
Wir leiden an einer unheilbaren Krankheit namens Hoffnung.
Der achtundvierzigste Newsletter (2020).

Liebe Freund*innen,
Grüsse vom Schreibtisch des Tricontinental: Institute for Social Research.
Die weltweite Gesamtverschuldung beläuft sich gegenwärtig auf astronomische 277 Billionen Dollar, ein Anstieg von 15 Billionen Dollar gegenüber 2019 . Dieser Betrag entspricht 365% des globalen Bruttoinlandsprodukts. Die Schuldenlast ist in den ärmsten Ländern am höchsten, wo Coronavirus-bedingte Zahlungsausfälle begonnen haben; der Zahlungsausfall Sambias ist der letzte. Die verschiedenen Programme zur Aussetzung des Schuldendienstes – wie die G20 Debt Service Suspension Initiative – und die verschiedenen Hilfsprogramme – wie die COVID-19-Initiative des Internationalen Währungsfonds zur finanziellen Unterstützung und Schuldenerleichterung (COVID-19 Financial Assistance and Debt Relief Initiative) – werden mit Sicherheit zu kurz greifen. Das G20-Paket deckte nur 1,66% der Schuldenzahlungen ab, da es nicht gelungen war, die zahlreichen privaten und multilateralen Kreditgeber in die Vereinbarungen einzubinden.
Die Schuldenlast ist katastrophal für Länder, die schlicht und einfach nicht in der Lage sind, ihren Zahlungsverpflichtungen nachzukommen, erst recht nicht während der Coronavirus-Rezession. Im vergangenen Monat sagte Stephanie Blankenburg von der UNCTAD gegenüber dem Tricontinental: Institute for Social Research, dass «ein Schuldenerlass in den schwächsten Entwicklungsländern unvermeidlich sein wird, und das ist allen klar, die Frage ist nur, unter welchen Bedingungen dies geschehen wird».
Der IWF drängt Staaten zur Kreditaufnahme, da die Zinssätze im Allgemeinen niedrig sind. Dies wirft jedoch eine weitere wichtige Frage auf: Was sollen die Regierungen mit dem Geld tun, das sie leihen würden? Die unterschiedlichen Auswirkungen der Pandemie haben uns gezeigt, dass Länder mit einem robusten öffentlichen Gesundheitssystem – inklusive einer beträchtlichen Anzahl gut ausgestatteter Arbeitskräfte im öffentlichen Gesundheitswesen – die Infektionskette besser unterbrechen konnten als Länder, die ihre öffentlichen Gesundheitssysteme ausgeschlachtet haben. Da diese Tatsache über das gesamte politische Spektrum hinweg weitgehend anerkannt ist, sollten die Länder mehr von dem neuen Geld für den Wiederaufbau ihrer öffentlichen Gesundheitssysteme ausgeben. Aber das ist nicht der Fall.

