Inhaltsverzeichnis
Einleitung
Zum 70. Mal jähren sich die Ereignisse um den 17. Juni 1953 in der DDR. Bis heute löst der Jahrestag ein großes Medienecho und zum Teil scharfe und kontroverse Debatten aus. Weithin wird das, was damals in der DDR passierte, als Volksaufstand gewertet, der sich gegen ein repressives sozialistisches Regime richtete und erst durch den Einsatz der Roten Armee brutal niedergeschlagen wurde. Diese Beschreibung entspricht in etwa derjenigen, die die westliche Presse bereits zum Zeitpunkt des Geschehens verbreitete. In der DDR selbst wurden die Ereignisse von offiziellen Stellen als ein faschistischer Putschversuch eingeschätzt. In der Öffentlichkeit und in akademischen Kreisen gibt es heute wenig bis keinen Raum, das Geschehen und seine Hintergründe sachlich und abseits vom dominanten Narrativ eines Volksaufstandes zu besprechen. Wir wollen mit dieser kleinen Übersicht von Artikeln über die Juni-Ereignisse wichtige Hintergründe beleuchten und insbesondere unseren internationalen Lesern zugänglich machen.
Worum geht es? Am 16. Juni kam es in der DDR zu vereinzelten spontanen Protesten, insbesondere auf einer der größten Baustellen des Landes in der damaligen Berliner „Stalinallee“ (heute Karl-Marx-Allee). Am 17. Juni fanden in 373 Orten der DDR Streiks und Demonstrationen statt. Um diesen Tag herum beteiligten sich ca. 600.000 Menschen an Protesten, unter 5 % der Arbeiter der DDR nahmen teil.1Zahlen zu Teilnehmern zitiert nach Latzo: „Sieben Uhr früh am Strausberger Platz“ (2023) und Gossweiler/Itzerott: „Die Entwicklung der SED“ (2009). An einigen Stellen schlugen die Proteste in Gewalt um. Es gab Brandstiftungen, Angriffe auf die Volkspolizei, sogar Lynchmord. Mittags am 17. Juni verhängte die Sowjetische Kontrollkommission in Übereinstimmung mit den Organen der DDR und entsprechend dem Besatzungsrecht den Ausnahmezustand. Die einrückenden sowjetischen Truppen demonstrierten mit Panzern vor allem Präsenz. Die Proteste kamen zu einem schnellen Ende. Am 25. Juni 1953 sprach die DDR-Regierung von 19 toten Demonstranten und 126 Verletzten.2Dr. G. Möbus: „Der Volksaufstand des 17. Juni 1953 in der sowjetischen Besatzungszone und in Ostberlin“, 1954. Eine Studie von 2004 zählt 55 Personen, die im Kontext des 17. Juni zu Tode kamen.3Die Opferzahlen sind umstritten. Neben 34 Demonstranten, 7 zu Tode Verurteilten und 5 Angehörigen der Sicherheitsorgane der DDR zählt die Studie auch Inhaftierte, die Selbstmord begangen haben und an den Folgen der Haftbedingungen verstorben sind. Zitiert nach: Bundeszentrale für politische Bildung: „Die Toten des Volksaufstandes vom 17. Juni 1953“, 2013.
Konkreter Ausgangspunkt für den Unmut in der Bevölkerung der DDR war vor allem ein Beschluss zur Erhöhung der Normen um 10%, was bedeutete, dass bei gleichem Lohn eine höhere Arbeitsleistung erbracht werden musste. Sparmaßnahmen im sozialen Bereich sorgten zusätzlich für Ärger. Die meisten dieser Maßnahmen, nicht aber die Normenerhöhung, wurden bereits Anfang Juni von der SED zurückgenommen (die Gründe dafür werden im Folgenden näher erläutert). Der 17. Juni ereignete sich erst acht Jahre nach dem Sieg über den Faschismus. Die deutsche Bevölkerung schaffte es nicht sich selbst zu befreien, die Zahl der Widerstandskämpfer und Antifaschisten war relativ gering. Antikommunismus, ein zentrales ideologisches Fundament der Nazis, war immer noch verbreitet in der deutschen Bevölkerung in West und Ost.
Die führenden politischen Kreise Westdeutschlands und der USA hatten das sozialistische Lager nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges aktiv bekämpft und mit Wirtschaftsblockaden, Sabotageaktionen und subversiven Maßnahmen auf das Zustandekommen einer politischen Krise insbesondere in der sowjetischen Besatzungszone in Deutschland hingearbeitet. In den Führungskreisen westdeutscher Politiker sprach man offen von einem „Tag X“, an dem man die DDR zurückerobern würde, auch mit militärischen Mitteln. Der damalige Bundesminister für gesamtdeutsche Fragen Jakob Kaiser schrieb in einer Erklärung vom 24. März 1952: „Es liegt durchaus im Bereich der Möglichkeiten, dass der Tag X rascher kommt, als Skeptiker zu hoffen wagen. Es ist unsere Aufgabe, für die Probleme bestmöglich vorbereitet zu sein. Der Generalstabsplan ist so gut wie fertig …“4Zitiert nach Stefan Heym: “Fünf Tage im Juni”. Die aggressiven Absichten des Westens für den „Tag X“ wurden von Gerhard Schröder, dem damaligen Innenminister der BRD, unterstrichen, als er am 13. Juni 1953 sagte: „Die Bundesrepublik ist Deutschland. Alles andere deutsche Gebiet ist uns entzogenes und vorenthaltenes Territorium, das zurückgegliedert werden muss.“
So nutzten die Westkräfte diesen Moment der politischen Krise und Schwäche im Juni 1953 aus, mobilisierten Kräfte aus Westberlin und aktivierten eine auf Hochtouren arbeitende feindliche Berichterstattung, um die Proteste anzuheizen und explizit in einem antikommunistischen Sinne zu beeinflussen. Bereits wenige Wochen nach dem 17. Juni 1953 wurde der Tag in Westdeutschland zum arbeitsfreien Nationalfeiertag erklärt und bis 1990 als „Tag der Deutschen Einheit“ begangen. Dass ein Protest in einem anderen Land zum zentralen Nationalfeiertag erklärt wurde, verdeutlicht die aggressiv-feindliche Haltung Westdeutschlands zur DDR und impliziert bereits eine Inanspruchnahme des Protestes. Zugleich unterschlägt der propagierte Wunsch nach der Einheit Deutschlands die deutliche Absage des Westens an ein einheitliches, demokratisches und blockfreies Deutschland.
