Dossier: Was war der 17. Juni 1953?

Inhaltsverzeichnis

Einleitung

Zum 70. Mal jähren sich die Ereig­nisse um den 17. Juni 1953 in der DDR. Bis heute löst der Jahres­tag ein großes Medi­en­echo und zum Teil scharfe und kontro­verse Debat­ten aus. Weit­hin wird das, was damals in der DDR passierte, als Volks­auf­stand gewer­tet, der sich gegen ein repres­si­ves sozia­lis­ti­sches Regime rich­tete und erst durch den Einsatz der Roten Armee brutal nieder­ge­schla­gen wurde. Diese Beschrei­bung entspricht in etwa derje­ni­gen, die die west­li­che Presse bereits zum Zeit­punkt des Gesche­hens verbrei­tete. In der DDR selbst wurden die Ereig­nisse von offi­zi­el­len Stel­len als ein faschis­ti­scher Putsch­ver­such einge­schätzt. In der Öffent­lich­keit und in akade­mi­schen Krei­sen gibt es heute wenig bis keinen Raum, das Gesche­hen und seine Hinter­gründe sach­lich und abseits vom domi­nan­ten Narra­tiv eines Volks­auf­stan­des zu bespre­chen. Wir wollen mit dieser klei­nen Über­sicht von Arti­keln über die Juni-Ereig­nisse wich­tige Hinter­gründe beleuch­ten und insbe­son­dere unse­ren inter­na­tio­na­len Lesern zugäng­lich machen.

Worum geht es? Am 16. Juni kam es in der DDR zu verein­zel­ten spon­ta­nen Protes­ten, insbe­son­dere auf einer der größ­ten Baustel­len des Landes in der dama­li­gen Berli­ner „Stalin­al­lee“ (heute Karl-Marx-Allee). Am 17. Juni fanden in 373 Orten der DDR Streiks und Demons­tra­tio­nen statt. Um diesen Tag herum betei­lig­ten sich ca. 600.000 Menschen an Protes­ten, unter 5 % der Arbei­ter der DDR nahmen teil.1 An eini­gen Stel­len schlu­gen die Proteste in Gewalt um. Es gab Brand­stif­tun­gen, Angriffe auf die Volks­po­li­zei, sogar Lynch­mord. Mittags am 17. Juni verhängte die Sowje­ti­sche Kontroll­kom­mis­sion in Über­ein­stim­mung mit den Orga­nen der DDR und entspre­chend dem Besat­zungs­recht den Ausnah­me­zu­stand. Die einrü­cken­den sowje­ti­schen Trup­pen demons­trier­ten mit Panzern vor allem Präsenz. Die Proteste kamen zu einem schnel­len Ende. Am 25. Juni 1953 sprach die DDR-Regie­rung von 19 toten Demons­tran­ten und 126 Verletz­ten.2 Eine Studie von 2004 zählt 55 Perso­nen, die im Kontext des 17. Juni zu Tode kamen.3

Konkre­ter Ausgangs­punkt für den Unmut in der Bevöl­ke­rung der DDR war vor allem ein Beschluss zur Erhö­hung der Normen um 10%, was bedeu­tete, dass bei glei­chem Lohn eine höhere Arbeits­leis­tung erbracht werden musste. Spar­maß­nah­men im sozia­len Bereich sorg­ten zusätz­lich für Ärger. Die meis­ten dieser Maßnah­men, nicht aber die Normen­er­hö­hung, wurden bereits Anfang Juni von der SED zurück­ge­nom­men (die Gründe dafür werden im Folgen­den näher erläu­tert). Der 17. Juni ereig­nete sich erst acht Jahre nach dem Sieg über den Faschis­mus. Die deut­sche Bevöl­ke­rung schaffte es nicht sich selbst zu befreien, die Zahl der Wider­stands­kämp­fer und Anti­fa­schis­ten war rela­tiv gering. Anti­kom­mu­nis­mus, ein zentra­les ideo­lo­gi­sches Funda­ment der Nazis, war immer noch verbrei­tet in der deut­schen Bevöl­ke­rung in West und Ost.

Die führen­den poli­ti­schen Kreise West­deutsch­lands und der USA hatten das sozia­lis­ti­sche Lager nach dem Ende des Zwei­ten Welt­krie­ges aktiv bekämpft und mit Wirt­schafts­blo­cka­den, Sabo­ta­ge­ak­tio­nen und subver­si­ven Maßnah­men auf das Zustan­de­kom­men einer poli­ti­schen Krise insbe­son­dere in der sowje­ti­schen Besat­zungs­zone in Deutsch­land hinge­ar­bei­tet. In den Führungs­krei­sen west­deut­scher Poli­ti­ker sprach man offen von einem „Tag X“, an dem man die DDR zurück­er­obern würde, auch mit mili­tä­ri­schen Mitteln. Der dama­lige Bundes­mi­nis­ter für gesamt­deut­sche Fragen Jakob Kaiser schrieb in einer Erklä­rung vom 24. März 1952: „Es liegt durch­aus im Bereich der Möglich­kei­ten, dass der Tag X rascher kommt, als Skep­ti­ker zu hoffen wagen. Es ist unsere Aufgabe, für die Probleme best­mög­lich vorbe­rei­tet zu sein. Der Gene­ral­stabs­plan ist so gut wie fertig …“4 Die aggres­si­ven Absich­ten des Westens für den „Tag X“ wurden von Gerhard Schrö­der, dem dama­li­gen Innen­mi­nis­ter der BRD, unter­stri­chen, als er am 13. Juni 1953 sagte: „Die Bundes­re­pu­blik ist Deutsch­land. Alles andere deut­sche Gebiet ist uns entzo­ge­nes und vorent­hal­te­nes Terri­to­rium, das zurück­ge­glie­dert werden muss.“

So nutz­ten die West­kräfte diesen Moment der poli­ti­schen Krise und Schwä­che im Juni 1953 aus, mobi­li­sier­ten Kräfte aus West­ber­lin und akti­vier­ten eine auf Hoch­tou­ren arbei­tende feind­li­che Bericht­erstat­tung, um die Proteste anzu­hei­zen und expli­zit in einem anti­kom­mu­nis­ti­schen Sinne zu beein­flus­sen. Bereits wenige Wochen nach dem 17. Juni 1953 wurde der Tag in West­deutsch­land zum arbeits­freien Natio­nal­fei­er­tag erklärt und bis 1990 als „Tag der Deut­schen Einheit“ began­gen. Dass ein Protest in einem ande­ren Land zum zentra­len Natio­nal­fei­er­tag erklärt wurde, verdeut­licht die aggres­siv-feind­li­che Haltung West­deutsch­lands zur DDR und impli­ziert bereits eine Inan­spruch­nahme des Protes­tes. Zugleich unter­schlägt der propa­gierte Wunsch nach der Einheit Deutsch­lands die deut­li­che Absage des Westens an ein einheit­li­ches, demo­kra­ti­sches und block­freies Deutschland.

Ohne ein genaues Verständ­nis des histo­ri­schen Kontex­tes, der aggres­si­ven „Roll-Back“-Strategie des Westens, der Ausein­an­der­set­zun­gen um die Deutsch­land­frage, des Beschlus­ses für den Aufbau der Grund­la­gen des Sozia­lis­mus in der DDR, der Hinter­gründe für die beschlos­se­nen Spar­maß­nah­men, der Wider­sprü­che zwischen der SED und der neuen poli­ti­schen Führung der Sowjet­union nach dem Tod Stalins (5. März 1953) sind die Juni-Ereig­nisse 1953 nicht zu verstehen.

