Da bin ich noch: mein Land geht in den Westen.
Der siebzehnte Newsletter (2021).
Liebe Freunde,
Grüße vom Schreibtisch des Tricontinental: Institute for Social Research.
Eine ganze Generation ist vergangen, seit die Union der Sozialistischen Sowjetrepubliken (UdSSR) Ende 1991 zusammenbrach. Zwei Jahre zuvor, 1989, lösten sich die kommunistischen Staaten Osteuropas auf, wobei die erste Salve abgefeuert wurde, als Ungarn seine Grenze öffnete. Am 3. März 1989 fragte der letzte kommunistische Ministerpräsident Ungarns, Miklós Németh, den letzten Präsidenten der UdSSR, Michail Gorbatschow, ob die Grenze zu Westeuropa geöffnet werden könne. «Wir haben ein strenges Regime an unseren Grenzen», sagte Gorbatschow zu Németh, «aber wir werden auch offener.» Drei Monate später, am 15. Juni, sagte Gorbatschow vor der Presse in Bonn (Westdeutschland), dass die Berliner Mauer «verschwinden könnte, wenn die Voraussetzungen, die sie hervorgebracht haben, nicht mehr bestehen». Er nannte die Vorbedingungen nicht, aber er sagte: «Nichts ist dauerhaft unter dem Mond.» Am 9. November 1989 wurde die Berliner Mauer niedergerissen. Im Oktober 1990 ging die Deutsche Demokratische Republik (DDR) in einem vereinten Deutschland unter westdeutscher Dominanz auf.
Im Zuge der Wiedervereinigung mussten die Strukturen der DDR beseitigt werden. Unter der Leitung des sozialdemokratischen Politikers Detlev Rohwedder schufen die neuen Machthaber die Treuhandanstalt, um 8.500 volkseigene Betriebe zu privatisieren, die über 4 Millionen Arbeitnehmer beschäftigten. «Schnell privatisieren, entschlossen umstrukturieren und behutsam stilllegen», sagte Rohwedder. Doch bevor er dies tun konnte, wurde Rohwedder im April 1991 ermordet. Seine Nachfolgerin wurde die Ökonomin Birgit Breuel, die der Washington Post sagte: «Wir können versuchen, uns den Menschen zu erklären, aber sie werden uns nie lieben. Denn was auch immer wir tun, es ist schwer für die Menschen. Bei jedem der 8.500 Unternehmen privatisieren oder restrukturieren wir oder schließen sie. In jedem Fall verlieren die Menschen ihren Arbeitsplatz.» Hunderte von Firmen, die zuvor Volkseigentum waren, gingen in private Hände über und Millionen von Menschen verloren ihre Arbeit; in dieser Zeit verloren 70 % der Frauen ihre Arbeit. Das atemberaubende Ausmaß der Korruption und Vetternwirtschaft von Treuhand und westdeutschen Unternehmen kam erst Jahrzehnte später in einer parlamentarischen Untersuchung im Jahr 2009 ans Licht.
Nicht nur, dass das öffentliche Eigentum der DDR in die Taschen des Privatkapitals wanderte, auch die gesamte Geschichte des Projekts verschwand im Dunst antikommunistischer Rhetorik. Das einzige Wort, das übrig blieb, um die vierzig Jahre der DDR-Geschichte zu definieren, war Stasi, die umgangssprachliche Bezeichnung für das Ministerium für Staatssicherheit. Alles andere spielte keine Rolle. Weder die Entnazifizierung dieses Teils Deutschlands – die im Westen nicht durchgeführt wurde – noch die beeindruckenden Errungenschaften in den Bereichen Wohnen, Gesundheit, Bildung und soziales Leben nehmen in der öffentlichen Vorstellung Raum ein. Der Beitrag der DDR zum antikolonialen Kampf oder zu den sozialistischen Aufbauversuchen von Vietnam bis Tansania wird kaum erwähnt. All das ist verschwunden, die Eruption der Wiedervereinigung hat die Errungenschaften der DDR verschluckt und einen Aschehaufen sozialer Verzweiflung und Amnesie zurückgelassen. Kein Wunder, dass eine Umfrage nach der anderen – ob in den 1990er oder 2000er Jahren – zeigt, dass viele Menschen in den neuen Bundesländern sehnsüchtig auf die DDR-Vergangenheit zurückblicken. Diese als rückwärtsgewandte Ostalgie diffamierte Haltung ist nach wie vor intakt, verstärkt durch die höhere Arbeitslosigkeit und die niedrigeren Einkommen im Osten gegenüber dem Westen Deutschlands.