Ohne ein genaues Verständnis des historischen Kontextes, der aggressiven „Roll-Back“-Strategie des Westens, der Auseinandersetzungen um die Deutschlandfrage, des Beschlusses für den Aufbau der Grundlagen des Sozialismus in der DDR, der Hintergründe für die beschlossenen Sparmaßnahmen, der Widersprüche zwischen der SED und der neuen politischen Führung der Sowjetunion nach dem Tod Stalins (5. März 1953) sind die Juni-Ereignisse 1953 nicht zu verstehen.
Der 17. Juni 1953 steht für eine äußerst kritische Phase des sozialistischen Lagers und insbesondere der DDR, wo der Aufbau des Sozialismus für einen Moment auf der Kippe stand. Entscheidend dafür waren weniger, so zeigt eine Beschäftigung mit den historischen Analysen, der Unmut der Bevölkerung, sondern die Fehler und Schwächen der politischen Führung der DDR und der KPdSU, die Lücken verursachten, die das bereits voll auf die Systemauseinandersetzung ausgerichtete westliche Lager offensiv ausnutzte. Die vier kurzen Textauszüge spüren den Hintergründen dieser Phase nach.
In den beiden Auszügen von Dr. Jörg Roesler, die anlässlich des 60. Jahrestages des 17. Juni verfasst wurden, beschreibt der Wirtschaftshistoriker die aggressive Politik der USA und Westdeutschlands gegen die DDR und das sozialistische Lager und zeigt beispielhaft die geschickt betriebene Medienpropaganda der Westmächte auf.
Der Text des Historikers Kurt Gossweiler und des ehemaligen SED-Funktionärs Dieter Itzerott verfolgt den historischen Kontext und die Konsequenzen des Strategiewechsels hin zum Aufbau des Sozialismus in der DDR und legt die widersprüchliche Beziehung zwischen SED und KPdSU als einen treibenden Faktor der Krise offen. Sie entwickeln die These, dass es Teile der politischen Führung in der DDR und der Sowjetunion gab, die die Ereignisse um den 17. Juni 1953 nutzen wollten, um Walter Ulbricht als führenden Kopf der DDR zu stürzen.
Der Textauszug von Dr. Anton Latzo macht deutlich, wie aktiv die politischen Führungskreise aus der Bundesrepublik Deutschland und den USA versucht haben einzugreifen und das Momentum für ihre politischen Ziele zu nutzen.
In seinem Brief an den westdeutschen Verleger Peter Suhrkamp schildert der Dramatiker und Lyriker Bertolt Brecht seine persönlichen Eindrücke von den Juni-Ereignissen und konfrontiert damit das Narrativ vom Volksaufstand.
Dr. Jörg Roesler über die aggressive “Roll-back“-Strategie des Westens 1953
Dr. Jörg Roesler (*1940) ist ein deutscher Wirtschaftshistoriker. Von 1974 bis 1991 war er Bereichs- und Abteilungsleiter am Institut für Wirtschaftsgeschichte der Akademie der Wissenschaften der DDR. Danach arbeitete er am Leibniz-Zentrum für Zeithistorische Forschung in Potsdam und war Gastprofessor in Kanada und den USA, unter anderem an der McGill University und der Portland State University. 2013 publizierte er anlässlich des 60. Jahrestags des 17. Juni 1953 eine Artikelreihe in der Tageszeitung jungeWelt. Aus zwei Artikeln daraus haben wir Ausschnitte ausgewählt. In diesem ersten Auszug aus dem Artikel „Strategiewechsel“ skizziert Roesler die besonders aggressive Wendung der westlichen Politik kurz vor den Juni-Ereignissen 1953.
Am 20. Januar 1953 legte General Dwight D. Eisenhower, ehemals Oberbefehlshaber der Armeen der Westalliierten im Kampf gegen Hitler und erster NATO-Oberbefehlshaber, in Washington den Präsidentschaftseid ab. Daß ein Militär an die Spitze der westlichen Großmacht trat, war geeignet, in der seit einem dreiviertel Jahr stark angespannten Situation zwischen den beiden Blöcken – dem »sozialistischen Lager« auf der einen und den seit der Verkündung des Marshallplans (1948) und der Gründung der NATO (1949) an die USA gebundenen westeuropäischen Staaten auf der anderen Seite – vorhandene Ängste zu verstärken: Der Kalte Krieg könnte zu einem »heißen« werden.
Vielleicht noch mehr als Eisenhowers Amtseinführung beunruhigte den Osten die Ernennung von John Foster Dulles zum Außenminister. Der von Eisenhower mit besonderen Vollmachten ausgestattete US-Politiker hatte in seinem 1950 veröffentlichten Buch die »Roll back«-Theorie entwickelt. Diese sollte nach seinem Vorschlag an Stelle der von der Vorgängerregierung des Demokraten Harry S. Truman verfolgten »Containment-Politik« treten. Ihr Ziel hatte darin bestanden, weitere »kommunistische Okkupationen« nicht mehr zuzulassen. Dulles propagierte in seinem Buch darüber hinaus das »Zurückrollen« des Kommunismus in Osteuropa. Entsprechend ausgerichtet wurden die 1946 bzw. 1950 gegründeten US-amerikanischen Propagandasender »Voice of America« und »Radio Free Europe«. Hinzu kam 1953 noch das »Radio Liberation« (später »Radio Liberty«). Diese Sender verkündeten Tag für Tag, daß die Vereinigten Staaten die Befreiung der »von den Sowjets besetzten Länder« als Hauptziel ihrer Außenpolitik betrachteten.