Der 17. Juni 1953 steht für eine äußerst kriti­sche Phase des sozia­lis­ti­schen Lagers und insbe­son­dere der DDR, wo der Aufbau des Sozia­lis­mus für einen Moment auf der Kippe stand. Entschei­dend dafür waren weni­ger, so zeigt eine Beschäf­ti­gung mit den histo­ri­schen Analy­sen, der Unmut der Bevöl­ke­rung, sondern die Fehler und Schwä­chen der poli­ti­schen Führung der DDR und der KPdSU, die Lücken verur­sach­ten, die das bereits voll auf die System­aus­ein­an­der­set­zung ausge­rich­tete west­li­che Lager offen­siv ausnutzte. Die vier kurzen Text­aus­züge spüren den Hinter­grün­den dieser Phase nach.

In den beiden Auszü­gen von Dr. Jörg Roes­ler, die anläss­lich des 60. Jahres­ta­ges des 17. Juni verfasst wurden, beschreibt der Wirt­schafts­his­to­ri­ker die aggres­sive Poli­tik der USA und West­deutsch­lands gegen die DDR und das sozia­lis­ti­sche Lager und zeigt beispiel­haft die geschickt betrie­bene Medi­en­pro­pa­ganda der West­mächte auf.

Der Text des Histo­ri­kers Kurt Goss­wei­ler und des ehema­li­gen SED-Funk­tio­närs Dieter Itzerott verfolgt den histo­ri­schen Kontext und die Konse­quen­zen des Stra­te­gie­wech­sels hin zum Aufbau des Sozia­lis­mus in der DDR und legt die wider­sprüch­li­che Bezie­hung zwischen SED und KPdSU als einen trei­ben­den Faktor der Krise offen. Sie entwi­ckeln die These, dass es Teile der poli­ti­schen Führung in der DDR und der Sowjet­union gab, die die Ereig­nisse um den 17. Juni 1953 nutzen woll­ten, um Walter Ulbricht als führen­den Kopf der DDR zu stürzen.

Der Text­aus­zug von Dr. Anton Latzo macht deut­lich, wie aktiv die poli­ti­schen Führungs­kreise aus der Bundes­re­pu­blik Deutsch­land und den USA versucht haben einzu­grei­fen und das Momen­tum für ihre poli­ti­schen Ziele zu nutzen.

In seinem Brief an den west­deut­schen Verle­ger Peter Suhr­kamp schil­dert der Drama­ti­ker und Lyri­ker Bertolt Brecht seine persön­li­chen Eindrü­cke von den Juni-Ereig­nis­sen und konfron­tiert damit das Narra­tiv vom Volksaufstand.

Dr. Jörg Roesler über die aggressive “Roll-back“-Strategie des Westens 1953

Dr. Jörg Roes­ler (*1940) ist ein deut­scher Wirt­schafts­his­to­ri­ker. Von 1974 bis 1991 war er Bereichs- und Abtei­lungs­lei­ter am Insti­tut für Wirt­schafts­ge­schichte der Akade­mie der Wissen­schaf­ten der DDR. Danach arbei­tete er am Leib­niz-Zentrum für Zeit­his­to­ri­sche Forschung in Pots­dam und war Gast­pro­fes­sor in Kanada und den USA, unter ande­rem an der McGill Univer­sity und der Port­land State Univer­sity. 2013 publi­zierte er anläss­lich des 60. Jahres­tags des 17. Juni 1953 eine Arti­kel­reihe in der Tages­zei­tung junge­Welt. Aus zwei Arti­keln daraus haben wir Ausschnitte ausge­wählt. In diesem ersten Auszug aus dem Arti­kel „Stra­te­gie­wech­sel“ skiz­ziert Roes­ler die beson­ders aggres­sive Wendung der west­li­chen Poli­tik kurz vor den Juni-Ereig­nis­sen 1953.

Am 20. Januar 1953 legte Gene­ral Dwight D. Eisen­hower, ehemals Ober­be­fehls­ha­ber der Armeen der West­al­li­ier­ten im Kampf gegen Hitler und erster NATO-Ober­be­fehls­ha­ber, in Washing­ton den Präsi­dent­schafts­eid ab. Daß ein Mili­tär an die Spitze der west­li­chen Groß­macht trat, war geeig­net, in der seit einem drei­vier­tel Jahr stark ange­spann­ten Situa­tion zwischen den beiden Blöcken – dem »sozia­lis­ti­schen Lager« auf der einen und den seit der Verkün­dung des Marshall­plans (1948) und der Grün­dung der NATO (1949) an die USA gebun­de­nen west­eu­ro­päi­schen Staa­ten auf der ande­ren Seite – vorhan­dene Ängste zu verstär­ken: Der Kalte Krieg könnte zu einem »heißen« werden.

Viel­leicht noch mehr als Eisen­ho­wers Amts­ein­füh­rung beun­ru­higte den Osten die Ernen­nung von John Foster Dulles zum Außen­mi­nis­ter. Der von Eisen­hower mit beson­de­ren Voll­mach­ten ausge­stat­tete US-Poli­ti­ker hatte in seinem 1950 veröf­fent­lich­ten Buch die »Roll back«-Theorie entwi­ckelt. Diese sollte nach seinem Vorschlag an Stelle der von der Vorgän­ger­re­gie­rung des Demo­kra­ten Harry S. Truman verfolg­ten »Contain­ment-Poli­tik« treten. Ihr Ziel hatte darin bestan­den, weitere »kommu­nis­ti­sche Okku­pa­tio­nen« nicht mehr zuzu­las­sen. Dulles propa­gierte in seinem Buch darüber hinaus das »Zurück­rol­len« des Kommu­nis­mus in Osteu­ropa. Entspre­chend ausge­rich­tet wurden die 1946 bzw. 1950 gegrün­de­ten US-ameri­ka­ni­schen Propa­gan­da­sen­der »Voice of America« und »Radio Free Europe«. Hinzu kam 1953 noch das »Radio Libe­ra­tion« (später »Radio Liberty«). Diese Sender verkün­de­ten Tag für Tag, daß die Verei­nig­ten Staa­ten die Befrei­ung der »von den Sowjets besetz­ten Länder« als Haupt­ziel ihrer Außen­po­li­tik betrachteten.

Noch ein drei­vier­tel Jahr zuvor hatte es so ausge­se­hen, als ob es möglich wäre, wenigs­tens in Europa die Block­kon­fron­ta­tion signi­fi­kant zu entschär­fen. Am 10. März 1952 hatte die Sowjet­union in einer Note an die drei West­mächte vorge­schla­gen, »unver­züg­lich die Frage eines Frie­dens­ver­tra­ges mit Deutsch­land zu erwä­gen«. Die sowje­ti­sche Regie­rung hatte ihrer Note einen Entwurf zu einem solchen Vertrag beigefügt, der als Haupt­punkt die »Wieder­her­stel­lung Deutsch­lands als einheit­li­cher Staat inner­halb der von der Pots­da­mer Konfe­renz fest­ge­leg­ten Gren­zen« vorschlug. Er enthielt als Preis dafür aber auch die Verpflich­tung Deutsch­lands, »keiner­lei Koali­tio­nen oder Mili­tär­bünd­nisse einzu­ge­hen, die sich gegen irgend einen Staat rich­ten, der mit seinen Streit­kräf­ten am (Zwei­ten Welt-)Krieg gegen Deutsch­land teil­ge­nom­men hat«. Der sowje­ti­sche Vorschlag kam für den Westen über­ra­schend und irri­tierte beson­ders Konrad Adenauer, der als Bundes­kanz­ler ganz auf die West­in­te­gra­tion und damit auf die Teilung Deutsch­lands setzte. »Nach allem, was wir über die sowje­ti­sche Poli­tik wissen«, schreibt der öster­rei­chi­sche Histo­ri­ker Horst Stei­nin­ger, »war das Ange­bot Stalins ernst gemeint.«

