Impfstoffe müssen ein Gemeingut für die Menschheit sein.
Der dreizehnte Newsletter (2021).
Liebe Freund*innen
Grüße vom Schreibtisch des Tricontinental: Institute for Social Research.
Fast drei Millionen Menschen sind Berichten zufolge an dem neuartigen Coronavirus (SAR-CoV‑2) gestorben, und mehr als 128 Millionen Menschen haben sich mit dem Virus infiziert, von denen viele langanhaltende gesundheitliche Folgen davontragen. Bislang sind etwa 1,5% der 7,7 Milliarden Menschen auf der Welt geimpft worden, doch davon stammen 80% aus nur 10 Ländern. Im Februar warnte Tricontinental: Institute for Social Research vor der «medizinischen Apartheid», die die bisherige Impfstoffkampagne charakterisiert.
Seit 1950 feiert die Weltgesundheitsorganisation (WHO) am 7. April den Weltgesundheitstag. Jedes Jahr stellt die WHO den Tag unter ein anderes Motto, im letzten Jahr war es «Unterstützung für Pflegekräfte und Hebammen». In diesem Jahr lautet das Thema «Eine gerechtere, gesündere Welt schaffen», was auf den Kern der medizinischen Apartheid zielt.
Am 1. April veröffentlichte die Internationale Woche des antiimperialistischen Kampfes das «Internationale Manifest für das Leben», in dem frei zugängliche Impfstoffe für alle Menschen gefordert werden. Der Newsletter dieser Woche ist unserem Red Alert Nr. 10 gewidmet, der sich – unter Beratung von Wissenschaftler*innen und Ärzt*innen – mit der Notwendigkeit eines Volksimpfstoffs beschäftigt.
Was ist ein Impfstoff?
Infektionskrankheiten können zu schweren Erkrankungen und zum Tod führen. Menschen, die die Infektion überleben, entwickeln oft einen lang anhaltenden Schutz gegen dieselbe Krankheit. Vor etwa 150 Jahren entdeckten Wissenschaftler*innen, dass Infektionen durch mikroskopisch kleine «Keime» (das, was wir heute als Krankheitserreger bezeichnen) verursacht werden, die von Tieren auf Menschen und von Mensch zu Mensch übertragen werden können. Ein kleiner oder abgeschwächter Teil dieser Erreger kann Veränderungen im Körper auslösen, die den Menschen in Zukunft vor schweren Infektionen schützen. Dies ist das Grundprinzip von Impfstoffen.
Ein Impfstoff, der mikroskopisch kleine Moleküle enthält, die Teile eines Infektionserregers nachahmen, kann in den Körper injiziert werden, um einen präventiven Schutz gegen die Krankheit zu aktivieren. Obwohl ein Impfstoff nur ein Individuum gegen nur einen Erreger schützt, können viele Impfstoffe gemeinsam in organisierten, groß angelegten Impfprogrammen entscheidend für Interventionen auf gesellschaftlicher Ebene sein.
Nicht alle Infektionen können durch Impfstoffe verhindert werden. Trotz enormer finanzieller Investitionen haben wir für bestimmte Infektionskrankheiten – wie HIV-AIDS und Malaria – aufgrund der biologischen Komplexität dieser Krankheiten noch immer keine zuverlässigen Impfstoffe (und werden sie vielleicht auch nie haben). Die COVID-19-Impfstoffe konnten deshalb so zügig eingeführt werden, weil sie zum größten Teil auf gut bekannten biologischen Mechanismen in weniger komplexen Krankheitssituationen beruhen. Impfstoffe sind eine wichtige Maßnahme zur Eindämmung von Infektionsepidemien. Allerdings können genetische Veränderungen in der infektiösen Mikrobe Impfstoffe unwirksam und die Entwicklung und den Einsatz neuer Impfstoffe erforderlich machen.
Warum werden nicht alle 7,7 Milliarden Menschen auf der Welt mit dem COVID-19-Impfstoff versorgt?
Einige Zeit nach dem Auftreten des neuartigen Coronavirus (SAR-CoV‑2) haben die chinesischen Behörden das Virus sequenziert und diese Informationen auf einer öffentlichen Website publik gemacht. Wissenschaftler*innen aus öffentlichen und privaten Institutionen stürzten sich auf die Informationen, um das Virus besser zu verstehen und einen Weg zu finden, sowohl seine Auswirkungen auf den menschlichen Körper zu bekämpfen als auch einen Impfstoff zu entwickeln, um Menschen gegen die Krankheit zu immunisieren. Zu diesem Zeitpunkt wurde auf diese Informationen kein Patent angemeldet.