Noch ein dreiviertel Jahr zuvor hatte es so ausgesehen, als ob es möglich wäre, wenigstens in Europa die Blockkonfrontation signifikant zu entschärfen. Am 10. März 1952 hatte die Sowjetunion in einer Note an die drei Westmächte vorgeschlagen, »unverzüglich die Frage eines Friedensvertrages mit Deutschland zu erwägen«. Die sowjetische Regierung hatte ihrer Note einen Entwurf zu einem solchen Vertrag beigefügt, der als Hauptpunkt die »Wiederherstellung Deutschlands als einheitlicher Staat innerhalb der von der Potsdamer Konferenz festgelegten Grenzen« vorschlug. Er enthielt als Preis dafür aber auch die Verpflichtung Deutschlands, »keinerlei Koalitionen oder Militärbündnisse einzugehen, die sich gegen irgend einen Staat richten, der mit seinen Streitkräften am (Zweiten Welt-)Krieg gegen Deutschland teilgenommen hat«. Der sowjetische Vorschlag kam für den Westen überraschend und irritierte besonders Konrad Adenauer, der als Bundeskanzler ganz auf die Westintegration und damit auf die Teilung Deutschlands setzte. »Nach allem, was wir über die sowjetische Politik wissen«, schreibt der österreichische Historiker Horst Steininger, »war das Angebot Stalins ernst gemeint.«
Die drei Westmächte lehnten die sowjetische Offerte – mit vollem Einverständnis des westdeutschen Bundeskanzlers – ab. Sie ließen sich bei ihrem bereits angelaufenen Vorhaben, die Bundesrepublik in die westlichen Militärstrukturen zu integrieren, nicht mehr stören. Bereits am 25. März übermittelten sie der sowjetischen Seite ihre Ablehnung. Bis zum September 1952 tobte zwischen den ehemaligen Alliierten zwar noch eine »Notenschlacht« um die deutsche Frage, gleichzeitig wurden aber von westlicher Seite Tatsachen geschaffen. Ende Mai 1952 unterzeichneten Frankreich, Italien, die Benelux-Staaten und die Bundesrepublik, von den USA inspiriert, den Vertrag über die »Europäische Verteidigungsgemeinschaft«. Der EVG-Vertrag sah die Integration der nationalen Streitkräfte dieser Staaten unter einem gemeinsamen Oberbefehl vor.
Für die Bundesregierung unter Adenauer war die Ablehnung der »Stalin-Note« durch die Westmächte das Signal, ihre Pläne für ein »Roll back« in Deutschland mit größerem Nachdruck, als das bisher möglich gewesen war, voranzutreiben – auch »wissenschaftlich«. Noch im März 1952 hielt der »Forschungsbeirat für Fragen der Wiedervereinigung Deutschlands« seine konstituierende Sitzung ab. Jakob Kaiser, im ersten Kabinett Adenauer der Minister für »gesamtdeutsche Fragen«, schlußfolgerte in seiner Eröffnungsrede aus der negativen Antwort der Westmächte auf den sowjetischen Friedensplan für Deutschland: Nunmehr könne der »Tag X«, an dem der Anschluß der »Sowjetische Besatzungszone« an die Bundesrepublik stattfinden werde, schneller kommen als geglaubt. Man müsse auf alle damit verbundenen Probleme vorbereitet sein, um durch die Wiedervereinigung mit der »SBZ« den ersten Schritt zur »Restauration der Zustände vor dem Kriege« einzuleiten. Dabei, so äußerte sich Friedrich Ernst, ein Mitglied des Planungsstabes des Forschungsbeirates, müsse eine dauerhafte Kooperation dieses Beirates mit Gruppierungen wie dem »Untersuchungsausschuß freiheitlicher Juristen« und der »Kampfgruppe gegen Unmenschlichkeit« hergestellt werden. […]
Dr. Kurt Gossweiler und Dieter Itzerott über die Entscheidung für den Aufbau des Sozialismus in der DDR und Konflikte zwischen der KPdSU und der SED
Dr. sc. Dr. h.c. Kurt Gossweiler (*1917–2017) war ein marxistischer Historiker. Einer seiner Schwerpunkte liegt in der Forschung zum deutschen Faschismus. Dieter Itzerott (*1931–2020) hatte leitende Funktionen in der Freien Deutschen Jugend und der SED inne. Ihr gemeinsamer Text „Die Entwicklung der SED“ ist erstmalig im Buch „Unter Feuer“, herausgegeben von offen-siv, 2009 erschienen. Die hier ausgewählten Ausschnitte sind drei Unterkapiteln entnommen, die vor allem das Verhältnis zwischen der KPdSU und der SED Anfang der 1950er Jahre beleuchtet, als die beiden Parteien die Entscheidung trafen, mit dem Aufbau des Sozialismus in der DDR zu beginnen.
[…] Nach der Gründung der DDR konnte die Partei – anders als in den volksdemokratischen Nachbarländern – nicht die Aufgabe stellen, mit dem Aufbau des Sozialismus zu beginnen. Dort, in Polen, der Tschechoslowakei, Rumänien und Bulgarien, war der Schritt von der antifaschistisch-demokratischen zur sozialistischen Ordnung in den Jahren 1948/1949 getan worden. In der DDR war das noch nicht möglich, weil – wie das ja auch im Stalin-Telegramm zum Ausdruck gebracht worden war, – das erstrangige strategische Ziel noch die Herstellung eines einheitlichen demokratischen Deutschland war.
Aber früher oder später musste auch in der DDR eine klare Entscheidung über ihren weiteren Entwicklungsweg fallen, und das konnte, – wenn es nicht gelang, in absehbarer Zeit das Ziel eines einheitlichen demokratischen Deutschland zu erreichen –, auf Grund ihres Klassencharakters nur die gleiche Entscheidung sein wie bei den brüderlich befreundeten östlichen Nachbarn. Seit 1950 gehörte die DDR schon dem 1949 gegründeten Rat für gegenseitige Wirtschaftshilfe – RGW – an.
Die Westmächte taten ihrerseits alles, die Spaltung Deutschlands zu vertiefen, Westdeutschland zu remilitarisieren und zu einer Speerspitze für die Aggression gen Osten aufzurüsten. Schon im Dezember 1950 gaben die Teilnehmer der Ratstagung der NATO in Brüssel ihre „völlige Übereinstimmung über die Rolle, die Deutschland – also die BRD – in der NATO übernehmen könnte“, bekannt. Und im September 1951 einigten sich die USA, England und Frankreich in einer Konferenz in Washington über die Bedingungen der Remilitarisierung Westdeutschlands und über seine Eingliederung in die NATO.
Um dem entgegenzuwirken und um den Protest erheblicher Teile der westdeutschen Bevölkerung gegen den Remilitarisierungskurs und ihre Forderungen nach einer friedlichen Einigung Deutschlands zu unterstützen, forderte die Regierung der DDR im Februar 1952 in einer Note die vier Großmächte – die drei Westmächte und die UdSSR – dazu auf, den Abschluss eines Friedensvertrages mit Deutschland zu beschleunigen. Die Sowjetunion war die einzige der „Großen Vier“, die darauf eine positive Antwort gab.