Die drei West­mächte lehn­ten die sowje­ti­sche Offerte – mit vollem Einver­ständ­nis des west­deut­schen Bundes­kanz­lers – ab. Sie ließen sich bei ihrem bereits ange­lau­fe­nen Vorha­ben, die Bundes­re­pu­blik in die west­li­chen Mili­tär­struk­tu­ren zu inte­grie­ren, nicht mehr stören. Bereits am 25. März über­mit­tel­ten sie der sowje­ti­schen Seite ihre Ableh­nung. Bis zum Septem­ber 1952 tobte zwischen den ehema­li­gen Alli­ier­ten zwar noch eine »Noten­schlacht« um die deut­sche Frage, gleich­zei­tig wurden aber von west­li­cher Seite Tatsa­chen geschaf­fen. Ende Mai 1952 unter­zeich­ne­ten Frank­reich, Italien, die Bene­lux-Staa­ten und die Bundes­re­pu­blik, von den USA inspi­riert, den Vertrag über die »Euro­päi­sche Vertei­di­gungs­ge­mein­schaft«. Der EVG-Vertrag sah die Inte­gra­tion der natio­na­len Streit­kräfte dieser Staa­ten unter einem gemein­sa­men Ober­be­fehl vor.

Für die Bundes­re­gie­rung unter Adenauer war die Ableh­nung der »Stalin-Note« durch die West­mächte das Signal, ihre Pläne für ein »Roll back« in Deutsch­land mit größe­rem Nach­druck, als das bisher möglich gewe­sen war, voran­zu­trei­ben – auch »wissen­schaft­lich«. Noch im März 1952 hielt der »Forschungs­bei­rat für Fragen der Wieder­ver­ei­ni­gung Deutsch­lands« seine konsti­tu­ie­rende Sitzung ab. Jakob Kaiser, im ersten Kabi­nett Adenauer der Minis­ter für »gesamt­deut­sche Fragen«, schluß­fol­gerte in seiner Eröff­nungs­rede aus der nega­ti­ven Antwort der West­mächte auf den sowje­ti­schen Frie­dens­plan für Deutsch­land: Nunmehr könne der »Tag X«, an dem der Anschluß der »Sowje­ti­sche Besat­zungs­zone« an die Bundes­re­pu­blik statt­fin­den werde, schnel­ler kommen als geglaubt. Man müsse auf alle damit verbun­de­nen Probleme vorbe­rei­tet sein, um durch die Wieder­ver­ei­ni­gung mit der »SBZ« den ersten Schritt zur »Restau­ra­tion der Zustände vor dem Kriege« einzu­lei­ten. Dabei, so äußerte sich Fried­rich Ernst, ein Mitglied des Planungs­sta­bes des Forschungs­bei­ra­tes, müsse eine dauer­hafte Koope­ra­tion dieses Beira­tes mit Grup­pie­run­gen wie dem »Unter­su­chungs­aus­schuß frei­heit­li­cher Juris­ten« und der »Kampf­gruppe gegen Unmensch­lich­keit« herge­stellt werden. […]

Dr. Kurt Gossweiler und Dieter Itzerott über die Entscheidung für den Aufbau des Sozialismus in der DDR und Konflikte zwischen der KPdSU und der SED

Dr. sc. Dr. h.c. Kurt Goss­wei­ler (*1917–2017) war ein marxis­ti­scher Histo­ri­ker. Einer seiner Schwer­punkte liegt in der Forschung zum deut­schen Faschis­mus. Dieter Itzerott (*1931–2020) hatte leitende Funk­tio­nen in der Freien Deut­schen Jugend und der SED inne. Ihr gemein­sa­mer Text „Die Entwick­lung der SED“ ist erst­ma­lig im Buch „Unter Feuer“, heraus­ge­ge­ben von offen-siv, 2009 erschie­nen. Die hier ausge­wähl­ten Ausschnitte sind drei Unter­ka­pi­teln entnom­men, die vor allem das Verhält­nis zwischen der KPdSU und der SED Anfang der 1950er Jahre beleuch­tet, als die beiden Parteien die Entschei­dung trafen, mit dem Aufbau des Sozia­lis­mus in der DDR zu beginnen.

[…] Nach der Grün­dung der DDR konnte die Partei – anders als in den volks­de­mo­kra­ti­schen Nach­bar­län­dern – nicht die Aufgabe stel­len, mit dem Aufbau des Sozia­lis­mus zu begin­nen. Dort, in Polen, der Tsche­cho­slo­wa­kei, Rumä­nien und Bulga­rien, war der Schritt von der anti­fa­schis­tisch-demo­kra­ti­schen zur sozia­lis­ti­schen Ordnung in den Jahren 1948/1949 getan worden. In der DDR war das noch nicht möglich, weil – wie das ja auch im Stalin-Tele­gramm zum Ausdruck gebracht worden war, – das erst­ran­gige stra­te­gi­sche Ziel noch die Herstel­lung eines einheit­li­chen demo­kra­ti­schen Deutsch­land war.

Aber früher oder später musste auch in der DDR eine klare Entschei­dung über ihren weite­ren Entwick­lungs­weg fallen, und das konnte, – wenn es nicht gelang, in abseh­ba­rer Zeit das Ziel eines einheit­li­chen demo­kra­ti­schen Deutsch­land zu errei­chen –, auf Grund ihres Klas­sen­cha­rak­ters nur die glei­che Entschei­dung sein wie bei den brüder­lich befreun­de­ten östli­chen Nach­barn. Seit 1950 gehörte die DDR schon dem 1949 gegrün­de­ten Rat für gegen­sei­tige Wirt­schafts­hilfe – RGW – an.

Die West­mächte taten ihrer­seits alles, die Spal­tung Deutsch­lands zu vertie­fen, West­deutsch­land zu remi­li­ta­ri­sie­ren und zu einer Speer­spitze für die Aggres­sion gen Osten aufzu­rüs­ten. Schon im Dezem­ber 1950 gaben die Teil­neh­mer der Rats­ta­gung der NATO in Brüs­sel ihre „völlige Über­ein­stim­mung über die Rolle, die Deutsch­land – also die BRD – in der NATO über­neh­men könnte“, bekannt. Und im Septem­ber 1951 einig­ten sich die USA, England und Frank­reich in einer Konfe­renz in Washing­ton über die Bedin­gun­gen der Remi­li­ta­ri­sie­rung West­deutsch­lands und über seine Einglie­de­rung in die NATO.

Um dem entge­gen­zu­wir­ken und um den Protest erheb­li­cher Teile der west­deut­schen Bevöl­ke­rung gegen den Remi­li­ta­ri­sie­rungs­kurs und ihre Forde­run­gen nach einer fried­li­chen Eini­gung Deutsch­lands zu unter­stüt­zen, forderte die Regie­rung der DDR im Februar 1952 in einer Note die vier Groß­mächte – die drei West­mächte und die UdSSR – dazu auf, den Abschluss eines Frie­dens­ver­tra­ges mit Deutsch­land zu beschleu­ni­gen. Die Sowjet­union war die einzige der „Großen Vier“, die darauf eine posi­tive Antwort gab.