1998 gründete der Deutsche Bundestag die Bundesstiftung zur Aufarbeitung der SED-Diktatur in Ostdeutschland, die die Bedingungen für die nationale Aufarbeitung der kommunistischen Geschichte festlegte. Der Auftrag der Organisation war es, Forschungen über die DDR zu finanzieren, die diese nicht als historisches Projekt, sondern als kriminelles Unternehmen darstellten. Die Wut beherrschte das historische Unterfangen. Der Versuch, Marxismus und Kommunismus in Deutschland zu delegitimieren, spiegelte die Versuche in anderen Ländern Europas und Nordamerikas wider, die sich beeilten, das Wiederauftauchen dieser linken Ideologien zu ersticken. Die Heftigkeit der Bemühungen, die Geschichte umzuschreiben, deutete darauf hin, dass man ihre Wiederkehr fürchtete.
In diesem Monat hat Tricontinental: Institute for Social Research in Zusammenarbeit mit der Internationalen Forschungsstelle DDR (IF DDR) die erste einer neuen Reihe von Studien zur DDR herausgegeben. Die erste Studie, Auferstanden aus Ruinen: Die Wirtschaftsgeschichte des Sozialismus in der Deutschen Demokratischen Republik, geht unter den antikommunistischen Schlamm, um die historische Entwicklung des vierzigjährigen Projekts in der DDR auf vernünftige Weise freizulegen. Von Berlin aus durchforsteten die Autoren des Textes die Archive und Erinnerungen und befragten diejenigen, die den Sozialismus in Deutschland auf verschiedenen Ebenen der Gesellschaft mit aufgebaut haben.
Peter Hacks, ein Dichter der DDR, sagte rückblickend: «Der schlechteste Sozialismus ist besser als der beste Kapitalismus. Der Sozialismus, jene Gesellschaft, die gestürzt wurde, weil sie tugendhaft war (ein Fehler auf dem Weltmarkt). Jene Gesellschaft, deren Wirtschaft andere Werte respektiert als die Akkumulation von Kapital: die Rechte ihrer Bürger auf Leben, Glück und Gesundheit; Kunst und Wissenschaft; Nützlichkeit und die Reduzierung von Verschwendung.» Denn im Sozialismus, so Hacks, ist nicht das Wirtschaftswachstum, sondern «das Wachstum seiner Menschen das eigentliche Ziel der Wirtschaft». Auferstanden aus Ruinen schildert die Geschichte der DDR und ihrer Menschen von der Asche Deutschlands nach der Niederlage des Faschismus bis zur wirtschaftlichen Ausplünderung der DDR nach 1989.
Einer der am wenigsten bekannten Teile der Geschichte der DDR ist ihr Internationalismus, der in dieser Studie wunderbar herausgearbeitet wird. Drei kurze Auszüge machen das deutlich:
(1) Solidaritätsarbeit. Zwischen 1964 und 1988 wurden sechzig Freundschaftsbrigaden der Freien Deutschen Jugend (der Massenorganisation der DDR-Jugend) in siebenundzwanzig Länder entsandt, um ihr Wissen weiterzugeben, beim Aufbau zu helfen, Ausbildungsmöglichkeiten und Bedingungen für wirtschaftliche Selbstversorgung zu schaffen. Einige dieser Projekte bestehen heute noch, wenn auch unter anderen Namen, wie z.B. das Carlos-Marx-Krankenhaus in Managua, Nicaragua, das Deutsch-Vietnamesische Freundschaftskrankenhaus in Hanoi, Vietnam, und die Karl-Marx-Zementfabrik in Cienfuegos, Kuba, um nur einige zu nennen.
(2) Lern- und Austauschmöglichkeiten. Insgesamt haben mehr als 50.000 ausländische Studenten ihre Ausbildung an den Universitäten und Hochschulen der DDR erfolgreich abgeschlossen. Die Finanzierung des Studiums erfolgte aus dem Staatshaushalt der DDR. In der Regel fielen keine Studiengebühren an, eine große Zahl ausländischer Studenten erhielt Stipendien, und für die Unterbringung in Studentenwohnheimen wurde gesorgt. Neben den Studenten kamen auch viele Vertragsarbeiter aus verbündeten Staaten wie Mosambik, Vietnam und Angola sowie aus Polen und Ungarn in die DDR, die eine Berufsausbildung und Arbeit in der Produktion suchten. Bis zum Schluss blieben die ausländischen Arbeitskräfte ein Schwerpunkt, die Zahl der Vertragsarbeiter stieg von 24.000 auf 94.000 (1981–1989). 1989 erhielten alle Ausländer in der DDR das volle kommunale Wahlrecht und begannen, selbst Kandidaten aufzustellen.