Mehr noch: Am 10. März 1952 richtete sie eine Note an die Westmächte mit dem Entwurf eines Friedensvertrages. Es war dies die berühmte Stalin-Note, über deren Zielsetzung und dahinter stehende Absichten Stalins schon ganze Bibliotheken füllende Artikel und Bücher geschrieben wurden und noch immer werden, wobei auch unsinnigste und abwegigste Thesen vertreten werden […]. Die Sowjetunion schlug in dieser Note vor, einen Friedensvertrag mit Deutschland abzuschließen und legte zugleich den Entwurf eines solchen Vertrages vor: Deutschland sollte als einheitlicher Staat in den vom Potsdamer Abkommen festgelegten Grenzen wiederhergestellt werden, eigene zur Verteidigung notwendige Streitkräfte besitzen dürfen und sich verpflichten, keine Koalitionen oder Militärbündnisse einzugehen, die sich gegen irgendeinen Staat der Antihitlerkoalition richten. […]
Am 1. und 7. April 1952 beriet eine Delegation der SED-Führung – Wilhelm Pieck, Walter Ulbricht und Otto Grotewohl – mit der Sowjetführung – Stalin, Bulganin, Malenkow, Molotow – über die nächsten vordringlichen Schritte in der DDR. Zwei Themen standen im Vordergrund: Zum einen die Schaffung eigener Streitkräfte in der DDR – unumgänglich notwendig geworden angesichts der Aufrüstung in der Bundesrepublik und deren bevorstehende Einbeziehung in die NATO, zum anderen der Übergang zum Aufbau der sozialistischen Ordnung auch in der DDR.
Über Stalins Äußerungen zur ersten Frage in der Besprechung am 1. April notierte Wilhelm Pieck: „Volksarmee schaffen – ohne Geschrei. Pazifistische Periode ist vorbei.“ Und am 7. April notierte W. Pieck über Stalins Äußerungen zu diesem Thema: Der Westen hat „bisher alle Vorschläge abgelehnt. … Demarkationslinie gefährliche Grenze. …Bewaffnung muss geschaffen werden. … Nicht Miliz, sondern ausgebildete Armee. Alles ohne Geschrei, aber beharrlich.“
Und zur zweiten Hauptfrage, dem Übergang zum Aufbau des Sozialismus, sagte Stalin nach Piecks Notizen: „…Schaffung von Produktiv-Genossenschaften im Dorfe, um Großbauern einzukreisen … Beispiele schaffen – … Niemand zwingen. Nicht schreien Kolchosen – Sozialismus. Im Anfang die Tat – Weg zum Sozialismus – staatliche Produktion ist sozialistischen Produktion.“5Dr. Kurt Gossweiler: „Benjamin Baumgarten und die ‘Stalin-Note’“. […]
Bei den äußeren Faktoren nimmt die Bundesrepublik und ihre auf die „Wiedergewinnung“ der „Ostzone“ ausgerichtete Politik der in ihr herrschenden imperialistischen Kräfte den ersten Platz ein – im Bündnis mit den USA und den anderen NATO-Mächten. Ihre Embargo-Politik und die Auswirkungen ihres Alleinvertretungsanspruches, der „Hallstein-Doktrin“ (bis zum Jahre 1973 brach die BRD zu jedem Staat die Beziehungen ab, der die DDR diplomatisch anerkannte), waren darauf gerichtet, die DDR ökonomisch und politisch zu isolieren und sie wirtschaftlich zu ruinieren. […]
“In der zweiten Hälfte des Jahres 1952 geriet die DDR in ökonomische Schwierigkeiten, die sich vor allem daraus ergaben, dass die DDR wegen der forcierten Aufrüstung der Bundesrepublik und deren bevorstehender Einbeziehung in das aggressive NATO-Bündnissystem ihrerseits mit dem Aufbau bewaffneter Verteidigungskräfte und mit deren Ausrüstung rascher beginnen musste, als bisher vorgesehen.”
In der zweiten Hälfte des Jahres 1952 geriet die DDR in ökonomische Schwierigkeiten, die sich vor allem daraus ergaben, dass die DDR wegen der forcierten Aufrüstung der Bundesrepublik und deren bevorstehender Einbeziehung in das aggressive NATO-Bündnissystem ihrerseits mit dem Aufbau bewaffneter Verteidigungskräfte und mit deren Ausrüstung rascher beginnen musste, als bisher vorgesehen. Da für diese zusätzlichen Aufgaben weder Material noch Arbeitskräfte noch Finanzmittel zur Verfügung standen, mussten bei anderen Posten des Wirtschaftsplanes beträchtliche Kürzungen vorgenommen werden, die auch zu empfindlichen Belastungen der DDR-Bürger führen mussten und natürlich auch zu Unzufriedenheit in der Bevölkerung. Im Januar 1953 wandte sich deshalb das ZK der SED mit einem Schreiben an die Regierung der UdSSR, in dem im Einzelnen die Schwierigkeiten und Probleme der Planerfüllung dargestellt und die Führung der UdSSR gebeten wurde, zu überprüfen, ob eine Hilfe bei der Lösung der schwierigen Probleme nicht möglich sei.
Die Sowjetische Kontrollkommission (SKK) empfahl daraufhin in mehreren Memoranden strenge Sparmaßnahmen, auch auf sozialem Gebiet zu Lasten der Bevölkerung. Die rigorosesten Empfehlungen (z.B. Streichung von Fahrpreisermäßigungen für Behinderte und Schwerbeschädigte und Ausschluß von Selbständigen aus der Kartenversorgung) erfolgten im April 1953. Eine Maßnahme, die in der Arbeiterschaft auf großes Unverständnis und auf wachsenden Widerstand stieß und auf die sich die feindliche Propaganda vor allem stürzte und damit die stärkste Wirkung erzielte, war ein am 13./14. Mai vom Zentralkomitee der SED gefasster und vom Ministerrat am 28. Mai bestätigter Beschluß, die Arbeitsnormen bis zum 30. Juni 1953 um 10 Prozent zu erhöhen.