Mehr noch: Am 10. März 1952 rich­tete sie eine Note an die West­mächte mit dem Entwurf eines Frie­dens­ver­tra­ges. Es war dies die berühmte Stalin-Note, über deren Ziel­set­zung und dahin­ter stehende Absich­ten Stalins schon ganze Biblio­the­ken füllende Arti­kel und Bücher geschrie­ben wurden und noch immer werden, wobei auch unsin­nigste und abwe­gigste Thesen vertre­ten werden […]. Die Sowjet­union schlug in dieser Note vor, einen Frie­dens­ver­trag mit Deutsch­land abzu­schlie­ßen und legte zugleich den Entwurf eines solchen Vertra­ges vor: Deutsch­land sollte als einheit­li­cher Staat in den vom Pots­da­mer Abkom­men fest­ge­leg­ten Gren­zen wieder­her­ge­stellt werden, eigene zur Vertei­di­gung notwen­dige Streit­kräfte besit­zen dürfen und sich verpflich­ten, keine Koali­tio­nen oder Mili­tär­bünd­nisse einzu­ge­hen, die sich gegen irgend­ei­nen Staat der Anti­hit­ler­ko­ali­tion richten. […]

Am 1. und 7. April 1952 beriet eine Dele­ga­tion der SED-Führung – Wilhelm Pieck, Walter Ulbricht und Otto Grote­wohl – mit der Sowjet­füh­rung – Stalin, Bulga­nin, Malen­kow, Molo­tow – über die nächs­ten vordring­li­chen Schritte in der DDR. Zwei Themen stan­den im Vorder­grund: Zum einen die Schaf­fung eige­ner Streit­kräfte in der DDR – unum­gäng­lich notwen­dig gewor­den ange­sichts der Aufrüs­tung in der Bundes­re­pu­blik und deren bevor­ste­hende Einbe­zie­hung in die NATO, zum ande­ren der Über­gang zum Aufbau der sozia­lis­ti­schen Ordnung auch in der DDR.

Über Stalins Äuße­run­gen zur ersten Frage in der Bespre­chung am 1. April notierte Wilhelm Pieck: „Volks­ar­mee schaf­fen – ohne Geschrei. Pazi­fis­ti­sche Peri­ode ist vorbei.“ Und am 7. April notierte W. Pieck über Stalins Äuße­run­gen zu diesem Thema: Der Westen hat „bisher alle Vorschläge abge­lehnt. … Demar­ka­ti­ons­li­nie gefähr­li­che Grenze. …Bewaff­nung muss geschaf­fen werden. … Nicht Miliz, sondern ausge­bil­dete Armee. Alles ohne Geschrei, aber beharrlich.“

Und zur zwei­ten Haupt­frage, dem Über­gang zum Aufbau des Sozia­lis­mus, sagte Stalin nach Piecks Noti­zen: „…Schaf­fung von Produk­tiv-Genos­sen­schaf­ten im Dorfe, um Groß­bau­ern einzu­krei­sen … Beispiele schaf­fen – … Niemand zwin­gen. Nicht schreien Kolcho­sen – Sozia­lis­mus. Im Anfang die Tat – Weg zum Sozia­lis­mus – staat­li­che Produk­tion ist sozia­lis­ti­schen Produk­tion.“5 […]

Bei den äuße­ren Fakto­ren nimmt die Bundes­re­pu­blik und ihre auf die „Wieder­ge­win­nung“ der „Ostzone“ ausge­rich­tete Poli­tik der in ihr herr­schen­den impe­ria­lis­ti­schen Kräfte den ersten Platz ein – im Bünd­nis mit den USA und den ande­ren NATO-Mäch­ten. Ihre Embargo-Poli­tik und die Auswir­kun­gen ihres Allein­ver­tre­tungs­an­spru­ches, der „Hall­stein-Doktrin“ (bis zum Jahre 1973 brach die BRD zu jedem Staat die Bezie­hun­gen ab, der die DDR diplo­ma­tisch aner­kannte), waren darauf gerich­tet, die DDR ökono­misch und poli­tisch zu isolie­ren und sie wirt­schaft­lich zu ruinieren. […]

“In der zwei­ten Hälfte des Jahres 1952 geriet die DDR in ökono­mi­sche Schwie­rig­kei­ten, die sich vor allem daraus erga­ben, dass die DDR wegen der forcier­ten Aufrüs­tung der Bundes­re­pu­blik und deren bevor­ste­hen­der Einbe­zie­hung in das aggres­sive NATO-Bünd­nis­sys­tem ihrer­seits mit dem Aufbau bewaff­ne­ter Vertei­di­gungs­kräfte und mit deren Ausrüs­tung rascher begin­nen musste, als bisher vorgesehen.”

In der zwei­ten Hälfte des Jahres 1952 geriet die DDR in ökono­mi­sche Schwie­rig­kei­ten, die sich vor allem daraus erga­ben, dass die DDR wegen der forcier­ten Aufrüs­tung der Bundes­re­pu­blik und deren bevor­ste­hen­der Einbe­zie­hung in das aggres­sive NATO-Bünd­nis­sys­tem ihrer­seits mit dem Aufbau bewaff­ne­ter Vertei­di­gungs­kräfte und mit deren Ausrüs­tung rascher begin­nen musste, als bisher vorge­se­hen. Da für diese zusätz­li­chen Aufga­ben weder Mate­rial noch Arbeits­kräfte noch Finanz­mit­tel zur Verfü­gung stan­den, muss­ten bei ande­ren Posten des Wirt­schafts­pla­nes beträcht­li­che Kürzun­gen vorge­nom­men werden, die auch zu empfind­li­chen Belas­tun­gen der DDR-Bürger führen muss­ten und natür­lich auch zu Unzu­frie­den­heit in der Bevöl­ke­rung. Im Januar 1953 wandte sich deshalb das ZK der SED mit einem Schrei­ben an die Regie­rung der UdSSR, in dem im Einzel­nen die Schwie­rig­kei­ten und Probleme der Plan­erfül­lung darge­stellt und die Führung der UdSSR gebe­ten wurde, zu über­prü­fen, ob eine Hilfe bei der Lösung der schwie­ri­gen Probleme nicht möglich sei.

Die Sowje­ti­sche Kontroll­kom­mis­sion (SKK) empfahl darauf­hin in mehre­ren Memo­ran­den strenge Spar­maß­nah­men, auch auf sozia­lem Gebiet zu Lasten der Bevöl­ke­rung. Die rigo­ro­ses­ten Empfeh­lun­gen (z.B. Strei­chung von Fahr­preis­er­mä­ßi­gun­gen für Behin­derte und Schwer­be­schä­digte und Ausschluß von Selb­stän­di­gen aus der Karten­ver­sor­gung) erfolg­ten im April 1953. Eine Maßnahme, die in der Arbei­ter­schaft auf großes Unver­ständ­nis und auf wach­sen­den Wider­stand stieß und auf die sich die feind­li­che Propa­ganda vor allem stürzte und damit die stärkste Wirkung erzielte, war ein am 13./14. Mai vom Zentral­ko­mi­tee der SED gefass­ter und vom Minis­ter­rat am 28. Mai bestä­tig­ter Beschluß, die Arbeits­nor­men bis zum 30. Juni 1953 um 10 Prozent zu erhöhen.

Diesem Beschluß voraus­ge­gan­gen war eine mona­te­lange, im Januar 1953 begon­nene inten­sive Aufklä­rungs­kam­pa­gne in der Presse und im Rund­funk sowie in einer Viel­zahl von Betriebs­ver­samm­lun­gen in der ganzen Repu­blik über die Notwen­dig­keit der Erhö­hung der Arbeits­pro­duk­ti­vi­tät mit dem Ziel, durch eine inten­sive Über­zeu­gungs­ar­beit zu einer massen­haf­ten durch­gän­gi­gen frei­wil­li­gen Norm­er­hö­hung zu kommen. Zwar gab es nicht wenige Beispiele solcher frei­wil­li­ger Norm­er­hö­hun­gen, aber sie erreich­ten nicht den Massen­um­fang, der notwen­dig gewe­sen wäre, um die Arbeits­pro­duk­ti­vi­tät in dem erfor­der­li­chen Maße zu erhöhen.

