignis. Ich habe den ganzen Abend versucht, nähere Informationen zu bekommen und ja, wir waren fassungslos. Es ist für mich heute immer noch unglaublich, wenn ich daran denke, an die Bilder. Ich hatte natürlich dadurch, dass ich etliche junge Kommunisten aus dem Kommunistischen Jugendverband kannte, sofort Angst. Denn über ihre Repression wurde ja berichtet. Was geht da vor? Werden sie gefangen genommen? Werden sie gleich erschossen? Werden sie gefoltert? Und im Laufe der Jahre haben wir dann von sehr vielen Toten erfahren.
Während die DDR sofort zu Solidaritätsaktionen aufgerufen hat und es natürlich klar war, dass auf keinen Fall das Regime als solches gestützt werden sollte, was sich auch gar nicht mit unseren Ideen vereinbaren ließ, waren die offiziellen Äußerungen in der BRD: Jetzt werden die Handelsbeziehungen wieder normaler. Die Einschränkung durch die Verstaatlichung der Kupferbergwerke war für die bundesdeutsche Regierung mal wieder der Eingriff in die »Freiheit« schlechthin. Relativ früh tauchte hier die Frage auf, wieso eigentlich die Bundesregierung mit dem sozialdemokratischen Ministerpräsidenten Willy Brandt nicht den Sozialdemokraten bzw. den Sozialisten Allende mehr gestützt hat. Da kam im Prinzip sofort zum Tragen, wer eigentlich wirklich die Macht im Staat hat: Sie waren an der Regierung und glaubten, sie wären an der Macht. Die sozialdemokratische Regierung in der BRD hat also nicht den Sozialisten Allende vor dem Putsch [gewarnt], obwohl sie vorab Informationen hatten. Das Ministerium für Staatssicherheit der DDR hatte Kenntnis erhalten von diesen Informationen, die in der Bundesrepublik vorlagen, und hat dann versucht, noch zu warnen, aber die Warnungen kamen leider zu spät.
Und so war dann also auch das Verhalten nach dem Putsch ganz unterschiedlich. […] Wie wir erst viel später erfahren haben, gab es auch konkrete Maßnahmen der DDR, um Leute zu schützen und aus dem Land zu holen. Denn es wurden ja sofort Listen veröffentlicht mit den meistgesuchten (!) Personen und da tauchten sowohl Luis Corvalán als auch Gladys Marín, Carlos Altamirano, also alle Spitzenfunktionäre auf und es wurde gnadenlos Jagd auf sie gemacht. Das schlimmste Beispiel ist Víctor Jara, der also nur durch die Lieder, die er geschrieben hat, so gehasst wurde von der Rechten, so sehr, dass es früher schon Versuche gab, ihn physisch zu vernichten. Damals wurde ihm immer Schutz gegeben, auch durch den Jugendverband. Als man seiner habhaft wurde, hat man ihn aufs Schlimmste gequält und dann ermordet.“
Flucht und Exil
In der von der Marine besetzten Heimatstadt Nancys wurden die Menschen in den Straßen ständig kontrolliert. Sie berichtet, wie Leute allein aufgrund ihrer Kleidung als Linke identifiziert und verhaftet wurden. Nancy blieb nichts anderes übrig als zu lächeln. Ging sie auf die Straße, zog sie ihre besten Kleider an, schminkte sich und lächelte. Das war die beste, die einzige Tarnung. Sie und ihr Mann machten sich auf den Weg zu ihren Familien, um sich zu verabschieden.
„Am 11. September begann unsere Flucht und dauerte bis Ende November. Am Tag des faschistischen Putsches kamen wir zum Haus meiner Schwiegereltern, um uns vor der Ausgangssperre zu verabschieden. Zwei Tage später nahm die Polizei meinen Schwiegervater fest, als sie auf der Suche nach meinem Mann war. Er saß die ganze Nacht in der Haft, aber kam wieder raus. Meine Schwiegereltern sind Jahrzehnte zuvor selbst aus Deutschland geflohen. Er war Jude aus Frankfurt und wurde damals von der Gestapo verfolgt. Mein Mann hatte also durch seine Eltern einen deutschen Pass.
Im Gegensatz zu unserer Verzweiflung waren meine Schwägerin und ihr Mann sehr froh über den Putsch. Sie hatten mit Champagner die Ereignisse gefeiert. Es gab eben auch innerhalb der Familien diese Polarisierung.
