Die Welt braucht eine neue Entwicklungstheorie, die Arme nicht in Armut gefangen hält. 

Der achtundzwanzigste Newsletter (2023)

Der Akos­ombo-Stau­damm im Volta-Fluss, einge­weiht 1965 während der Präsi­dent­schaft von Kwame Nkrumah.

Liebe Freund*innen,

 

Grüße aus dem Büro von Tricon­ti­nen­tal: Insti­tute for Social Rese­arch.

 

Im Juni hat das Sustainable Deve­lo­p­ment Solu­ti­ons Network der Verein­ten Natio­nen seinen Bericht über nach­hal­tige Entwick­lung 2023 veröf­fent­licht, der die Fort­schritte der 193 Mitglieds­staa­ten bei der Errei­chung der sieb­zehn Ziele für nach­hal­tige Entwick­lung (Sustainable Deve­lo­p­ment Goals, kurz SDGs) fest­hält. «Von 2015 bis 2019», so der Bericht, «hat die Welt einige Fort­schritte bei den SDGs gemacht, obwohl diese noch bei weitem nicht ausrei­chen, die Ziele zu errei­chen. Seit dem Ausbruch der Pande­mie im Jahr 2020 und ande­ren gleich­zei­ti­gen Krisen sind die Fort­schritte bei den SDGs welt­weit ins Stocken gera­ten». Diese Entwick­lungs­agenda wurde 2015 verab­schie­det, wobei die Ziele bis 2030 erreicht werden soll­ten. Auf halbem Weg zu diesem Termin stellt der Bericht jedoch fest, dass «sämt­li­che SDGs ernst­haft vom Weg abge­kom­men sind». Warum sind die UN-Mitglied­staa­ten nicht in der Lage, ihre SDG-Verpflich­tun­gen zu erfül­len? «In ihrem Kern», so der Bericht, «sind die SDGs eine Inves­ti­ti­ons­agenda: Es ist von entschei­den­der Bedeu­tung, dass die UN-Mitglied­staa­ten die SDG-Anreize anneh­men und umset­zen und eine umfas­sende Reform der globa­len Finanz­ar­chi­tek­tur unter­stüt­zen». Aller­dings sind nur wenige Staa­ten ihren finan­zi­el­len Verpflich­tun­gen nach­ge­kom­men. Um die SDG-Agenda zu verwirk­li­chen, bräuch­ten die ärme­ren Länder mindes­tens 4 Billio­nen US-Dollar an zusätz­li­chen Inves­ti­tio­nen pro Jahr.

 

Aktu­ell ist keine Entwick­lung mehr möglich, da die meis­ten ärme­ren Länder in einer perma­nen­ten Schul­den­krise stecken. Aus diesem Grund fordert der Bericht über nach­hal­tige Entwick­lung 2023 eine Über­ar­bei­tung des Systems der Kredit­ra­tingsprü­fung, das die Möglich­kei­ten der Länder zur Kredit­auf­nahme einschränkt (und wenn sie Kredite aufneh­men können, dann zu wesent­lich höhe­ren Zins­sät­zen als die reiche­ren Länder). Darüber hinaus fordert der Bericht das Banken­sys­tem auf, die Liqui­di­täts­struk­tu­ren für ärmere Länder zu über­ar­bei­ten, «insbe­son­dere im Hinblick auf die Staats­ver­schul­dung, um vorher­seh­bare Banken- und Zahlungs­bi­lanz­kri­sen zu verhindern».


Es ist wich­tig, die Staats­schul­den­krise an die Spitze der Entwick­lungs­dis­kus­sion zu stel­len. Die UN-Konfe­renz für Handel und Entwick­lung (UNCTAD) schätzt, dass «die Staats­ver­schul­dung der Entwick­lungs­län­der (ohne China) im Jahr 2021 11,5 Billio­nen Dollar erreichte». Im selben Jahr zahl­ten die Entwick­lungs­län­der 400 Milli­ar­den US-Dollar für den Schul­den­dienst – mehr als doppelt so viel wie die offi­zi­elle Entwick­lungs­hilfe, die sie erhiel­ten. Die meis­ten Länder nehmen Kredite nicht auf, um in ihre Bevöl­ke­rung zu inves­tie­ren, sondern um die Anlei­he­gläu­bi­ger zu befrie­di­gen, weshalb wir dies nicht als Entwick­lungs­fi­nan­zie­rung, sondern als Finan­zie­rung des Schul­den­diens­tes betrachten.