Es ist also keines­wegs so, dass – wie heute immer zu lesen – die Führung von Anfang an den Weg büro­kra­ti­schen Admi­nis­trie­rens einge­schla­gen hätte. Erst nach­dem der Appell an die Frei­wil­lig­keit nicht zum gewünsch­ten (und ökono­misch auch notwen­di­gen) Ergeb­nis geführt hatte, griff die Führung zum – aber auch jetzt falschen und verhäng­nis­vol­len – Mittel der „von oben“ ohne jede weitere Diskus­sion oder Verhand­lung mit den Gewerk­schaf­ten ange­ord­ne­ten zehn­pro­zen­ti­gen Normenheraufsetzung.

Dadurch entstand eine Situa­tion, die sehr güns­tig war für alle sozia­lis­mus­feind­li­chen Kräfte inner­halb und außer­halb der DDR, und von diesen auch kräf­tig zu einer anti­kom­mu­nis­ti­schen regie­rungs­feind­li­chen Hetz-und Wühl­ar­beit ausge­nutzt wurde.

Ihnen wurde im Früh­jahr eine ganz uner­war­tete Hilfe zuteil.

Anfang Juni 1953 wurde die DDR-Führung nach Moskau zitiert, aber nicht etwa zu einer gemein­sa­men Bera­tung über die besten Lösun­gen zur Über­win­dung der bestehen­den Schwie­rig­kei­ten, sondern zur Entge­gen­nahme und Durch­füh­rung der von der neuen Moskauer Führung mit Chruscht­schow und Berija an der Spitze bereits ohne jede Bera­tung mit den Genos­sen der DDR-Führung einsei­tig beschlos­se­nen Maßnahmen.

Der DDR-Dele­ga­tion – Otto Grote­wohl, Walter Ulbricht und Fred Oels­s­ner – wurde ein Doku­ment über­reicht, beti­telt „Maßnah­men zur Gesun­dung der poli­ti­schen Lage in der Deut­schen Demo­kra­ti­schen Repu­blik“. Darin wurde behaup­tet, dass „infolge der Durch­füh­rung einer fehler­haf­ten poli­ti­schen Linie“ in der DDR „eine äußerst unbe­frie­di­gende poli­ti­sche und wirt­schaft­li­che Lage entstan­den“ sei. Worin sollte die „fehler­hafte poli­ti­sche Linie“ bestan­den haben?

In dem sowje­ti­schen Doku­ment wurde eine völlig entstellte Darstel­lung der Lage in der DDR gege­ben. Es wurde darin behaup­tet, auf der II. Partei­kon­fe­renz sei ein Beschluß „zum beschleu­nig­ten Aufbau des Sozia­lis­mus“ gefasst worden, und das sei falsch gewe­sen, weil dafür die innen- und außen­po­li­ti­schen Voraus­set­zun­gen gefehlt hätten.

Aber auf der II. Partei­kon­fe­renz war beschlos­sen worden, dass in der DDR „die Grund­la­gen des Sozia­lis­mus“ geschaf­fen werden; von „beschleu­nig­tem Aufbau des Sozia­lis­mus“ war mit keinem Wort die Rede gewesen.

Im „Gesun­dungs­be­schluß“ der neuen Moskauer Führung wurde ferner „die Propa­ganda über die Notwen­dig­keit des Über­gan­ges der DDR zum Sozia­lis­mus“ für falsch erklärt. Für falsch erklärt wurden auch alle – vorher von der sowje­ti­schen Kontroll­kom­mis­sion mehr gefor­der­ten als empfoh­le­nen und darauf­hin von der DDR-Regie­rung beschlos­se­nen – Spar­maß­nah­men. Sie seien zurückzunehmen.

Beson­ders unbe­greif­lich waren die Forde­run­gen des „Gesun­dungs­be­schlus­ses“, die auf eine Liqui­die­rung der Anfänge sozia­lis­ti­schen Eigen­tums in der Land­wirt­schaft hinaus­lie­fen. In der DDR könne „unter den heuti­gen Bedin­gun­gen nur eine einfa­chere Form der Produk­ti­ons­ko­ope­rie­rung der Bauern, wie die Genos­sen­schaf­ten zur gemein­sa­men Bear­bei­tung des Bodens, ohne dass die Produk­ti­ons­mit­tel verge­sell­schaf­tet werden, mehr oder weni­ger lebens­fä­hig sein.“ Alle Genos­sen­schaf­ten seien zu über­prü­fen und gege­be­nen­falls aufzulösen.

“Äußerst merk­wür­dig war auch, dass in diesem „Gesun­dungs­be­schluß“ mit keinem Wort die Maßnahme erwähnt und ihre Rück­nahme gefor­dert wurde, welche die Bezie­hun­gen der Partei und des Staa­tes zur Arbei­ter­klasse am stärks­ten belas­tet hat – der Beschluß von Mitte Mai zur Normen­er­hö­hung ab 1. Juni 1953.”

Äußerst merk­wür­dig war auch, dass in diesem „Gesun­dungs­be­schluß“ mit keinem Wort die Maßnahme erwähnt und ihre Rück­nahme gefor­dert wurde, welche die Bezie­hun­gen der Partei und des Staa­tes zur Arbei­ter­klasse am stärks­ten belas­tet hat – der Beschluß von Mitte Mai zur Normen­er­hö­hung ab 1. Juni 1953. Dieses merk­wür­dige Doku­ment läßt vermu­ten, dass es bei irgend­wem in der neuen sowje­ti­schen Führung ein Inter­esse gab, die SED-Führung und insbe­son­dere ihren Gene­ral­se­kre­tär Walter Ulbricht zum Sünden­bock zu machen, um seine Stel­lung zu erschüttern.

Mit den Ereig­nis­sen des 16. und 17. Juni beschäf­tig­ten sich zwei Tagun­gen des ZK der SED, das 14. ZK-Plenum am 21. Juni und das 15. Plenum vom 24.–26. Juli 1953.

Der Verlauf des 15. Plenums bestä­tigt die Vermu­tung, dass ein oder mehrere Mitglie­der der neuen KPdSU-Führung die Schwie­rig­kei­ten der SED-Führung in der DDR dazu benut­zen woll­ten, Walter Ulbricht zu stür­zen und durch einen ihnen geneh­men Mann zu ersetzen.

Auf diesem Plenum kam es zu hefti­gen Ausein­an­der­set­zun­gen über die Frage der Ursa­chen für die Unru­hen und zu Angrif­fen eini­ger Teil­neh­mer auf Walter Ulbricht als dem, wie sie behaup­te­ten, Haupt­ver­ant­wort­li­chen für eine „falsche Poli­tik“, deren Ergeb­nis der 17. Juni gewe­sen sei. Mit dieser Beschul­di­gung traten Wilhelm Zais­ser, Leiter des Minis­te­ri­ums für Staats­si­cher­heit, und Rudolf Herrn­stadt [Chef­re­dak­teur der SED-Zeitung Neues Deutsch­land] auf. Sie schlu­gen vor, die Partei­füh­rung zu ändern; nach dem Vorschlag Zais­sers sollte Herrn­stadt Walter Ulbricht als 1. Sekre­tär ablö­sen. Zais­ser selbst wollte selbst­ver­ständ­lich das Minis­te­rium für Staats­si­cher­heit weiter in der Hand behal­ten. Herrn­stadt brachte den Entwurf einer Entschlie­ßung ein, in dem er die „Erneue­rung der Partei“ forderte. Es hieß in dieser Entschlie­ßung ferner, die Partei müsse der Diener der Massen sein, nicht ihr Führer. Die SED solle umge­wan­delt werden in eine Volks­par­tei aller Klassen.