Schließlich gingen wir zum Haus meiner Eltern, die ebenfalls politisch waren. Auch ihr Haus wurde durchsucht und alle Nachbarn schauten bei der Durchsuchung zu. Die Situation wurde für uns immer enger. Während der Ausgangssperren wurden die Stadtteile abgeriegelt und Haus für Haus durchsucht. Diejenigen, die UP-Leute bei sich zuhause hatten, konnten verhaftet oder getötet werden.“
Wochenlang dauerte dieser Zustand für Nancy an, bevor sie im November mit ihrem Mann nach Santiago trampte, wo ihre Partei eine Wohnung für die beiden organisiert hatte. Doch auch von dort mussten sie Hals über Kopf fliehen, als bekannt wurde, dass der Genosse, der ihnen die Wohnung vermittelte, in Valparaíso festgenommen wurde. Nancy landete über ihre JAP-Kontakte bei Bekannten, doch diese wiesen ihren Mann wegen seiner Prominenz ab:
„Für ihn war die einzige Möglichkeit, zur westdeutschen Botschaft zu gehen. Der bundesdeutsche Botschafter Kurt Lüdde-Neurath weigerte sich jedoch, diplomatischen Schutz zu gewähren. Aber mein Mann wehrte sich dagegen, das Gebäude zu verlassen. Er konnte nicht gewaltsam entfernt werden. Andere Chilenen wurden weggeschickt.
Helmut Frenz, der ehemalige Bischof der Evangelisch-Lutherischen Kirche in Chile und Generalsekretär der deutschen Sektion von Amnesty International, übte Druck auf die bundesdeutsche Regierung aus und der Botschafter musste schließlich seine Haltung ändern.“
In ihrer Not wandte sich Nancy ebenfalls an die deutsche Botschaft und beharrte darauf, zu bleiben, da ihr Mann deutscher Staatsbürger sei. Der verantwortliche Kulturattaché gab schließlich nach und instruierte sie, noch am selben Abend an der Residenz des Botschafters zu erscheinen, wo sich Punkt 21 Uhr eine Tür öffnen würde – das sei ihre einzige Möglichkeit. Nancy stimmte zu und um 16 Uhr fuhr sie zusammen mit einem Genossen ihrer Partei (MAPU-OC) in dessen Auto zur Residenz des Botschafters.
„Wir suchten die Seitentür, konnten sie aber nicht finden. Der Genosse musste gehen und ich fuhr vier Stunden lang herum, immer mit einem Lächeln. Ein paar Minuten vor 21.00 Uhr traf ich meinen Genossen auf einem kleinen Platz hinter der Residenz des Botschafters. Er sollte die Partei informieren, wenn etwas schiefläuft und ich festgenommen werde. Die Straße war vom Militär überwacht. Während wir noch überlegten, was wir tun sollten, tauchte ein junger Mann auf und lief zielstrebig in Richtung der Seitenstraße der Residenz. Ich wusste instinktiv, dass ich ihm folgen musste. Ich verabschiedete mich von meinem Genossen und lief dem jungen Mann hinterher. Der sprang plötzlich zur Seite, und zeigte mir so die Seitentür. Es stellte sich heraus, dass er ein Arzt und Mitglied der Kommunistischen Partei war.”
In der Residenz wurde Nancy von einer BND-Kommission verhört, erhielt einen Fremdenpass und wurde zum Flughafen begleitet, weil sie auf dem Weg zum Flughafen immer noch hätte festgenommen werden können. Im Dezember 1973 wurde Nancy kurz nach der Ausreise ihres Mannes aus ihrer verlorenen Heimat nach Westdeutschland ausgeflogen. Die beiden wurden nach Hanau gebracht in „eine Flüchtlingsunterkunft, wo auch Russen und ehemalige DDR-Bewohner untergebracht waren. Jede Familie, egal wie groß, hatte nur ein Zimmer, es gab eine Toilette für alle, zum Abwaschen nur ein Waschbecken, nichts weiter.“
Nancy und ihr Mann reisten nach Kuba aus, von wo sie eigentlich nach Argentinien wollten, doch dort fand bereits der nächste Militärputsch statt. 1976 sollten sie zurück in die BRD „und ich sagte, nein, kommt für mich nicht in Frage.“ Stattdessen sorgte ihre Partei dafür, dass sie in die DDR gehen konnte.