Innerhalb weniger Monate gaben acht Firmen aus dem privaten und öffentlichen Sektor bekannt, dass sie Impfstoffkandidaten haben: Pfizer/BioNTech, Moderna, AstraZeneca, Novavax, Johnson & Johnson, Sanofi/GSK, Sinovac, Sinopharm und Gamaleya. Die Impfstoffe von Sinovac, Sinopharm und Gamaleya werden vom chinesischen und russischen öffentlichen Sektor produziert (bis Mitte März hatten China und Russland 800 Millionen Dosen an 41 Länder geliefert). Die anderen werden von privaten Firmen hergestellt, die große Mengen an öffentlichen Geldern erhalten haben. Moderna zum Beispiel erhielt 2,48 Milliarden Dollar von der US-Regierung, Pfizer erhielt 548 Millionen Dollar von der Europäischen Union und der deutschen Regierung. Diese Firmen steckten die öffentlichen Gelder in die Herstellung eines Impfstoffs, machten dann enorme Gewinne aus den Verkäufen dieses Impfstoffes und sicherten sich zukünftige Gewinne durch Patente. Dies ist nur ein Beispiel für Geschäftemacherei in der Pandemie.
Informationen über die Anzahl der verkauften und in verschiedene Teile der Welt transportierten Impfstoffe ändern sich ständig. Dennoch ist inzwischen bekannt, dass viele ärmere Nationen vor 2023 keine Impfstoffe für ihre Bevölkerung haben werden, während der Globale Norden sich mehr Impfstoffe gesichert hat, als benötigt – genug, um die Bevölkerung dreimal zu impfen. Kanada zum Beispiel hat genug Impfstoffe, um seine Einwohner*innen fünfmal zu impfen. Der Globale Norden, mit weniger als 14% der Weltbevölkerung, hat sich mehr als die Hälfte der zu erwartenden Impfstoffe gesichert. Dies wird als Impfstoffhortung oder Impfstoffnationalismus bezeichnet.
Die Regierungen Indiens und Südafrikas wandten sich im Oktober 2020 an die Welthandelsorganisation (WTO) mit der Bitte um einen vorübergehenden Verzicht auf Patentverpflichtungen im Rahmen des Übereinkommens über handelsbezogene Aspekte der Rechte des geistigen Eigentums (TRIPS). Hätte die WTO diesem Verzicht zugestimmt, hätten diese Länder generische Versionen des Impfstoffs herstellen und für eine Massenimpfungsaktion kostengünstig verteilen können. Der Globale Norden jedoch setzte sich gegen diesen Vorschlag ein und argumentierte, dass ein solcher Verzicht – selbst inmitten einer Pandemie – Forschung und Innovation gehemmt hätte (trotz der Tatsache, dass die Impfstoffe größtenteils mit öffentlichen Geldern entwickelt wurden). Länder des Globalen Nordens konnte den Antrag auf die Ausnahmeregelung bei der WTO erfolgreich blockieren.
Schon im April 2020 hat die Weltgesundheitsorganisation (WHO) zusammen mit anderen Organisationen den COVID-19 Vaccines Global Access oder COVAX ins Leben gerufen. Der Zweck von COVAX ist es, einen gerechten Zugang zu den Impfstoffen zu gewährleisten. Das Projekt wird von UNICEF, GAVI, The Vaccine Alliance, der Coalition for Epidemic Preparedness Innovations (CEPI) und der WHO geleitet. Obwohl die Mehrheit der Länder der Welt der Allianz beigetreten ist, werden die Impfstoffe nicht in ausreichender Menge an den Globalen Süden verteilt. Eine Studie vom Dezember 2020 ergab, dass im Jahr 2021 fast siebzig Länder im Globalen Süden nur jede zehnte Person werden impfen können.
Anstatt den indisch-südafrikanischen Antrag auf die Ausnahmeregelung zu unterstützen, befürwortete COVAX einen Vorschlag für ein Patent-Pooling namens Covid-19 Technology Access Pool (C‑Tap). Bei diesem Verfahren würden sich zwei oder mehr Patentinhaber darauf einigen, ihre Patente untereinander oder an beliebige Dritte zu lizenzieren. COVAX hat bis heute keinerlei Beiträge von Pharmaunternehmen erhalten.
Im Mai 2020 hatte die WHO vorgeschlagen, eine internationale COVID-19-Impfstoff-Solidaritätsstudie zu initiieren, bei der die WHO die Studienstandorte in mehreren Ländern koordinieren würde. Dies hätte dazu geführt, dass aufkommende Impfstoffkandidaten schnell und transparent in die klinische Erprobung gegangen wären; sie wären in unterschiedlichen Populationen getestet worden und man hätte Vergleiche für spezifische Stärken und Einschränkungen anstellen können. Sowohl Big Pharma als auch die Länder des Nordens haben diesen Vorschlag im Keim erstickt.
Was bräuchte man, um Basisimpfstoffe für die 7,7 Milliarden Menschen auf der Welt herzustellen?