Der Anschlag miss­lang gründ­lich. Zum einen, weil Herrn­stadt und Zais­ser im ZK keine Mehr­heit erhiel­ten, zum ande­ren, weil Zais­sers Beschüt­zer und wohl auch Auftrag­ge­ber, sein ihm über­ge­ord­ne­ter sowje­ti­scher Minis­ter für Inne­res und Staats­si­cher­heit, Berija, in Moskau – gerade am letz­ten Tag des SED-ZK-Plenums, am 26. Juli, – verhaf­tet und aller seiner Ämter entho­ben wurde. Mit der Zurück­wei­sung des Herrn­stadt-Zais­ser-Vorsto­ßes und mit den Beschlüs­sen des 15. ZK-Plenums der SED zur Über­win­dung der Folgen des 17. Juni und zur Reali­sie­rung der Maßnah­men zur Verbes­se­rung der Lebens­lage der Bevöl­ke­rung war der Grund gelegt worden für die Konso­li­die­rung der Partei und der DDR.

Der 17. Juni 1953 ist ein Ereig­nis der Geschichte der DDR, aber er ist viel mehr. Er ist auch ein Bestand­teil der Geschichte der sozia­lis­ti­schen Staa­ten­ge­mein­schaft und darüber hinaus ein Bestand­teil der Geschichte der kommu­nis­ti­schen Welt­be­we­gung, und dazu noch ein sehr bedeut­sa­mer. Er ist nämlich das Eröffnungs-Glied einer Kette von Ereig­nis­sen, die – rück­schau­end betrach­tet – Glie­der eines fort­schrei­ten­den Prozes­ses der Zerset­zung und Auflö­sung der einst fest­ge­füg­ten und unbe­sieg­ba­ren sozia­lis­ti­schen Staa­ten­ge­mein­schaft und der kommu­nis­ti­schen Welt­be­we­gung waren.

17. Juni 1953: Das staat­li­che Handels­or­ga­ni­sa­tion-Geschäft im Colum­bia­haus am Pots­da­mer Platz wurde im Brand gesetzt.

Dr. Jörg Roesler über die Propaganda des Westens

Jörg Roes­ler (*1940) ist ein deut­scher Wirt­schafts­his­to­ri­ker. Von 1974 bis 1991 war er Bereichs- und Abtei­lungs­lei­ter am Insti­tut für Wirt­schafts­ge­schichte der Akade­mie der Wissen­schaf­ten der DDR. Danach arbei­tete er am Leib­niz-Zentrum für Zeit­his­to­ri­sche Forschung in Pots­dam und war Gast­pro­fes­sor in Kanada und den USA, unter ande­rem an der McGill Univer­sity und der Port­land State Univer­sity.  2013 publi­zierte er anläss­lich des 60. Jahres­tags des 17. Juni 1953 eine Arti­kel­reihe in der Tages­zei­tung junge­Welt. Aus zwei Arti­keln daraus haben wir Ausschnitte ausge­wählt. In diesem zwei­ten Auszug aus dem Arti­kel „Auf dem Prüf­stand“ beschreibt er wie der Westen die Ereig­nisse im Juni propa­gan­dis­tisch aufbe­rei­tet hat. 

Kaum ein Tag war nach den Ereig­nis­sen des 17. Juni vergan­gen, da hatten DDR und BRD ihre Erklä­rung für deren Ursa­chen und Hinter­gründe parat. Gegen­sätz­li­cher sind die Inter­pre­ta­tio­nen für ein und dasselbe Ereig­nis wohl selten gewe­sen. Im Osten titelte das Neue Deutsch­land am 18. Juni »Zusam­men­bruch des Aben­teu­ers auslän­di­scher Agen­ten in Berlin«. Drei Tage später klärte das Organ des Zentral­ko­mi­tees der SED den Leser darüber auf, »wer hinter dem faschis­ti­schen Putsch­ver­such des 17. Juni steht«.

Im Westen sprach die Süddeut­sche Zeitung bereits am 18. Juni von einem »Volks­auf­stand«, der am Vortag in Ostber­lin statt­ge­fun­den habe. Und die Frank­fur­ter Allge­meine Zeitung verkün­dete: »Die Arbei­ter­schaft ist aufge­stan­den gegen die bolsche­wis­ti­schen Ausbeuter.«

[…]

Was die Charak­te­ri­sie­rung der Ereig­nisse des 17. Juni im Westen betrifft, so folg­ten die offi­ziö­sen Geschichts­dar­stel­lun­gen, von der Bundes­zen­trale für poli­ti­sche Bildung bis zu den Schul­buch­ver­la­gen, im Prin­zip der Sprach­re­ge­lung des im August 1953 erlas­se­nen »Geset­zes über den Tag der deut­schen Einheit«. Zu dessen Begrün­dung hieß es, daß am 17. Juni 1953 »das deut­sche Volk in der Sowje­ti­schen Besat­zungs­zone und Ostber­lin sich gegen die kommu­nis­ti­sche Gewalt­herr­schaft erho­ben und (…) seinen Willen zur Frei­heit bekun­det« habe. »Der 17. Juni ist dadurch zum Symbol der deut­schen Einheit in Frei­heit gewor­den.« Dementspre­chend firmiert der 17. Juni fortan als »Volks­auf­stand für Frei­heit und Einheit«.

[…]

Der »Rund­funk im ameri­ka­ni­schen Sektor« war jahre­lang bemüht, den ostdeut­schen Arbei­tern zu vermit­teln, daß sie unter dem »SED-Regime« »unend­lich schuf­ten« müßten. Von »Hetz­tempo« wurde gespro­chen und den Arbei­tern sugge­riert, daß sie »brutals­ten Ausbeu­tungs­me­tho­den« ausge­setzt seien, denen sie sich um den Erhalt ihres Lebens willen entzie­hen soll­ten. Ohne daß es von den RIAS-Redak­teu­ren ausge­spro­chen wurde, sugge­rier­ten die normen­be­zo­ge­nen Sendun­gen in »Werk­tag der Zone«, wochen­tags zwischen 5.35 und 5.45 Uhr früh für Schicht­ar­bei­ter gesen­det, natür­lich noch etwas ande­res: Das Arbeits­tempo unter den frei­heit­lich-demo­kra­ti­schen Bedin­gun­gen der Bundes­re­pu­blik sei gemütlicher.

“Zwischen dem 2. April und dem 28. Mai 1953 hatten 21 Sendun­gen des »Werk­tag der Zone« sich ausschließ­lich um die Normen­frage gedreht. […] »Arbei­ter aller Indus­trie­zweige Ostber­lins forder­ten (heute) … nach­drück­lich, daß die Ostber­li­ner sich am Mitt­woch früh um sieben Uhr am Straus­ber­ger Platz zu einer gemein­sa­men Demons­tra­tion versam­meln sollen.« Diese Meldung wurde am 16. Juni um 23 und 24 Uhr gesen­det und am 17. Juni zwischen 1.00 und 4.00 Uhr stünd­lich wiederholt.”