Ankunft in der DDR
Unmittelbar nach dem Putsch wurde die DDR das Hauptaufnahmeland für chilenische Exilanten in Osteuropa. Sie nahm etwa 2.000 Flüchtlinge auf und stattete sie mit einem zinslosen Kredit und neuen Wohnungen aus, erinnert sich Gudrun: „Relativ schnell wurden konkrete Maßnahmen umgesetzt. Die Flüchtlinge – wir nannten sie damals Emigranten – wurden nicht nur nach Berlin, sondern in verschiedene Bezirke verteilt. […] Es war von vornherein klar, sie würden nicht nur aufgenommen und sich selbst überlassen werden, sondern sie bekamen Wohnungen, was zu dem Zeitpunkt in der DDR auch nicht so einfach war, weil wir immer noch ein großes Wohnungsproblem hatten. Glücklicherweise hat das Wohnungsbauprogramm schon begonnen, sodass die chilenischen Emigranten eigentlich immer entsprechende Wohnungen erhielten. Auch Schule und Ausbildung, Arbeitsstellen und Studienplätze, sodass viele relativ nahtlos – trotz der Sprachbarriere natürlich – ihre Ausbildung fortsetzen konnten. Dasselbe galt für ihre Berufe, die sie dann entweder hier erst abgeschlossen haben oder in denen sie arbeiten konnten.“
Auch Nancy schloss ihr Studium in der DDR ab, promovierte und arbeitete dort. Das Land wurde ihr schnell zu einem neuen Zuhause:
„In der DDR hatte ich vieles bekommen, was ich noch nie hatte – in Chile nicht und in der BRD sowieso nicht. Ich hatte alles, was ich brauchte, um mich zu entwickeln. In Magdeburg wurde ein neuer Wohnblock für uns Chilenen bereitgestellt. Wir erhielten 5.000 DDR-Mark pro Kopf. Das war viel Geld damals. Damit konnten wir alle Haushaltsgeräte, Möbel und Bettwäsche kaufen, die wir brauchten. Ich hatte meine Wohnung noch nie mit Teppich ausgelegt! Alles war neu. Wir mussten natürlich monatlich Miete bezahlen, aber es war relativ gering. Wir haben 50 DDR-Mark für drei Zimmer bezahlt. Durch die Arbeit habe ich allein 660 Mark verdient und das Gehalt meines Mannes kam dann dazu.“
Für die Chilenen wurde in den frühen Morgenstunden von 7 bis 9 Uhr Deutschunterricht organisiert, damit sie lernen konnten, bevor sie zur Arbeit oder zur Universität gingen. Da Nancy erst später dazu kam und der Lehrer wegen Krankheit nicht mehr unterrichtete, begann sie ohne Sprachkenntnisse im Wohnungsbaukombinat Magdeburg zu arbeiten. Dort schloss sie sich einer Arbeitsbrigade an:
„Die Brigade traf sich jede Woche, um die geleistete Arbeit zu besprechen und die neue Arbeit zu planen. Ich arbeitete mit Architekten, Absolventen aus Weimar, die das Stadtzentrum von Magdeburg neugestalteten. Wir arbeiteten in einer kameradschaftlichen Atmosphäre, unser Büro war das verrückteste von allen, natürlich, mit so vielen Architekten.
Die Sozialisation in der DDR hat mich geprägt und in meiner kommunistischen Überzeugung bestärkt. Die Gesetze haben mich auch beeindruckt: Als Frau hatte ich genauso viele Rechte wie die Männer. Das hatte ich vorher noch nie erlebt. Im Wohnungsbaukombinat Magdeburg oder im Baubetrieb in Jena gab es zusätzliche Räume nur für Frauen, in die sie sich zurückziehen konnten, wenn sie sich unwohl fühlten. Es gab auch einen Tag bezahlte Hausarbeit pro Monat. Natürlich war das alles ein Prozess, die Frauen machten immer noch zu viel Hausarbeit zusätzlich zu ihrer Arbeit im Betrieb. Aber es ging in die richtige Richtung. Die Zeit in der DDR war für mich sehr gut.
Ich habe damals auch gesehen, wie die Propaganda des Westens gegen die DDR immer intensiver wurde. Sie zielte darauf ab, den Neid auf Luxusgüter im Westen zu wecken: Kleidung oder tropische Früchte und so weiter.“
Die geflüchteten Mitglieder der verschiedenen UP-Bündnisparteien setzten ihren politischen Kampf im Exil fort. In der DDR konnten sich „die Strukturen der Unidad Popular […] in gewisser Weise wieder etablieren, dank des Engagements des Büros Chile Antifascista“, erklärt Gudrun.