Die TAZARA-Eisen­bahn (oder Uhuru-Eisen­bahn), die die ostafri­ka­ni­schen Länder Tansa­nia und Sambia verbin­det, wurde von China finan­ziert, von chine­si­schen und afri­ka­ni­schen Arbeiter*innen gebaut und 1975 fertiggestellt.

Die Lektüre der UN-Publi­ka­tio­nen und akade­mi­scher Lite­ra­tur über Entwick­lung ist ernüch­ternd. Die Diskus­sion ist gefan­gen in den Zwän­gen der hart­nä­cki­gen und perma­nen­ten Schul­den­krise. Ob die Schul­den­pro­ble­ma­tik nun hervor­ge­ho­ben oder igno­riert wird, ihre Exis­tenz schließt die Möglich­keit eines echten Fort­schritts für die Völker der Welt aus. Die Schluss­fol­ge­run­gen der Berichte enden oft mit einem mora­li­schen Appell — so sollte es sein — anstatt einer Bewer­tung der Situa­tion auf der Grund­lage der Tatsa­chen der neoko­lo­nia­len Struk­tur der Welt­wirt­schaft: Die Entwick­lungs­län­der, die über reiche Ressour­cen verfü­gen, sind nicht in der Lage, gerechte Preise für ihre Exporte zu erzie­len, was bedeu­tet, dass sie weder genü­gend Reich­tum anhäu­fen, um eine Indus­tria­li­sie­rung zum Wohle ihrer eige­nen Bevöl­ke­rung durch­zu­füh­ren, noch die für ihre Bevöl­ke­rung erfor­der­li­chen sozia­len Güter finan­zie­ren können. Aufgrund dieser Verschul­dung und der Unzu­läng­lich­keit der akade­mi­schen Entwick­lungs­theo­rie gibt es keine wirk­same allge­meine theo­re­ti­sche Orien­tie­rung für eine realis­ti­sche und ganz­heit­li­che Entwick­lungs­agenda, und ein Ausweg aus dem perma­nen­ten Schul­den-Austeri­täts-Zyklus scheint nicht ohne weite­res möglich zu sein.

Collage des Assuan-Hoch­dam­mes (Ägyp­ten), des Bhilai-Stahl­werks (Indien) und des Hoch­haus­pro­jekts Eisen­hüt­ten­stadt (Deut­sche Demo­kra­ti­sche Republik).

Am Tricon­ti­nen­tal: Insti­tute for Social Rese­arch sind wir bestrebt, eine Diskus­sion über die Notwen­dig­keit einer neuen sozia­lis­ti­schen Entwick­lungs­theo­rie zu eröff­nen — einer Theo­rie, die auf den Projek­ten von Volks­be­we­gun­gen und fort­schritt­li­chen Regie­run­gen aufbaut. Als Teil dieser Diskus­sion bieten wir unser neues­tes Dossier The World Needs a New Socia­list Deve­lo­p­ment Theory («Die Welt braucht eine neue sozia­lis­ti­sche Entwick­lungs­theo­rie») an, das einen Über­blick über die Entwick­lungs­theo­rie von 1945 bis heute gibt und Ansätze für ein neues Para­digma bietet. Wie wir in dem Dossier feststellen:

 