(3) Politische Unterstützung. Während der Westen Nelson Mandela und den African National Congress (ANC) als Terroristen und «Rassisten» verleumdete und mit dem Apartheid-Regime in Südafrika Geschäfte machte – sogar Waffenlieferungen –, unterstützte die DDR den ANC, bildete die Freiheitskämpfer militärisch aus, druckte ihre Publikationen und versorgte ihre Verwundeten. Nachdem schwarze Studenten im Township Soweto am 16. Juni 1976 einen Aufstand gegen das Apartheidregime starteten, begann die DDR, den internationalen Soweto-Tag als Zeichen der Solidarität mit dem südafrikanischen Volk und seinem Kampf zu begehen. Die Solidarität wurde sogar auf diejenigen ausgedehnt, die im Bauch der Bestie saßen: Als Angela Davis in den USA als Terroristin angeklagt wurde, überreichte ihr ein DDR-Korrespondent Blumen zum Frauentag, und Schüler führten die Aktion «Eine Million Rosen für Angela Davis» an, bei der sie LKW-Ladungen von Karten mit handgemalten Rosen zu ihr ins Gefängnis brachten.
Die Erinnerung an diese Solidarität ist weder in Deutschland noch in Südafrika mehr vorhanden. Ohne die materielle Unterstützung durch die DDR, die UdSSR und Kuba wäre die nationale Befreiung in Südafrika wohl kaum zustande gekommen. Die kubanische militärische Unterstützung für die nationalen Befreiungskämpfer in der Schlacht von Cuito Cuanavale 1987 war entscheidend für diese Niederlage der südafrikanischen Apartheidarmee, die schließlich zum Zusammenbruch des Apartheidprojekts im Jahr 1994 führte.
Organisationen wie die Bundesstiftung zur Aufarbeitung der SED-Diktatur in der DDR (Berlin) und die Victims of Communism Memorial Foundation (Washington, USA) existieren nicht nur, um die kommunistische Vergangenheit zu verunglimpfen und den Kommunismus schlecht zu machen, sondern um sicherzustellen, dass kommunistische Projekte in der Gegenwart die Strafe für ihre Karikaturen tragen. Ein linkes Projekt in unserer Zeit voranzubringen – was unbedingt notwendig ist – wird sehr viel schwieriger, wenn es den Albatros der antikommunistischen Erfindungen auf seinem Rücken tragen muss. Das ist der Grund, warum dieses Projekt, angeführt von IF DDR, so wichtig ist. Es ist nicht nur eine Auseinandersetzung mit der DDR, sondern im Kern auch eine umfassendere Auseinandersetzung mit den Möglichkeiten, die Experimente zur Schaffung einer sozialistischen Gesellschaft eröffnen, und mit den materiellen Verbesserungen, die sie im Leben der Menschen schaffen und geschaffen haben.
Der Sozialismus entsteht nicht flügge und perfekt geformt. Ein sozialistisches Projekt erbt alle Beschränkungen der Vergangenheit. Es erfordert Mühe und Geduld, ein Land mit seinen Verkrustungen und Klassenhierarchien in eine sozialistische Gesellschaft zu verwandeln. Die DDR gab es gerade einmal vierzig Jahre, die Hälfte der Lebenserwartung eines durchschnittlichen deutschen Bürgers. In der Nachwendezeit übertrieben die Gegner des Sozialismus alle seine Probleme, um seine Errungenschaften in den Schatten zu stellen.
Volker Braun, ein ostdeutscher Dichter, schrieb im Oktober 1990 eine Elegie auf sein vergessenes Land mit dem Titel Das Eigentum oder Property.
Da bin ich noch: mein Land geht in den Westen.
KRIEG DEN HÜTTEN FRIEDE DEN PALÄSTEN.
Ich selber habe ihm den Tritt versetzt.
Es wirft sich weg und seine magre Zierde.
Dem Winter folgt der Sommer der Begierde.
Und ich kann bleiben wo der Pfeffer wächst.
Und unverständlich wird mein ganzer Text.
Was ich niemals besaß wird mir entrissen.
Was ich nicht lebte, werd ich ewig missen.
Die Hoffnung lag im Weg wie eine Falle.
Mein Eigentum, jetzt habt ihrs auf der Kralle.
Wann sag ich wieder mein und meine alle.
Unser Bestreben ist es hier nicht, die Richtung umzukehren und alle Errungenschaften zu hervorzuheben, während wir die Probleme ausblenden. Die Vergangenheit ist eine Ressource, um die Komplexität der gesellschaftlichen Entwicklung zu verstehen, so dass Lehren daraus gezogen werden können, was falsch und was richtig gelaufen ist. Das IF DDR Projekt, in Zusammenarbeit mit Tricontinental: Institute for Social research, investiert in diese Art von Archäologie, um zwischen den Knochen zu graben, um zu entdecken, wie wir Menschen unsere Wirbelsäule besser strecken und in Würde aufrecht stehen können.
Herzlich,
Vijay
Aus dem Englischen von Claire Louise Blaser.