Diesem Beschluß vorausgegangen war eine monatelange, im Januar 1953 begonnene intensive Aufklärungskampagne in der Presse und im Rundfunk sowie in einer Vielzahl von Betriebsversammlungen in der ganzen Republik über die Notwendigkeit der Erhöhung der Arbeitsproduktivität mit dem Ziel, durch eine intensive Überzeugungsarbeit zu einer massenhaften durchgängigen freiwilligen Normerhöhung zu kommen. Zwar gab es nicht wenige Beispiele solcher freiwilliger Normerhöhungen, aber sie erreichten nicht den Massenumfang, der notwendig gewesen wäre, um die Arbeitsproduktivität in dem erforderlichen Maße zu erhöhen.
Es ist also keineswegs so, dass – wie heute immer zu lesen – die Führung von Anfang an den Weg bürokratischen Administrierens eingeschlagen hätte. Erst nachdem der Appell an die Freiwilligkeit nicht zum gewünschten (und ökonomisch auch notwendigen) Ergebnis geführt hatte, griff die Führung zum – aber auch jetzt falschen und verhängnisvollen – Mittel der „von oben“ ohne jede weitere Diskussion oder Verhandlung mit den Gewerkschaften angeordneten zehnprozentigen Normenheraufsetzung.
Dadurch entstand eine Situation, die sehr günstig war für alle sozialismusfeindlichen Kräfte innerhalb und außerhalb der DDR, und von diesen auch kräftig zu einer antikommunistischen regierungsfeindlichen Hetz-und Wühlarbeit ausgenutzt wurde.
Ihnen wurde im Frühjahr eine ganz unerwartete Hilfe zuteil.
Anfang Juni 1953 wurde die DDR-Führung nach Moskau zitiert, aber nicht etwa zu einer gemeinsamen Beratung über die besten Lösungen zur Überwindung der bestehenden Schwierigkeiten, sondern zur Entgegennahme und Durchführung der von der neuen Moskauer Führung mit Chruschtschow und Berija an der Spitze bereits ohne jede Beratung mit den Genossen der DDR-Führung einseitig beschlossenen Maßnahmen.
Der DDR-Delegation – Otto Grotewohl, Walter Ulbricht und Fred Oelssner – wurde ein Dokument überreicht, betitelt „Maßnahmen zur Gesundung der politischen Lage in der Deutschen Demokratischen Republik“. Darin wurde behauptet, dass „infolge der Durchführung einer fehlerhaften politischen Linie“ in der DDR „eine äußerst unbefriedigende politische und wirtschaftliche Lage entstanden“ sei. Worin sollte die „fehlerhafte politische Linie“ bestanden haben?
In dem sowjetischen Dokument wurde eine völlig entstellte Darstellung der Lage in der DDR gegeben. Es wurde darin behauptet, auf der II. Parteikonferenz sei ein Beschluß „zum beschleunigten Aufbau des Sozialismus“ gefasst worden, und das sei falsch gewesen, weil dafür die innen- und außenpolitischen Voraussetzungen gefehlt hätten.
Aber auf der II. Parteikonferenz war beschlossen worden, dass in der DDR „die Grundlagen des Sozialismus“ geschaffen werden; von „beschleunigtem Aufbau des Sozialismus“ war mit keinem Wort die Rede gewesen.
Im „Gesundungsbeschluß“ der neuen Moskauer Führung wurde ferner „die Propaganda über die Notwendigkeit des Überganges der DDR zum Sozialismus“ für falsch erklärt. Für falsch erklärt wurden auch alle – vorher von der sowjetischen Kontrollkommission mehr geforderten als empfohlenen und daraufhin von der DDR-Regierung beschlossenen – Sparmaßnahmen. Sie seien zurückzunehmen.
Besonders unbegreiflich waren die Forderungen des „Gesundungsbeschlusses“, die auf eine Liquidierung der Anfänge sozialistischen Eigentums in der Landwirtschaft hinausliefen. In der DDR könne „unter den heutigen Bedingungen nur eine einfachere Form der Produktionskooperierung der Bauern, wie die Genossenschaften zur gemeinsamen Bearbeitung des Bodens, ohne dass die Produktionsmittel vergesellschaftet werden, mehr oder weniger lebensfähig sein.“ Alle Genossenschaften seien zu überprüfen und gegebenenfalls aufzulösen.
“Äußerst merkwürdig war auch, dass in diesem „Gesundungsbeschluß“ mit keinem Wort die Maßnahme erwähnt und ihre Rücknahme gefordert wurde, welche die Beziehungen der Partei und des Staates zur Arbeiterklasse am stärksten belastet hat – der Beschluß von Mitte Mai zur Normenerhöhung ab 1. Juni 1953.”
Äußerst merkwürdig war auch, dass in diesem „Gesundungsbeschluß“ mit keinem Wort die Maßnahme erwähnt und ihre Rücknahme gefordert wurde, welche die Beziehungen der Partei und des Staates zur Arbeiterklasse am stärksten belastet hat – der Beschluß von Mitte Mai zur Normenerhöhung ab 1. Juni 1953. Dieses merkwürdige Dokument läßt vermuten, dass es bei irgendwem in der neuen sowjetischen Führung ein Interesse gab, die SED-Führung und insbesondere ihren Generalsekretär Walter Ulbricht zum Sündenbock zu machen, um seine Stellung zu erschüttern.
Mit den Ereignissen des 16. und 17. Juni beschäftigten sich zwei Tagungen des ZK der SED, das 14. ZK-Plenum am 21. Juni und das 15. Plenum vom 24.–26. Juli 1953.
Der Verlauf des 15. Plenums bestätigt die Vermutung, dass ein oder mehrere Mitglieder der neuen KPdSU-Führung die Schwierigkeiten der SED-Führung in der DDR dazu benutzen wollten, Walter Ulbricht zu stürzen und durch einen ihnen genehmen Mann zu ersetzen.
Auf diesem Plenum kam es zu heftigen Auseinandersetzungen über die Frage der Ursachen für die Unruhen und zu Angriffen einiger Teilnehmer auf Walter Ulbricht als dem, wie sie behaupteten, Hauptverantwortlichen für eine „falsche Politik“, deren Ergebnis der 17. Juni gewesen sei. Mit dieser Beschuldigung traten Wilhelm Zaisser, Leiter des Ministeriums für Staatssicherheit, und Rudolf Herrnstadt [Chefredakteur der SED-Zeitung Neues Deutschland] auf. Sie schlugen vor, die Parteiführung zu ändern; nach dem Vorschlag Zaissers sollte Herrnstadt Walter Ulbricht als 1. Sekretär ablösen. Zaisser selbst wollte selbstverständlich das Ministerium für Staatssicherheit weiter in der Hand behalten. Herrnstadt brachte den Entwurf einer Entschließung ein, in dem er die „Erneuerung der Partei“ forderte. Es hieß in dieser Entschließung ferner, die Partei müsse der Diener der Massen sein, nicht ihr Führer. Die SED solle umgewandelt werden in eine Volkspartei aller Klassen.