Um von den Tatsa­chen auszu­ge­hen, müsste man Probleme aner­ken­nen wie die Verschul­dung und Deindus­tria­li­sie­rung, die Abhän­gig­keit vom Export von Primär­pro­duk­ten, die Reali­tät der Verrech­nungs­preise und ande­rer Instru­mente, die von multi­na­tio­na­len Konzer­nen zur Erpres­sung von Lizenz­ge­büh­ren aus den Export­staa­ten einge­setzt werden, die Schwie­rig­kei­ten bei der Umset­zung neuer und umfas­sen­der Indus­trie­stra­te­gien sowie die Notwen­dig­keit, die tech­no­lo­gi­schen, wissen­schaft­li­chen und büro­kra­ti­schen Kapa­zi­tä­ten der Bevöl­ke­run­gen in den meis­ten Teilen der Welt aufzu­bauen. Diese Tatsa­chen blei­ben für die Regie­run­gen des Globa­len Südens schwer zu über­win­den, obwohl diese Regie­run­gen jetzt — mit dem Entste­hen der neuen Süd-Süd-Insti­tu­tio­nen und Chinas globa­len Initia­ti­ven — mehr Möglich­kei­ten haben als in den vergan­ge­nen Jahr­zehn­ten und nicht mehr ganz so abhän­gig von den west­lich kontrol­lier­ten Finanz- und Handels­in­sti­tu­tio­nen sind. Diese neuen Reali­tä­ten erfor­dern die Formu­lie­rung neuer Entwick­lungs­theo­rien, neuer Einschät­zun­gen der Möglich­kei­ten und Wege zur Über­win­dung der hart­nä­cki­gen Fakten der sozia­len Verzweif­lung. Mit ande­ren Worten: Die Notwen­dig­keit natio­na­ler Planung und regio­na­ler Zusam­men­ar­beit sowie der Kampf um ein besse­res exter­nes Umfeld für Finan­zen und Handel stehen wieder auf dem Programm.

Anshan Iron and Steel Company wurde als eines der 156 Baupro­jekte in China, die von der Sowjet­union in den 1950er Jahren unter­stützt wurden, reno­viert und erweitert.

Ein kürz­lich in Berlin geführ­tes Gespräch mit unse­ren Part­nern vom Inter­na­tio­na­len Forschungs­zen­trum DDR (IF DDR) führte zu der Erkennt­nis, dass dieses Dossier die Debat­ten und Diskus­sio­nen über die Entwick­lung in der Sowjet­union, der Deut­schen Demo­kra­ti­schen Repu­blik (DDR), Jugo­sla­wien und der brei­te­ren inter­na­tio­na­len kommu­nis­ti­schen Bewe­gung nicht berück­sich­tigt. Bereits auf dem Zwei­ten Kongress der Kommu­nis­ti­schen Inter­na­tio­nale, der 1920 in Moskau statt­fand, began­nen Kommunist*innen, eine Theo­rie der «nicht-kapi­ta­lis­ti­schen Entwick­lung» (NCD) für Gesell­schaf­ten zu formu­lie­ren, die kolo­ni­siert und in die kapi­ta­lis­ti­sche Welt­wirt­schaft inte­griert worden waren, aber noch vorka­pi­ta­lis­ti­sche Produk­ti­ons­for­men und soziale Hier­ar­chien beibe­hiel­ten. Die allge­meine Auffas­sung der NCD war, dass post­ko­lo­niale Gesell­schaf­ten den Kapi­ta­lis­mus umge­hen und durch einen natio­nal-demo­kra­ti­schen Prozess zum Sozia­lis­mus gelan­gen könn­ten. Die NCD-Theo­rie, die auf inter­na­tio­na­len Konfe­ren­zen kommu­nis­ti­scher und Arbei­ter­par­teien entwi­ckelt und von sowje­ti­schen Wissenschaftler*innen wie Rost­is­lav A. Ulja­novsky und Sergei Tiul­pa­nov in Zeit­schrif­ten wie der World Marxist Review weiter ausge­ar­bei­tet wurde, konzen­trierte sich auf drei Transformationen:

    • Die Agrar­re­form, um die Bauern­schaft aus ihrer Notlage zu befreien und die Macht der Großgrundbesitzer*innen zu brechen.
    • Die Verstaat­li­chung von Schlüs­sel­sek­to­ren der Wirt­schaft, wie Indus­trie und Handel, um die Macht auslän­di­scher Mono­pole zu beschränken.
    • Die Demo­kra­ti­sie­rung der poli­ti­schen Struk­tu­ren, des Bildungs- und Gesund­heits­we­sens, um die gesell­schafts­po­li­ti­schen Grund­la­gen für den Sozia­lis­mus zu schaffen.