Die Herstellung von Impfstoffen variiert je nach den konkreten Anforderungen an die technologische Plattform für die Erzeugung der jeweiligen Infektionsnachahmung, die für einen bestimmten Impfstoff verwendet werden soll. Für COVID-19-Impfstoffe gibt es viele erfolgreiche Plattformen. Zwei davon sind die RNA-Impfstoffe (wie bei Moderna) und die Adenovirus-Impfstoffe (wie bei AstraZeneca). Diese Technologieplattformen sind robust, d.h. wenn das Know-how (einschließlich der Geschäftsgeheimnisse für die Impfstoffproduktion) und qualifiziertes Personal vorhanden sind und die Produktionslinien hochskaliert und effizient sind, könnte Impfstoff für die gesamte Menschheit produziert werden. Das Wort «wenn» ist kursiv geschrieben, weil das bedeutendste Hindernis der globalen Impfstoffproduktion genauso auf der kapitalistischen Logik der geistigen Eigentumsrechte gründet wie auf dem Profitstreben, welches einen öffentlichen Sektor erstickt, der das soziale Wohl in den Mittelpunkt stellen würde.
Ein intermediärer Ansatz zur Impfstoffproduktion verfolgt die großtechnische Herstellung von mimischen Proteinen in Fermentationstanks (der Novavax-Impfstoff beispielsweise wird so hergestellt). Für diese Plattform sind die Aufnahmekapazität und das qualifizierte Personal weiter verbreitet. Die Qualitätskontrolle und ‑sicherung ist bei diesen Plattformen von Charge zu Charge stärker schwankend, was eine Hürde für eine großflächige, dezentrale Produktion darstellt.
Es gibt einen viel einfacheren Weg, die Impfstoffe herzustellen: den infektiösen Erreger züchten, ihn inaktivieren (d.h. ungefährlich machen) und ihn in den Körper injizieren (wie z.B. bei Covaxin, dem von Bharat in Indien entwickelten Impfstoff). Doch hier gibt es Probleme, denn es ist nicht immer einfach, den schädlichen Erreger zu inaktivieren und gleichzeitig soweit zu erhalten, dass die Antikörper entwickelt werden können.
Was bräuchte es, um 7,7 Milliarden Menschen zu impfen?
Um die COVID-19-Impfstoffe auf der ganzen Welt zu verabreichen, sind drei Komponenten zu beachten:
- Öffentliche Gesundheitssysteme. Wirksame Impfprogramme erfordern robuste öffentliche Gesundheitssysteme. Diese sind jedoch in vielen Ländern der Welt durch langfristige Sparpolitik ausgehöhlt worden. Daher gibt es nicht genügend geschultes und geübtes Personal für die Verabreichung des Impfstoffs. Da es sich um empfindliche Impfstoffe handelt, muss die Vorbereitung und Verabreichung des Impfstoffs von geschulten Mitarbeiter*innen des öffentlichen Gesundheitswesens durchgeführt werden (sowohl um sicherzustellen, dass der Impfstoff optimal verabreicht wird, als auch um Nebenwirkungen zu vermeiden).
- Transport und Kühlketten. Da regionale und nationale Impfstoffproduktionslinien nicht vorhanden sind, müssen die Impfstoffe über weite Strecken transportiert werden. Einige COVID-19-Impfstoffe, die eine Ultra-Kühlkette erfordern, sind in weiten Teilen des Globalen Südens schlichtweg unpraktikabel.
- Medizinische Überwachungssysteme. Schließlich müssen gut entwickelte Systeme zur Überwachung der Auswirkungen des Impfstoffs vorhanden sein. Dies erfordert eine langfristige Nachbeobachtung und sowohl Personal als auch Technologien, an denen es in ärmeren Ländern, die durch die globale Wirtschaftsordnung lange Zeit benachteiligt waren, oft mangelt.
Es lohnt sich, die Alma-Ata-Deklaration (1978) zur medizinischen Grundversorgung und die People’s Charter for Health (2000) zu lesen und in Umlauf zu bringen. Beide sind starke Erklärungen für einen robusten, humanen Ansatz in der Gesundheitsversorgung. Letztere fordert die Abschaffung von «Patenten auf das Leben», was Patente auf Impfstoffe einschließt. Es gibt keine Alternative zu einem Volksimpfstoff, keine Alternative zu Leben vor Profit.
Herzlichst,
Vijay
Ich bin Tricontinental
Pilar Troya Fernández — Forscherin im interregionalen Büro
Ich koordiniere Übersetzungen von Dokumenten und Simultanübersetzungen bei Treffen und Veranstaltungen verschiedener Bewegungen und Verbände populärer Bewegungen. Ich übersetze auch selbst Publikationen von Tricontinental aus dem Englischen oder Portugiesischen ins Spanische. Außerdem recherchiere ich über Frauen, die an der Schnittstelle von Feminismus und Sozialismus gewirkt haben, speziell über Nela Martinez, eine ecuadorianische Kommunistin und feministische Führerin. Mein Hauptinteresse gilt der populären Frauen- und Feminismusbewegung und der öffentlichen Politik für die Gleichstellung der Geschlechter.
Aus dem Englischen von Claire Louise Blaser.