Der Anschlag misslang gründlich. Zum einen, weil Herrnstadt und Zaisser im ZK keine Mehrheit erhielten, zum anderen, weil Zaissers Beschützer und wohl auch Auftraggeber, sein ihm übergeordneter sowjetischer Minister für Inneres und Staatssicherheit, Berija, in Moskau – gerade am letzten Tag des SED-ZK-Plenums, am 26. Juli, – verhaftet und aller seiner Ämter enthoben wurde. Mit der Zurückweisung des Herrnstadt-Zaisser-Vorstoßes und mit den Beschlüssen des 15. ZK-Plenums der SED zur Überwindung der Folgen des 17. Juni und zur Realisierung der Maßnahmen zur Verbesserung der Lebenslage der Bevölkerung war der Grund gelegt worden für die Konsolidierung der Partei und der DDR.
Der 17. Juni 1953 ist ein Ereignis der Geschichte der DDR, aber er ist viel mehr. Er ist auch ein Bestandteil der Geschichte der sozialistischen Staatengemeinschaft und darüber hinaus ein Bestandteil der Geschichte der kommunistischen Weltbewegung, und dazu noch ein sehr bedeutsamer. Er ist nämlich das Eröffnungs-Glied einer Kette von Ereignissen, die – rückschauend betrachtet – Glieder eines fortschreitenden Prozesses der Zersetzung und Auflösung der einst festgefügten und unbesiegbaren sozialistischen Staatengemeinschaft und der kommunistischen Weltbewegung waren.
Dr. Jörg Roesler über die Propaganda des Westens
Jörg Roesler (*1940) ist ein deutscher Wirtschaftshistoriker. Von 1974 bis 1991 war er Bereichs- und Abteilungsleiter am Institut für Wirtschaftsgeschichte der Akademie der Wissenschaften der DDR. Danach arbeitete er am Leibniz-Zentrum für Zeithistorische Forschung in Potsdam und war Gastprofessor in Kanada und den USA, unter anderem an der McGill University und der Portland State University. 2013 publizierte er anlässlich des 60. Jahrestags des 17. Juni 1953 eine Artikelreihe in der Tageszeitung jungeWelt. Aus zwei Artikeln daraus haben wir Ausschnitte ausgewählt. In diesem zweiten Auszug aus dem Artikel „Auf dem Prüfstand“ beschreibt er wie der Westen die Ereignisse im Juni propagandistisch aufbereitet hat.
Kaum ein Tag war nach den Ereignissen des 17. Juni vergangen, da hatten DDR und BRD ihre Erklärung für deren Ursachen und Hintergründe parat. Gegensätzlicher sind die Interpretationen für ein und dasselbe Ereignis wohl selten gewesen. Im Osten titelte das Neue Deutschland am 18. Juni »Zusammenbruch des Abenteuers ausländischer Agenten in Berlin«. Drei Tage später klärte das Organ des Zentralkomitees der SED den Leser darüber auf, »wer hinter dem faschistischen Putschversuch des 17. Juni steht«.
Im Westen sprach die Süddeutsche Zeitung bereits am 18. Juni von einem »Volksaufstand«, der am Vortag in Ostberlin stattgefunden habe. Und die Frankfurter Allgemeine Zeitung verkündete: »Die Arbeiterschaft ist aufgestanden gegen die bolschewistischen Ausbeuter.«
[…]
Was die Charakterisierung der Ereignisse des 17. Juni im Westen betrifft, so folgten die offiziösen Geschichtsdarstellungen, von der Bundeszentrale für politische Bildung bis zu den Schulbuchverlagen, im Prinzip der Sprachregelung des im August 1953 erlassenen »Gesetzes über den Tag der deutschen Einheit«. Zu dessen Begründung hieß es, daß am 17. Juni 1953 »das deutsche Volk in der Sowjetischen Besatzungszone und Ostberlin sich gegen die kommunistische Gewaltherrschaft erhoben und (…) seinen Willen zur Freiheit bekundet« habe. »Der 17. Juni ist dadurch zum Symbol der deutschen Einheit in Freiheit geworden.« Dementsprechend firmiert der 17. Juni fortan als »Volksaufstand für Freiheit und Einheit«.
[…]
Der »Rundfunk im amerikanischen Sektor« war jahrelang bemüht, den ostdeutschen Arbeitern zu vermitteln, daß sie unter dem »SED-Regime« »unendlich schuften« müßten. Von »Hetztempo« wurde gesprochen und den Arbeitern suggeriert, daß sie »brutalsten Ausbeutungsmethoden« ausgesetzt seien, denen sie sich um den Erhalt ihres Lebens willen entziehen sollten. Ohne daß es von den RIAS-Redakteuren ausgesprochen wurde, suggerierten die normenbezogenen Sendungen in »Werktag der Zone«, wochentags zwischen 5.35 und 5.45 Uhr früh für Schichtarbeiter gesendet, natürlich noch etwas anderes: Das Arbeitstempo unter den freiheitlich-demokratischen Bedingungen der Bundesrepublik sei gemütlicher.
“Zwischen dem 2. April und dem 28. Mai 1953 hatten 21 Sendungen des »Werktag der Zone« sich ausschließlich um die Normenfrage gedreht. […] »Arbeiter aller Industriezweige Ostberlins forderten (heute) … nachdrücklich, daß die Ostberliner sich am Mittwoch früh um sieben Uhr am Strausberger Platz zu einer gemeinsamen Demonstration versammeln sollen.« Diese Meldung wurde am 16. Juni um 23 und 24 Uhr gesendet und am 17. Juni zwischen 1.00 und 4.00 Uhr stündlich wiederholt.”