Es ist eine erfreuliche Nachricht, dass es nun eine Reihe von Impfstoffkandidaten aus verschiedenen Firmen und Ländern gibt, darunter die beiden m‑RNA-Impfstoffe von Pfizer und Moderna sowie Sputnik V von Gamaleya und CoronaVac von Sinovac. Berichte über diese und andere mögliche Impfstoffe weisen positive Ergebnisse auf, was die Hoffnung weckt, dass wir bald über eine Möglichkeit zur Impfung gegen COVID-19 verfügen werden. Wissenschaftler*innen sind skeptisch gegenüber den Behauptungen der privaten Pharmaunternehmen, die zwar Presseerklärungen veröffentlicht, aber die Ergebnisse ihrer klinischen Studien nicht öffentlich gemacht haben. Sie fragen sich u.a., ob die Impfstoffe eine Infektion verhindern, ob sie die Sterblichkeit verhindern, ob sie die Übertragung verhindern, und schliesslich, wie lange der Schutz anhalten würde.
Es ist enttäuschend zu beobachten, wie der «Impfstoff-Nationalismus» die Hoffnung auf die Entwicklung des Impfstoffs in den Hintergrund drängt. Die reichen Länder, in denen 13% der Weltbevölkerung leben, haben sich bereits 3,4 Milliarden Dosen der potenziellen Impfstoffe gesichert; der Rest der Welt hat 2,4 Milliarden Dosen zugesichert bekommen. Die ärmsten Länder mit einer Gesamtbevölkerung von 700 Millionen Menschen haben keine Vereinbarungen über Impfstoffe abgeschlossen. Sie sind auf den Covax-Impfstoff angewiesen, der in Zusammenarbeit zwischen der Weltgesundheitsorganisation, der Vaccine Alliance (GAVI) und der Coalition for Epidemic Preparedness Innovations (CEPI) entwickelt wurde. Covax hat Vereinbarungen zur Sicherung von etwa 500 Millionen Dosen getroffen, was ausreichen würde, um 250 Millionen Menschen zu impfen und etwa 20% der Bevölkerung der ärmsten Länder abzudecken. Die Vereinigten Staaten von Amerika wiederum haben im Alleingang Vereinbarungen über den Kauf von Dosen getroffen, die ausreichen, um 230% ihrer Bevölkerung zu impfen, und könnten letztendlich 1,8 Milliarden Dosen kontrollieren (etwa ein Viertel des kurzfristigen weltweiten Angebots).
Indien und Südafrika haben der Welthandelsorganisation (WTO) einen angemessenen Vorschlag für den Verzicht auf Rechte an geistigem Eigentum im Zusammenhang mit der Verhinderung, Eindämmung und Behandlung von COVID-19 unterbreitet; dies würde eine Aussetzung des Abkommens über handelsbezogene Aspekte der Rechte an geistigem Eigentum (TRIPS) bedeuten. Die meisten der ärmeren Länder plädieren für einen gerechten und erschwinglichen Zugang zu Medikamenten und medizinischen Produkten während der Pandemie, den die WHO im TRIPS-Rat der WTO unterstützt hat. Dieser Vorschlag wurde von den Vereinigten Staaten, dem Vereinigten Königreich, Japan und Brasilien abgelehnt. Sie führen das irreführende Argument an, dass eine Aussetzung der geistigen Eigentumsrechte während der Pandemie die Innovation ersticken würde. In Wirklichkeit monopolisieren einige wenige grosse Impfstoffhersteller (Pfizer, Merck, GlaxoSmithKline und Sanofi) die Entwicklung von Impfstoffen, die oft mit öffentlichen Subventionen hergestellt werden (Moderna beispielsweise erhielt für den Impfstoff öffentliche Mittel in Höhe von 2,48 Milliarden Dollar). Innovationen in Bereichen wie Pharmazeutika werden häufig öffentlich finanziert, sind aber in privater Hand.

Am 14. Mai unterzeichneten 140 führende Politiker*innen der Welt ein Versprechen, in dem gefordert wurde, dass alle Tests, Behandlungen und Impfstoffe patentfrei sein und die Impfstoffe gerecht und ohne Kosten an die ärmeren Nationen verteilt werden. Mehrere Länder, darunter auch China, haben sich diesem Grundsatz angeschlossen. Die Idee besteht darin, dass die Formel für einen oder mehrere Impfstoffe auf eine öffentliche Website hochgeladen werden kann, auf der Regierungen ihre öffentlichen Pharmafirmen anweisen können, die Impfstoffe in ihren Ländern entweder kostenlos oder zu einem erschwinglichen Preis zu verteilen oder dass private Firmen Impfstoffe herstellen und zu erschwinglichen Preisen liefern. Es ist schon deshalb notwendig, die Produktion zu diversifizieren, weil es schlichtweg nicht genügend Tiefkühlkurierkapazitäten gibt, um die Impfstoffe in die ganze Welt zu transportieren. Die Frage der Pharmakapazitäten des öffentlichen Sektors ist ein sehr drängendes Problem, da der IWF die Länder in den letzten fünf Jahrzehnten dazu gedrängt hat, den öffentlichen Sektor zu privatisieren und sich auf eine Handvoll multinationaler Pharmaunternehmen zu stützen. Es ist an der Zeit, sagen die führenden Persönlichkeiten der Regierungen, die das Dokument unterzeichnet haben, diesen Trend umzukehren und die pharmazeutischen Produktionslinien des öffentlichen Sektors neu aufzubauen.
So wie es aussieht, werden zwei Drittel der Weltbevölkerung vor Ende 2022 keinen Impfstoff haben.
Der Kampf zwischen «Impfstoff-Nationalismus» und «Volksimpfstoff» spiegelt den Kampf zwischen dem Norden und dem Süden über Schuldenfragen und über weitreichende Aspekte der Entwicklung der Menschheit wider. Um die Infektionskette des Virus zu unterbrechen, müssen wertvolle Ressourcen für Tests, Rückverfolgung und Isolierung eingesetzt werden; sie müssen für den Aufbau der Infrastruktur des öffentlichen Gesundheitswesens eingesetzt werden, einschliesslich der Ausbildung von medizinischem Fachpersonal, das Milliarden von Menschen die Injektion mit zwei Dosen verabreichen müsste; sie müssen für den Aufbau einer regionalen pharmazeutischen Produktion eingesetzt werden; und sie müssen sicherlich der unmittelbaren Unterstützung der Menschen zugute kommen, einschliesslich Einkommenshilfe, Nahrungsmittelversorgung und sozialem Schutz gegen die Schattenpandemie patriarchalischer Gewalt.