Seit Ende des Jahres 1952 und beson­ders seit dem Früh­jahr 1953 wurde die Normen­frage, die paral­lel am frühen Abend auch in »Berlin spricht zur Zone« wieder­holt Gegen­stand war, im »Werk­tag der Zone« zum beherr­schen­den Thema. Zwischen dem 2. April und dem 28. Mai 1953 hatten 21 Sendun­gen des »Werk­tag der Zone« sich ausschließ­lich um die Normen­frage gedreht. […] »Arbei­ter aller Indus­trie­zweige Ostber­lins forder­ten (heute) … nach­drück­lich, daß die Ostber­li­ner sich am Mitt­woch früh um sieben Uhr am Straus­ber­ger Platz zu einer gemein­sa­men Demons­tra­tion versam­meln sollen.« Diese Meldung wurde am 16. Juni um 23 und 24 Uhr gesen­det und am 17. Juni zwischen 1.00 und 4.00 Uhr stünd­lich wieder­holt. Zusätz­lich vier­mal ging am frühen Morgen des 17. Juni der Aufruf des West­ber­li­ner DGB-Vorsit­zen­den Ernst Schar­now­ski, eines berüch­tig­ten »Kalten Krie­gers«, an die »Ostber­li­ner Kolle­gin­nen und Kolle­gen« über den RIAS. Er unter­stütze ihre Forde­rung nach Norm­sen­kun­gen. Da ihm ein Aufruf unmit­tel­bar zum Gene­ral­streik verbo­ten worden war, erklärte Schar­now­ski, er könne den Menschen »in der Ostzone und Ostber­lin« keine Anwei­sun­gen, nur gute Ratschläge ertei­len. Unge­ach­tet dessen forderte er die Bewoh­ner des Ostteils der Stadt auf, die Bauar­bei­ter von der Stalin­al­lee nicht im Stich zu lassen. »Tretet darum der Bewe­gung der Ostber­li­ner Bauar­bei­ter, BVGer und Eisen­bah­ner bei und sucht eure Straus­ber­ger Plätze über­all auf.« Ab 7 Uhr berich­tete der RIAS halb­stünd­lich über die anlau­fen­den Demonstrationen.

Dr. Anton Latzo über die Instrumentalisierung der Unruhen

Dr. Anton Latzo studierte, lehrte und forschte am Insti­tut für Inter­na­tio­nale Bezie­hun­gen der DDR, wo er zuletzt Leiter des Lehr­stuhls für Geschichte und Poli­tik der sozia­lis­ti­schen Staa­ten Euro­pas war. Er publi­zierte zu Fragen der Außen­po­li­tik dieser Länder und seit den 1990er Jahren zu Fragen des inter­na­tio­na­len Frie­dens­kamp­fes, der Außen­po­li­tik der BRD, Geschichte, Entwick­lung und Poli­tik der Staa­ten Osteu­ro­pas sowie zur inter­na­tio­na­len Arbei­ter­be­we­gung. Es folgt ein Auszug einer mehr­tei­li­gen Arti­kel­reihe zum 70. Jahres­tag des 17. Juni, in dem er darlegt, wie der Westen die Unru­hen vorweg­nahm und sie dann instru­men­ta­li­sierte.6

[…] Egon Bahr, damals Chef­re­dak­teur von RIAS Berlin (Radio im ameri­ka­ni­schen Sektor), beschrieb die mobi­li­sie­rende und koor­di­nie­rende Rolle des Senders mit den Worten: „Wie nie zuvor ist bewie­sen worden, mit welch rasen­der Wirk­sam­keit und Schnel­lig­keit ein elek­tro­ni­sches Medium in der Lage ist, eine Situa­tion zu verän­dern. Das hat es vorher nicht gegeben.“

Weil man beim RIAS befürch­tete, dass am 17. Juni „nur ein paar Leut­chen“ kommen würden, habe man – so Bahr – einen eige­nen Treff­punkt propa­giert: „Sieben Uhr früh am Straus­ber­ger Platz.“ Der RIAS heizte die Situa­tion von Stunde zu Stunde immer mehr an, die im Sender verbrei­te­ten Forde­run­gen wurden immer poli­ti­scher. Bald war von Norm­er­hö­hung nicht mehr die Rede, sondern vom Sturz der Regie­rung sowie von „freien Wahlen“ und der Entfer­nung der SED aus den Betrieben.

Die Proteste, die sich zuneh­mend gegen Partei, Regie­rung und Staat rich­te­ten, wurden auf diese Weise ausge­wei­tet und erfass­ten Berlin, die Region um Halle/Saale (Leuna, Buna, Merse­burg, Bitter­feld, Wolfen), die Groß­städte Leip­zig, Dres­den und Magde­burg sowie die Indus­trie­stand­orte Bran­den­burg an der Havel und Hennigs­dorf in der Nähe von Berlin. Im Süden der DDR, etwa in den Bezir­ken Karl-Marx-Stadt und Suhl, blieb es hinge­gen rela­tiv ruhig. In Berlin und ande­ren größe­ren Städ­ten der DDR dran­gen – großen­teils orga­ni­siert aus West­ber­lin einge­schleuste – Provo­ka­teure in Waren­häu­ser, Buch­hand­lun­gen, Büros demo­kra­ti­scher Orga­ni­sa­tio­nen und staat­li­che Dienst­stel­len ein, demo­lier­ten Einrich­tun­gen, legten Brände und rissen Fahnen der DDR und der Arbei­ter­be­we­gung herun­ter. Mitar­bei­ter der SED, ande­rer Parteien und der Massen­or­ga­ni­sa­tio­nen wurden nieder­ge­schla­gen und misshandelt.

Dass diese und weitere Provo­ka­tio­nen sowie ihre Stei­ge­rung zu poli­ti­schen Aktio­nen geplant und gesteu­ert waren, zeigen viel­fäl­tige Akti­vi­tä­ten offi­zi­el­ler staat­li­cher Insti­tu­tio­nen und von soge­nann­ten Nichtregierungsorganisationen. […]

Mitte Juni 1953 hielt sich der Chef der CIA, Allan W. Dulles, in West­ber­lin auf – beglei­tet von Gene­ral Matthew B. Ridgway, der über reiche Erfah­run­gen aus dem Krieg gegen das korea­ni­sche Volk verfügte. Mit ihnen kamen nach West­ber­lin der Staats­se­kre­tär im Bundes­kanz­ler­amt, Otto Lenz, und weitere west­deut­sche Poli­ti­ker und Staats­be­amte. Am 17. Juni traf auch der Minis­ter für „gesamt­deut­sche Fragen“, Jakob Kaiser, in West­ber­lin ein, um die Aktion sozu­sa­gen an Ort und Stelle zu beob­ach­ten und anzuleiten.

Bertolt Brechts Eindruck von den Juni-Ereignissen und ihrem Hintergrund (1953)

Bertolt Brecht (*1898–1956) zählt zu den bedeu­tends­ten deut­schen Dich­tern und Drama­ti­kern des 20. Jahr­hun­derts. In einem Brief an seinen west­deut­schen Verle­ger Peter Suhr­kamp schil­dert er am 1. Juli 1953 seine Eindrü­cke von den Juni-Ereig­nis­sen und ihren Hintergründen.

Lieber Suhr­kamp,

Sie fragen mich nach meiner Stel­lung­nahme zu den Vorkomm­nis­sen des 16. und 17. Juni. Handelte es sich um einen Volks­auf­stand, um den Versuch “die Frei­heit zu erlan­gen”, wie der über­wäl­ti­gende Teil der west­deut­schen Presse behaup­tet? Bin ich einem Volks­auf­stand gleich­gül­tig oder gar feind­lich gegen­über­ge­stan­den, habe ich mich gegen die Frei­heit gestellt, als ich am 17. Juni in einem Brief an die Sozia­lis­ti­sche Einheits­par­tei Deutsch­lands, von dem der Schluß­satz veröf­fent­licht wurde, (mich) bereit erklärte, bei der unbe­dingt nöti­gen Ausspra­che zwischen Arbei­ter­schaft und Regie­rung in meiner Weise (in künst­le­ri­scher Form) mitzu­wir­ken? – Ich habe drei Jahr­zehnte lang in meinen Schrif­ten die Sache der Arbei­ter zu vertre­ten versucht.