Seit Ende des Jahres 1952 und besonders seit dem Frühjahr 1953 wurde die Normenfrage, die parallel am frühen Abend auch in »Berlin spricht zur Zone« wiederholt Gegenstand war, im »Werktag der Zone« zum beherrschenden Thema. Zwischen dem 2. April und dem 28. Mai 1953 hatten 21 Sendungen des »Werktag der Zone« sich ausschließlich um die Normenfrage gedreht. […] »Arbeiter aller Industriezweige Ostberlins forderten (heute) … nachdrücklich, daß die Ostberliner sich am Mittwoch früh um sieben Uhr am Strausberger Platz zu einer gemeinsamen Demonstration versammeln sollen.« Diese Meldung wurde am 16. Juni um 23 und 24 Uhr gesendet und am 17. Juni zwischen 1.00 und 4.00 Uhr stündlich wiederholt. Zusätzlich viermal ging am frühen Morgen des 17. Juni der Aufruf des Westberliner DGB-Vorsitzenden Ernst Scharnowski, eines berüchtigten »Kalten Kriegers«, an die »Ostberliner Kolleginnen und Kollegen« über den RIAS. Er unterstütze ihre Forderung nach Normsenkungen. Da ihm ein Aufruf unmittelbar zum Generalstreik verboten worden war, erklärte Scharnowski, er könne den Menschen »in der Ostzone und Ostberlin« keine Anweisungen, nur gute Ratschläge erteilen. Ungeachtet dessen forderte er die Bewohner des Ostteils der Stadt auf, die Bauarbeiter von der Stalinallee nicht im Stich zu lassen. »Tretet darum der Bewegung der Ostberliner Bauarbeiter, BVGer und Eisenbahner bei und sucht eure Strausberger Plätze überall auf.« Ab 7 Uhr berichtete der RIAS halbstündlich über die anlaufenden Demonstrationen.
Dr. Anton Latzo über die Instrumentalisierung der Unruhen
Dr. Anton Latzo studierte, lehrte und forschte am Institut für Internationale Beziehungen der DDR, wo er zuletzt Leiter des Lehrstuhls für Geschichte und Politik der sozialistischen Staaten Europas war. Er publizierte zu Fragen der Außenpolitik dieser Länder und seit den 1990er Jahren zu Fragen des internationalen Friedenskampfes, der Außenpolitik der BRD, Geschichte, Entwicklung und Politik der Staaten Osteuropas sowie zur internationalen Arbeiterbewegung. Es folgt ein Auszug einer mehrteiligen Artikelreihe zum 70. Jahrestag des 17. Juni, in dem er darlegt, wie der Westen die Unruhen vorwegnahm und sie dann instrumentalisierte.6Dr. Anton Latzo: „Sieben Uhr früh am Strausberger Platz.“, 2023.
[…] Egon Bahr, damals Chefredakteur von RIAS Berlin (Radio im amerikanischen Sektor), beschrieb die mobilisierende und koordinierende Rolle des Senders mit den Worten: „Wie nie zuvor ist bewiesen worden, mit welch rasender Wirksamkeit und Schnelligkeit ein elektronisches Medium in der Lage ist, eine Situation zu verändern. Das hat es vorher nicht gegeben.“
Weil man beim RIAS befürchtete, dass am 17. Juni „nur ein paar Leutchen“ kommen würden, habe man – so Bahr – einen eigenen Treffpunkt propagiert: „Sieben Uhr früh am Strausberger Platz.“ Der RIAS heizte die Situation von Stunde zu Stunde immer mehr an, die im Sender verbreiteten Forderungen wurden immer politischer. Bald war von Normerhöhung nicht mehr die Rede, sondern vom Sturz der Regierung sowie von „freien Wahlen“ und der Entfernung der SED aus den Betrieben.
Die Proteste, die sich zunehmend gegen Partei, Regierung und Staat richteten, wurden auf diese Weise ausgeweitet und erfassten Berlin, die Region um Halle/Saale (Leuna, Buna, Merseburg, Bitterfeld, Wolfen), die Großstädte Leipzig, Dresden und Magdeburg sowie die Industriestandorte Brandenburg an der Havel und Hennigsdorf in der Nähe von Berlin. Im Süden der DDR, etwa in den Bezirken Karl-Marx-Stadt und Suhl, blieb es hingegen relativ ruhig. In Berlin und anderen größeren Städten der DDR drangen – großenteils organisiert aus Westberlin eingeschleuste – Provokateure in Warenhäuser, Buchhandlungen, Büros demokratischer Organisationen und staatliche Dienststellen ein, demolierten Einrichtungen, legten Brände und rissen Fahnen der DDR und der Arbeiterbewegung herunter. Mitarbeiter der SED, anderer Parteien und der Massenorganisationen wurden niedergeschlagen und misshandelt.
Dass diese und weitere Provokationen sowie ihre Steigerung zu politischen Aktionen geplant und gesteuert waren, zeigen vielfältige Aktivitäten offizieller staatlicher Institutionen und von sogenannten Nichtregierungsorganisationen. […]
Mitte Juni 1953 hielt sich der Chef der CIA, Allan W. Dulles, in Westberlin auf – begleitet von General Matthew B. Ridgway, der über reiche Erfahrungen aus dem Krieg gegen das koreanische Volk verfügte. Mit ihnen kamen nach Westberlin der Staatssekretär im Bundeskanzleramt, Otto Lenz, und weitere westdeutsche Politiker und Staatsbeamte. Am 17. Juni traf auch der Minister für „gesamtdeutsche Fragen“, Jakob Kaiser, in Westberlin ein, um die Aktion sozusagen an Ort und Stelle zu beobachten und anzuleiten.
Bertolt Brechts Eindruck von den Juni-Ereignissen und ihrem Hintergrund (1953)
Bertolt Brecht (*1898–1956) zählt zu den bedeutendsten deutschen Dichtern und Dramatikern des 20. Jahrhunderts. In einem Brief an seinen westdeutschen Verleger Peter Suhrkamp schildert er am 1. Juli 1953 seine Eindrücke von den Juni-Ereignissen und ihren Hintergründen.
Lieber Suhrkamp,
Sie fragen mich nach meiner Stellungnahme zu den Vorkommnissen des 16. und 17. Juni. Handelte es sich um einen Volksaufstand, um den Versuch “die Freiheit zu erlangen”, wie der überwältigende Teil der westdeutschen Presse behauptet? Bin ich einem Volksaufstand gleichgültig oder gar feindlich gegenübergestanden, habe ich mich gegen die Freiheit gestellt, als ich am 17. Juni in einem Brief an die Sozialistische Einheitspartei Deutschlands, von dem der Schlußsatz veröffentlicht wurde, (mich) bereit erklärte, bei der unbedingt nötigen Aussprache zwischen Arbeiterschaft und Regierung in meiner Weise (in künstlerischer Form) mitzuwirken? – Ich habe drei Jahrzehnte lang in meinen Schriften die Sache der Arbeiter zu vertreten versucht.
