Berufsethos und Gesundheitspolitik bilden keinen Gegensatz. Ein Artikel über die Arbeitsbedingungen im Gesundheitswesen der DDR.
Von Max Rodermund
Erschienen in der 1. Mai-Beilage der jungen Welt am 27. April 2022
Spricht man mit ehemaligen Ärzten und Krankenschwestern des Gesundheitswesens der DDR, dann bekommt man nicht einfach ein blumiges Bild über die Arbeitsbedingungen und Zustände im Krankenhaus zu hören.
Im Rahmen der Publikation »Sozialismus ist die beste Prophylaxe!« der Internationalen Forschungsstelle DDR konnten wir mit einigen sprechen. So beispielsweise mit Irene, die Anfang der 60er Jahre zur Krankenpflegerin ausgebildet wurde und sich an die tägliche harte Handarbeit im Krankenhaus erinnert. So mussten zu Anfang teilweise noch Spritzen und Verbandsmaterial zur Wiederbenutzung ausgekocht werden, und bei manch einer Nachtschicht war sie allein für 60 Patienten verantwortlich. Auch aus Gesprächen mit weiteren ehemaligen Beschäftigten im Gesundheitswesen bestätigt sich, dass es eigentlich nie ausreichend Pflegekräfte gab. Zur Besetzung der zweiten und dritten Schicht im Krankenhaus musste teilweise Personal aus dem ambulanten Bereich hinzugezogen werden.
Diese Erfahrungen drücken nicht von der Hand zu weisende Probleme im Alltag des Gesundheitswesens der DDR aus. Auch wenn eine Untersuchung von 1970 keine von der Bundesrepublik zu der Zeit stark abweichenden Pflegeschüssel nachweist: Bei territorialen und fachbezogenen Schwankungen liegt der Durchschnitt bei 5,8 Betten pro examinierter Pflegekraft. Inklusive Hilfspflegekräften kommt die Studie auf 3,8 Betten je Beschäftigten.
Um die Bedeutung der Schwierigkeiten und Probleme zu verstehen und richtig einzuordnen, kommt man an einem Blick auf die Ursachen nicht vorbei. So wird man schnell zu der Feststellung kommen, dass eine oberflächlich-selektive Betrachtung vom Wesen der Andersartigkeit des Gesundheitssystems der DDR und eben auch den Arbeitsbedingungen darin ablenkt. Materialknappheit, technischer Rückstand und Arbeitskräftemangel können letztlich nur im Zusammenhang mit den allgemeinen ökonomischen Schwierigkeiten erklärt werden, die wiederum wesentlich von den Startbedingungen der DDR als auch der Sanktions- und Blockadepolitik des Westens abhängen.
Löst man sich von dieser oberflächlichen Betrachtung, sticht, bezogen auf die Arbeitsbedingungen der mittleren medizinischen Berufe in der DDR, die Tendenz zur umfassenden Aufwertung des Berufsstandes wesentlich hervor. Gemeint ist damit nicht die Entlohnung, die in der DDR ein unteres Niveau aufwies und neben dem Schichtbetrieb ein Grund für eine durchschnittlich niedrige Berufsdauer war, das heißt zu einer hohen Fluktuation des Pflegepersonals beitrug.
Die Angleichung der Anstellungsverhältnisse der unterschiedlichen Berufsgruppen im gesamten Gesundheitswesen verringerte die traditionell klaffende ¬Lücke der sozialen Stellung zwischen den Berufsständen. Einen radikalen Wandel bedeutete das vor allem für die ambulante Betreuung. Der privat niedergelassene, als Kleinunternehmer tätige Arzt wurde ebenso wie die Krankenschwester Angestellter des staatlichen Gesundheitswesens. Aus »Arbeitgeber« und »Arbeitnehmer« wurden Kollegen. Aber auch im stationären Bereich, in den Krankenhäusern, sorgten die Arbeitsgesetze bei allen für feste Arbeits- und Urlaubszeiten, Tarife, gesundheitliche Kontrolle, Zugang zu sozialen und kulturellen Rechten und weiteres mehr. Die Absicherung und Durchsetzung dieser Rechte garantierte die für diesen Bereich zuständige Gewerkschaft Gesundheitswesen. 1979 waren mit 496.081 Mitgliedern 97,1 Prozent aller Beschäftigten im Gesundheitswesen hier organisiert, 83 Prozent davon waren Frauen.
Der Prozess der Brechung der Privilegien und des Standesdenkens der Ärzte verlief dabei nicht gradlinig. Die aggressiven Abwerbekampagnen aus der Bundesrepublik zwangen die DDR zu Kompromissen gegenüber der Ärzteschaft. So wurde beispielsweise Ende 1960 ein kurzzeitiger Vorstoß zur eigenständigen Organisierung der Ärzte, Zahnärzte und Apotheker vorangebracht. Mit der Grenzsicherung 1961 und der damit verbundenen Entspannung bei der Abwanderung von in der DDR ausgebildeten Ärzten konnte diese Idee wieder zu den Akten gelegt werden. Und die gemeinsame Organisierung in der Gewerkschaft Gesundheitswesen konnte die Tendenz der Vereinigung der Berufsstände und Fachrichtungen noch verstärken.
In gleicher Richtung wirkte die einheitliche und staatlich finanzierte Ausbildung der Krankenpflegekräfte. Grundlagenfächer der Medizin gehörten ebenso zur dreijährigen Fachschulausbildung wie die direkte praktische Tätigkeit in einem Krankenhaus. Auch nach dem Berufseinstieg ermöglichte ein umfassendes Weiterbildungssystem für Ärzte und medizinisches Personal die fortlaufende Qualifizierung. Die sogenannte leitende Krankenschwester, die den Pflegebetrieb organisierte und gemeinsam mit dem ärztlichen Direktor die Entwicklung des Krankenhauses überblickte, wurde in einem Diplomstudium weiterqualifiziert. Die hohe fachliche Ausbildung unterstützte die Berufsemanzipation der Pflegekräfte.
Entscheidend zur Aufwertung der Krankenpflege trug die gesundheitspolitische Ausrichtung der DDR als Ganzes bei. Das Ziel des Gesundheitsschutzes der Bevölkerung konnte sich durch die Abwesenheit privater Profitinteressen entfalten und erhielt einen hohen politischen Rang, der sich über eine einheitliche und gesamtgesellschaftliche Struktur des Gesundheitswesens verwirklichen konnte. Diese prinzipielle Ausrichtung in der Gesundheitspolitik entsprach der konkreten Aufgabe der Beschäftigten zur Heilung und Pflege der Patienten und gab ihnen dabei starke Rückendeckung. Die heute alltägliche Frustrationserfahrung, seiner Aufgabe zur Pflege und Behandlung nicht nachkommen zu können, war in der DDR im wesentlichen überwunden.