„Dieses Büro ging hervor aus der chilenischen Botschaft in der DDR, und wurde zum Dreh- und Angelpunkt für Solidaritätsaktionen in den unterschiedlichen Ländern und zur Pflege der Kontakte zu unseren politischen Organisationen. Die Kommunistische Partei Chiles hatte ihren Hauptsitz in Moskau, während die Sozialistische Partei ihren Sitz hier in der DDR hatte. Da spielte sicherlich auch eine Rolle, dass […] der Generalsekretär der Sozialistischen Partei, Carlos Altamirano, im Kofferraum des Autos eines DDR-Geheimdienstmitarbeiters aus Chile herausgeschmuggelt wurde. Altamirano fand dann erstmal Asyl in der DDR. Nach dem Putsch unterbrach die DDR die diplomatischen Beziehungen zu Chile. Es wurde nur noch eine Handelsvertretung in Chile erhalten, die dafür benutzt wurde, mehr Leute rauszuholen.“
In der Internationalen Vereinigung der Lehrergewerkschaften (FISE), die in den 1980er Jahren ihren Sitz in Berlin hatte, arbeitete Gudrun gemeinsam mit chilenischen Kollegen, um über die Lage in Chile zu informieren und Genossen zu unterstützen:
„Ich habe nicht nur Dienst nach Vorschrift gemacht, sondern habe mich besonders für die chilenische Sache eingesetzt. […] Ich hatte den Kontakt zu den unterschiedlichen chilenischen Lehrergewerkschaften gehalten und die Leute betreut, wenn Sie hier waren. Wir hatten auch mit Radio Moskau ab und zu Kontakt gehabt, um Aufrufe zu verlesen und so weiter. Ich habe deshalb die Auszeichnung ‚Ehrenurkunde für Chile-Solidarität des Büros Chile Antifascista‘ bekommen.“
„Die Solidarität war massiv“, bestätigt Nancy. „Es gab viele Veranstaltungen über Chile und wir waren sehr privilegiert. Sie haben uns alles gegeben. Bis heute berührt mich diese Erfahrung.“ Auch Westdeutschland, das sich zunächst gegen die Aufnahme politischer Flüchtlinge sträubte, nahm schließlich Mitglieder verschiedener UP-Parteien auf, wenn auch widerwillig, wie Nancy betont: „Im Westen war die ganze CDU gegen die Chilenen. Wir wurden als Terroristen bezeichnet. Sie haben politische Emigranten aus Chile nur da aufgenommen, wo die SPD regierte – in Hamburg, Frankfurt, West-Berlin, Hannover, und so weiter.“
Nach 1990
1988 unternimmt Nancy den Versuch, ein neues Leben in Chile zu beginnen. Knapp zwei Jahre lang bemüht sie sich, in der alten Heimat Fuß zu fassen, doch die schlechten Bedingungen verunmöglichen das Vorhaben. Sie brauchte zwei Jahre, um ihren akademischen Abschluss anerkennen zu lassen, ohne dabei Geld verdienen zu können. Als sie zurückkehrt, befindet sich die DDR in Auflösung:
„Dann kam unsere große Niederlage. Ich kam zurück und befand mich plötzlich wieder im Kapitalismus! Alles war weg und ich musste wieder von null anfangen. Ich war in Berlin und hatte keine politische Heimat mehr. Die MAPU war zwar marxistisch-leninistisch, aber die Mitglieder waren überwiegend kleinbürgerlich – Rechtsanwälte, Wissenschaftler – da waren wenige Arbeiter und Bauern. 1996 bin ich dann hier in Deutschland in die Kommunistische Partei Chiles eingetreten. Das war nach unserer Niederlage die einzige Partei, die meine Ideale ausdrückte. Die Chilenen in der DDR hatten Angst, denn es bestand die Gefahr, dass die BRD uns ausliefern könnte. Sie gründeten daher einen Verein, um uns zu schützen.“
In Chile selbst wirkt die Diktatur noch lange nach. Seit 1990 reisen Gudrun und ihr Mann regelmäßig in das Land. Schnell fiel ihnen auf, wie die Ausstreichung des sozialistischen Projekts sich auch nach dem Ende der Diktatur fortsetzt. Gudrun berichtet von ihren Reisen in den 1990er Jahren vom Flüstern linker Aktivisten, vom Schweigen der Verantwortlichen, vom Fehlen der UP-Zeit in den Geschichtsbüchern und Allendes im öffentlichen Raum:
„Wir haben Freunde besucht, alles Leute, die ich über die FISE kennengelernt hatte. Leute, die Chile nie verlassen haben, und Leute, die emigrieren mussten und dann zurückgegangen waren. Es war sehr interessant zu sehen, weil 1995 die Diktatur wirklich noch sehr präsent war auch bei diesen Leuten selbst. Wir haben uns immer vorgestellt als ehemalige DDR-Bürger und hatten ganz unterschiedliche Reaktionen: Manche sagten gar nichts, andere sagten, die haben uns gleich geholfen – dann wurde aber auch sofort leiser gesprochen. Das war wirklich auffällig. Wir waren bei Bekannten im Bildungsministerium und mussten feststellen, dass also auch dort die Geschichte natürlich vom Sieger geschrieben wird und die Unidad Popular entweder gar nicht in den Schulbüchern vorkam oder negativ belastet. Wir sahen auch ein Monument, wo alle chilenischen Präsidenten seit der Unabhängigkeit 1818 aufgeführt waren, nur im Jahre 1970 gab es keinen Präsidenten, der letzte war Eduardo Frei und dann wurde Pinochet genannt. Also Allende erschien gar nicht und das war schon sehr erstaunlich für uns.“
Als das Ehepaar auf seiner Reise zwei Trampende mitnahm und Gudrun erklären musste, dass sie ihr Spanisch mit chilenischen Emigranten geübt hatte, trafen sie auf Unverständnis. Emigranten waren jene, die der Zeit entflohen waren, in der es „nichts gab, nichts zu essen, keine Arbeit“. Ein völlig distanziertes und verzerrtes Bild dieser Zeit begegnete Gudrun dort unter jungen Menschen:
„Die hatten, wenn sie irgendwas in der Schule gehört haben, nur Negatives gehört. Dass aber Leute aus der Armut geholt worden sind, dass es Leute gab, die das erste Mal ein festes Haus beziehen konnten; dass keine Landbesetzungen mehr stattfinden mussten, um sich einen Unterschlupf aus Pappe und Holz zusammenzuzimmern; dass es einen halben Liter Milch für die Kinder gab; dass es ein Schulessen gab; dass die Kinder überhaupt zur Schule gehen konnten – das wurde eben alles nicht gelernt.“
Ahnungsvoll erkannte Gudrun darin eine Parallele dazu, wie auch mit der DDR umgegangen werden sollte:
„Das war eigentlich der Vorbote darauf, was jetzt bei uns hier stattfindet: Dass die DDR also im Wesentlichen verunglimpft wird und selbst positive Errungenschaften immer noch mit einem negativen Touch versehen werden. Das ist eigentlich erschreckend, was wir damals vor fast 30 Jahren schon gesehen haben, was hier also jetzt auch in Vollendung aufgeboten wird.“
Trotz aller Schwierigkeiten in Lateinamerika sieht Nancy das Erbe der UP in den Kämpfen der linken Kräfte auf dem Kontinent fortgeführt:
„Allendes Programm sah vor, dass jedes Kind einen halben Liter Milch bekommt. Genug Essen für alle. Bildung für alle. […] Und man sieht die Wiederbelebung dieser Ziele in den fortschrittlichen Regierungen Lateinamerikas: Venezuela, Bolivien, Ecuador, und so weiter. Sie versuchten auch, soziale Gerechtigkeit durch die bestehenden Gesetze herbeizuführen. Aber das ist unheimlich schwierig. 2000 fing es mit Hugo Chávez in Venezuela an. Als Armeeoffizier hatte er das Militär hinter sich. Jetzt gibt es auch einen Versuch in Kolumbien, aber das steht noch in den Sternen. Das ist das Problem mit diesen fortschrittlichen Regierungen in Lateinamerika: Die Volksmehrheit schafft es, die Exekutive (das Präsidentenamt) zu gewinnen, aber nicht das Parlament, die Justiz und noch weniger das Militär. Venezuela bleibt hier eine Ausnahme.”
Umso wichtiger ist es ihr, aus den Erfahrungen der UP-Zeit zu lernen und solidarisch zu sein:
„Weil sie damals auf den Putsch nicht gut vorbereitet waren, sind viele Genossen der Kommunistischen Partei in Chile gefallen. Sie hatten die Lage nicht gut eingeschätzt. Sie versuchten, die Verbreitung von Angst zu vermeiden. Aber schließlich haben wir uns alle gegenseitig beschützt – sonst wäre ich heute auch nicht hier.“