Aber ich habe in der Nacht des 16. und am Vormittag des 17. Juni die erschütternden Demonstrationen der Arbeiter übergehen sehen in etwas sehr anders als den Versuch, für sich die Freiheit zu erlangen. Sie waren zu Recht erbittert. Die unglücklichen und unklugen Maßnahmen der Regierung, die bezwecken sollten, überstürzt auf dem Gebiet der DDR eine Schwerindustrie aufzubauen, brachten zu gleicher Zeit Bauern, Handwerker, Gewerbetreibende, Arbeiter und Intellektuelle gegen sie auf. Eine Mißernte im vorigen Jahr, verursacht durch eine große Trockenheit und die Landflucht von Hunderttausenden von Bauern dieses Jahres, bedrohten die Ernährung aller Schichten der Bevölkerung zugleich, Maßnahmen wie der Entzug der Lebensmittelkarten für Kleingewerbetreibende stellten ihre nackte Existenz in Frage, andere Maßnahmen, wie die Anrechnung des Krankenurlaubs auf den Erholungsurlaub, Streichungen der Vergünstigungen für Arbeiterfahrkarten und die generelle Erhöhung der Normen bei gleichbleibenden oder sich sogar erhöhenden Lebenskosten trieben die Arbeiterschaft, deren Gewerkschaften nur schwächlich arbeiteten und ihrer Position nach nur schwächlich arbeiten konnten, schließlich auf die Straße und ließen sie die unzweifelhaft großen Vorteile vergessen, welche die Vertreibung der Junker, die Vergesellschaftung der Hitlerschen Kriegsindustrie, die Planung der Produktion und die Zerschmetterung des bürgerlichen Bildungsmonopols ihnen verschafft hatten.
Die Straße freilich mischte die Züge der Arbeiter und Arbeiterinnen schon in den frühen Morgenstunden des 17. Juni auf groteske Art mit allerlei deklassierten Jugendlichen, die durch das Brandenburger Tor, über den Potsdamer Platz, auf der Warschauer Brücke kolonnenweise eingeschleust wurden, aber auch mit den scharfen, brutalen Gestalten der Nazizeit, den hiesigen, die man seit Jahren nicht mehr in Haufen hatte auftreten sehen und die doch immer dagewesen waren.
Die Parolen verwandelten sich rapide. Aus “Weg mit der Regierung!” wurde “Hängt Sie!”, und der Bürgersteig übernahm die Regie. Gegen Mittag, als auch in der DDR, in Leipzig, Halle, Dresden, sich Demonstrationen in Unruhen verwandelt hatten, begann das Feuer seine alte Rolle wieder aufzunehmen. Von den Linden aus konnte man die Rauchwolke des Columbushauses, an der Sektorengrenze des Potsdamer Platzes liegend, sehen, wie an einem vergangenen Unglückstag einmal die Rauchwolke des Reichstagsgebäudes. Heute wie damals hatten nicht Arbeiter das Feuer gelegt: es ist nicht die Waffe derer, die bauen. Dann wurden — hier wie in anderen Städten — Buchhandlungen gestürmt und Bücher herausgeworfen und verbrannt, und die Marx- und Engels-Bände, die in Flammen aufgingen, waren sowenig arbeiterfeindlich wie die roten Fahnen, die öffentlich zerrissen wurden. (Auf den Fotos, die in der westdeutschen Presse veröffentlicht wurden, können Sie ohne Vergrößerungsglas sehen, wer da die Fahnen zeriss.) In der Provinz wurde “befreit”. Aber als die Gefängnisse gestürmt wurden, kamen merkwürdige Gefangene aus diesen “Bastillen”, in Halle die ehemalige Kommandeuse des Ravensbrücker Konzentrationslagers, Erna Dorn. Sie hielt anfeuernde Reden auf dem Marktplatz. An manchen Orten gab es Überfälle auf Juden, nicht viele, da es nicht mehr viele Juden gibt. Und den ganzen Tag kam über den RIAS, der sein Programm kassiert hatte, anfeuernde Reden, das Wort Freiheit von eleganten Stimmen gesprochen. Überall waren die “Kräfte” am Werk, die Tag und Nacht an das Wohlergehen der Arbeiter und der “kleinen Leute” denken und jenen hohen Lebensstandard versprechen, der am Ende dann immer zu einem hohen Todesstandard führt. Da schien es große Leute zu geben, die bereit waren, die Arbeiter von der Straße direkt in die Freiheit der Munitionsfabriken zu führen. Mehrere Stunden lang, bis zum Eingreifen der Besatzungsmacht, stand Berlin am Rand eines dritten Weltkrieges.
Lieber Suhrkamp, machen wir uns nichts vor: Nicht nur im Westen, auch hier im Osten Deutschlands sind “die Kräfte” wieder am Werk. Ich habe an diesem tragischen 17. Juni beobachtet, wie der Bürgersteig auf die Straße das “Deutschlandlied” warf und die Arbeiter es mit der “Internationale” niederstimmten. Aber sie kamen, verwirrt und hilflos, nicht durch damit.
Die Sozialistische Einheitspartei Deutschlands hat Fehler begangen, die für die sozialistische Partei sehr schwerwiegend sind und Arbeiter, darunter auch alte Sozialisten, gegen sie aufbrachten. Ich gehöre ihr nicht an. Aber ich respektiere viele ihrer historischen Errungenschaften, und ich fühlte mich ihr verbunden, als sie – nicht ihrer Fehler, sondern ihrer Vorzüge wegen – von faschistischem und kriegstreiberischem Gesindel angegriffen wurde. Im Kampf gegen Krieg und Faschismus stand und stehe ich an ihrer Seite.
Bertolt Brecht, Berlin-Weißensee, 1. Juli 1953, Berliner Allee 190.
© Bertolt-Brecht-Erben / Suhrkamp Verlag, Quelle: Brecht-Archiv der DDR, publiziert in: Brecht, B.: Brief an Peter Suhrkamp (Juli 1953), in: Briefe 1913 — 1956, Berlin Weimar 1983, 746 Seiten, S. 656–659.