Aber ich habe in der Nacht des 16. und am Vormit­tag des 17. Juni die erschüt­tern­den Demons­tra­tio­nen der Arbei­ter über­ge­hen sehen in etwas sehr anders als den Versuch, für sich die Frei­heit zu erlan­gen. Sie waren zu Recht erbit­tert. Die unglück­li­chen und unklu­gen Maßnah­men der Regie­rung, die bezwe­cken soll­ten, über­stürzt auf dem Gebiet der DDR eine Schwer­indus­trie aufzu­bauen, brach­ten zu glei­cher Zeit Bauern, Hand­wer­ker, Gewer­be­trei­bende, Arbei­ter und Intel­lek­tu­elle gegen sie auf. Eine Mißernte im vori­gen Jahr, verur­sacht durch eine große Trocken­heit und die Land­flucht von Hundert­tau­sen­den von Bauern dieses Jahres, bedroh­ten die Ernäh­rung aller Schich­ten der Bevöl­ke­rung zugleich, Maßnah­men wie der Entzug der Lebens­mit­tel­kar­ten für Klein­ge­wer­be­trei­bende stell­ten ihre nackte Exis­tenz in Frage, andere Maßnah­men, wie die Anrech­nung des Kran­ken­ur­laubs auf den Erho­lungs­ur­laub, Strei­chun­gen der Vergüns­ti­gun­gen für Arbei­ter­fahr­kar­ten und die gene­relle Erhö­hung der Normen bei gleich­blei­ben­den oder sich sogar erhö­hen­den Lebens­kos­ten trie­ben die Arbei­ter­schaft, deren Gewerk­schaf­ten nur schwäch­lich arbei­te­ten und ihrer Posi­tion nach nur schwäch­lich arbei­ten konn­ten, schließ­lich auf die Straße und ließen sie die unzwei­fel­haft großen Vorteile verges­sen, welche die Vertrei­bung der Junker, die Verge­sell­schaf­tung der Hitler­schen Kriegs­in­dus­trie, die Planung der Produk­tion und die Zerschmet­te­rung des bürger­li­chen Bildungs­mo­no­pols ihnen verschafft hatten.

Die Straße frei­lich mischte die Züge der Arbei­ter und Arbei­te­rin­nen schon in den frühen Morgen­stun­den des 17. Juni auf groteske Art mit aller­lei deklas­sier­ten Jugend­li­chen, die durch das Bran­den­bur­ger Tor, über den Pots­da­mer Platz, auf der Warschauer Brücke kolon­nen­weise einge­schleust wurden, aber auch mit den schar­fen, bruta­len Gestal­ten der Nazi­zeit, den hiesi­gen, die man seit Jahren nicht mehr in Haufen hatte auftre­ten sehen und die doch immer dage­we­sen waren.

Die Paro­len verwan­del­ten sich rapide. Aus “Weg mit der Regie­rung!” wurde “Hängt Sie!”, und der Bürger­steig über­nahm die Regie. Gegen Mittag, als auch in der DDR, in Leip­zig, Halle, Dres­den, sich Demons­tra­tio­nen in Unru­hen verwan­delt hatten, begann das Feuer seine alte Rolle wieder aufzu­neh­men. Von den Linden aus konnte man die Rauch­wolke des Colum­bus­hau­ses, an der Sekto­ren­grenze des Pots­da­mer Plat­zes liegend, sehen, wie an einem vergan­ge­nen Unglücks­tag einmal die Rauch­wolke des Reichs­tags­ge­bäu­des. Heute wie damals hatten nicht Arbei­ter das Feuer gelegt: es ist nicht die Waffe derer, die bauen. Dann wurden — hier wie in ande­ren Städ­ten — Buch­hand­lun­gen gestürmt und Bücher heraus­ge­wor­fen und verbrannt, und die Marx- und Engels-Bände, die in Flam­men aufgin­gen, waren sowe­nig arbei­ter­feind­lich wie die roten Fahnen, die öffent­lich zerris­sen wurden. (Auf den Fotos, die in der west­deut­schen Presse veröf­fent­licht wurden, können Sie ohne Vergrö­ße­rungs­glas sehen, wer da die Fahnen zeriss.) In der Provinz wurde “befreit”. Aber als die Gefäng­nisse gestürmt wurden, kamen merk­wür­dige Gefan­gene aus diesen “Bastil­len”, in Halle die ehema­lige Komman­de­use des Ravens­brü­cker Konzen­tra­ti­ons­la­gers, Erna Dorn. Sie hielt anfeu­ernde Reden auf dem Markt­platz. An manchen Orten gab es Über­fälle auf Juden, nicht viele, da es nicht mehr viele Juden gibt. Und den ganzen Tag kam über den RIAS, der sein Programm kassiert hatte, anfeu­ernde Reden, das Wort Frei­heit von elegan­ten Stim­men gespro­chen. Über­all waren die “Kräfte” am Werk, die Tag und Nacht an das Wohl­erge­hen der Arbei­ter und der “klei­nen Leute” denken und jenen hohen Lebens­stan­dard verspre­chen, der am Ende dann immer zu einem hohen Todes­stan­dard führt. Da schien es große Leute zu geben, die bereit waren, die Arbei­ter von der Straße direkt in die Frei­heit der Muni­ti­ons­fa­bri­ken zu führen. Mehrere Stun­den lang, bis zum Eingrei­fen der Besat­zungs­macht, stand Berlin am Rand eines drit­ten Weltkrieges.

Lieber Suhr­kamp, machen wir uns nichts vor: Nicht nur im Westen, auch hier im Osten Deutsch­lands sind “die Kräfte” wieder am Werk. Ich habe an diesem tragi­schen 17. Juni beob­ach­tet, wie der Bürger­steig auf die Straße das “Deutsch­land­lied” warf und die Arbei­ter es mit der “Inter­na­tio­nale” nieder­stimm­ten. Aber sie kamen, verwirrt und hilf­los, nicht durch damit.

Die Sozia­lis­ti­sche Einheits­par­tei Deutsch­lands hat Fehler began­gen, die für die sozia­lis­ti­sche Partei sehr schwer­wie­gend sind und Arbei­ter, darun­ter auch alte Sozia­lis­ten, gegen sie aufbrach­ten. Ich gehöre ihr nicht an. Aber ich respek­tiere viele ihrer histo­ri­schen Errun­gen­schaf­ten, und ich fühlte mich ihr verbun­den, als sie – nicht ihrer Fehler, sondern ihrer Vorzüge wegen – von faschis­ti­schem und kriegs­trei­be­ri­schem Gesin­del ange­grif­fen wurde. Im Kampf gegen Krieg und Faschis­mus stand und stehe ich an ihrer Seite.

Bertolt Brecht, Berlin-Weißen­see, 1. Juli 1953, Berli­ner Allee 190.

© Bertolt-Brecht-Erben / Suhr­kamp Verlag, Quelle: Brecht-Archiv der DDR, publi­ziert in: Brecht, B.: Brief an Peter Suhr­kamp (Juli 1953), in: Briefe 1913 — 1956, Berlin Weimar 1983, 746 Seiten, S. 656–659.

 

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