Im Gegen­satz zur import­sub­sti­tu­ie­ren­den Indus­tria­li­sie­rungs­po­li­tik, die von Insti­tu­tio­nen wie der UN-Wirt­schafts­kom­mis­sion für Latein­ame­rika voran­ge­trie­ben wurde, vertrat die NCD-Theo­rie ein viel robus­te­res Verständ­nis der Notwen­dig­keit, die Gesell­schaft zu demo­kra­ti­sie­ren und nicht nur die Handels­be­din­gun­gen zu verän­dern. In der Reihe «Freund­schaft» des IF DDR wird in einem Arti­kel von Matthew Read die prak­ti­sche Anwen­dung der NCD-Theo­rie in Mali in den 1960er Jahren eindrucks­voll beschrie­ben. IF DDR und Tricon­ti­nen­tal: Insti­tute for Social Rese­arch werden an einer umfas­sen­den Studie zur NCD-Theo­rie arbeiten.

Seite aus Usul al-‘Adl li-Wullat al-Umur wa-Ahl al-Fadl wa-al-Sala­tin («Die Rechts­pflege für Gouver­neure, Fürs­ten und die verdienst­vol­len Herr­scher»), Ende der 1700er-Jahre.

Bereits vor dem Kolo­nia­lis­mus hatten afri­ka­ni­sche und arabi­sche Gelehrte in West­afrika damit begon­nen, Elemente einer Entwick­lungs­theo­rie auszu­ar­bei­ten. So schrieb beispiels­weise Usman dan Fodio (1754–1817), ein Scheich des Fulbe-Volkes, der das Kali­fat von Sokoto (1804–1903) grün­dete, den Usul al-‘Adl li-Wullat al-Umur wa-Ahl al-Fadl wa-al-Sala­tin («Die Rechts­pflege für Gouver­neure, Fürs­ten und die verdienst­vol­len Herr­scher»), um sich und seinen Anhänger*innen den Weg für die Erhe­bung des Volkes zu weisen. Der Text ist wegen der darin darge­leg­ten Grund­sätze inter­es­sant, wenn­gleich sich das Kali­fat ange­sichts des dama­li­gen Niveaus der gesell­schaft­li­chen Produk­tion auf ein System mit gerin­ger tech­ni­scher Produk­ti­vi­tät und versklav­ter Arbeit stützte. Bevor die Menschen in West­afrika dem Kali­fat die Macht entrei­ßen und ihre eigene Gesell­schaft voran­trei­ben konn­ten, wurde der letzte Kalif von den Briten getö­tet, die — zusam­men mit den Deut­schen und Fran­zo­sen — das Land erober­ten und seine Geschichte der euro­päi­schen unter­ord­ne­ten. Fünf Jahr­zehnte später führte Modibo Keïta, ein mili­tan­ter Kommu­nist, die Unab­hän­gig­keits­be­we­gung Malis an und versuchte, die Unter­ord­nung der afri­ka­ni­schen Länder mithilfe des NCD-Projekts rück­gän­gig zu machen. Keïta stellte sich nicht ausdrück­lich als direkte Nach­folge von  Ibn Fodio — dessen Einfluss in ganz West­afrika zu spüren war — dar, aber wir können uns die versteck­ten Verbin­dungs­pfade vorstel­len, die bemer­kens­wer­ten Konti­nui­tä­ten zwischen diesen alten Ideen (trotz ihrer Einbin­dung in die elen­den sozia­len Hier­ar­chien ihrer Zeit) und den neuen Ideen, die von Intel­lek­tu­el­len der Drit­ten Welt vorge­bracht wurden.

 

Herz­lichst,

Vijay

Aus dem Engli­schen von Claire Louise Blaser.