Als ich mit Ärzt*innen und Wissenschaftler*innen wie Yogesh Jain und Prabir Purkayastha über den Impfstoff sprach, wurde ich an einen Besuch in Palästina im Jahr 2002 erinnert, den Mahmoud Darwish für Schriftsteller*innen, darunter auch Wole Soyinka, José Saramago und Breyten Breytenbach, organisiert hatte, und wo er sie mit dieser Betrachtung über die Hoffnung begrüsste:
Wir haben eine unheilbare Krankheit: Hoffnung. Hoffnung auf Befreiung und Unabhängigkeit. Hoffnung auf ein normales Leben, in dem wir weder Held*innen noch Opfer sind. Hoffnung, dass unsere Kinder sicher in ihre Schulen gehen können. Hoffnung, dass eine schwangere Frau im Krankenhaus ein lebendes Baby zur Welt bringt und nicht ein totes Kind vor einem Militärkontrollpunkt; Hoffnung, dass unsere Dichter*innen die Schönheit der Farbe Rot eher in Rosen als in Blut erblicken; Hoffnung, dass dieses Land seinen ursprünglichen Namen annimmt: das Land der Liebe und des Friedens.
Der Internationale Tag der Solidarität mit dem palästinensischen Volk ist am 29. November. Wir, vom Tricontinental: Institute for Social Research, bekunden unsere Zuneigung und Solidarität mit dem Befreiungskampf der Palästinenser*innen. Wir möchten zu Protokoll geben, dass wir die Freilassung aller palästinensischen politischen Gefangenen fordern, darunter Khitam Saafin, Präsidentin der Organisation von palästinensischen Frauenkomitees, und Khalida Jarrarar, eine Anführerin der Volksfront für die Befreiung Palästinas. Die Gefängnisse, in denen Israel Palästinenser*innen inhaftiert, haben verheerende Ausbrüche von COVID-19 erlebt.

Physicians for Human Rights Israel verfasste in The Lancet eine kurze Mitteilung mit dem Titel Battling COVID-19 in the occupied Palestinian Territory («Bekämpfung von COVID-19 in den besetzten palästinensischen Gebieten»). Sie beschreiben die Bemühungen des engagierten palästinensischen Gesundheitspersonals als «durch die einzigartigen Einschränkungen des palästinensischen Gesundheitssystems behindert». Dazu gehören die Trennung zwischen Ostjerusalem, Gaza und dem Westjordanland, die «Einschränkungen, die Israel auferlegt», und die Gefangenschaft der gesamten palästinensischen Bevölkerung. Die drei Millionen Palästinenser*innen im Westjordanland und in Ostjerusalem haben Zugang zu nur 87 Intensivbetten mit Beatmungsgeräten (diese Zahl ist noch viel geringer für die zwei Millionen Palästinenser*innen in Gaza), während Israel den Palästinenser*innen eine Wasser- und Elektrizitätskrise aufzwingt.
Die Situation ist beklagenswert. Kampf und Hoffnung sind das Gegengift.
Herzlichst,
Vijay.

Ich bin Tricontinental:
Cristiane Ganaka, Forscherin, Büro Sao Paulo
Ich unterstütze die Forschungsachsen im brasilianischen Büro von Tricontinental: Institute for Social Research, indem ich Daten organisiere und hervorhebe, die uns helfen, die konkreten Probleme zu verstehen, denen wir durch unsere Forschungsagenda begegnen.
In der Quarantäne habe ich an der Untersuchung von Instrumenten zur Sammlung und Organisation von Informationen gearbeitet. In meiner Freizeit lese ich und nehme an Lesegruppen für Frauenliteratur teil und habe zuletzt “Purple Hibiscus” von Chimamanda Ngozi Adichie sowie “Die Ingenieure des Chaos” von Giuliano da Empoli gelesen, über das ich einen Artikel veröffentlicht habe. Da ich weniger Zeit mit Pendeln verbringe, höre ich Podcasts bei der Hausarbeit. Ich empfehle den Podcast “Die Krise aufdecken” (Destapar la Crisis), der von unseren Genossen bei Tricontinental: Institute for Social Research (Argentinien).
Aus dem Englischen übersetzt von Claire Louise Blaser.