Was ihr Liebe nennt, ist unbezahlte Arbeit.

Der zwölfte Newsletter (2021).

Ailén Possa­may, Häus­li­cher Unge­hor­sam / Was sie Liebe nennen, ist unbe­zahlte Arbeit, Concep­ción, Chile, 2019, Bild aus dem Dossier

Liebe Freund*innen!

 

Grüße vom Schreib­tisch des Tricon­ti­nen­tal: Insti­tute for Social Rese­arch.

 

Frauen auf der ganzen Welt verbrin­gen durch­schnitt­lich vier Stun­den und fünf­und­zwan­zig Minu­ten pro Tag mit unbe­zahl­ter Care-Arbeit, während Männer im Durch­schnitt eine Stunde und drei­und­zwan­zig Minu­ten pro Tag für die glei­che Art von Arbeit aufwen­den. Das ergab eine Studie der Inter­na­tio­na­len Arbeits­or­ga­ni­sa­tion (ILO) aus dem Jahr 2018. Was ist Care-Arbeit? Die ILO-Studie defi­niert Care-Arbeit als «Akti­vi­tä­ten und Bezie­hun­gen, die dazu dienen, die physi­schen, psychi­schen und emotio­na­len Bedürf­nisse von Erwach­se­nen und Kindern, alten und jungen, gebrech­li­chen und nicht gebrech­li­chen Menschen zu erfüllen».

 

Es gibt zwei Haupt­ar­ten der Pfle­ge­ar­beit, wie sie von der ILO beschrie­ben werden. Die erste ist durch direkte Pfle­ge­tä­tig­kei­ten gekenn­zeich­net (manch­mal als «fürsorg­li­che» oder «rela­tio­nale» Pflege bezeich­net), wie «ein Baby füttern, einen kran­ken Part­ner pfle­gen, einer älte­ren Person beim Baden helfen, Gesund­heits­un­ter­su­chun­gen durch­füh­ren oder kleine Kinder unter­rich­ten». Die zweite ist durch indi­rekte Pfle­ge­tä­tig­kei­ten gekenn­zeich­net, «die keine persön­li­che Pflege von Ange­sicht zu Ange­sicht beinhal­ten, wie z. B. Putzen, Kochen, Wäsche­wa­schen und andere Aufga­ben zur Instand­hal­tung des Haus­halts (manch­mal als «nicht-rela­tio­nale Pflege» oder «Haus­halts­ar­beit» bezeich­net), die die Voraus­set­zun­gen für die persön­li­che Pflege schaf­fen». Direkte und indi­rekte Pfle­ge­ar­beit arbei­ten im Tandem von körper­li­cher und emotio­na­ler Arbeit, die das Gefüge der Gesell­schaft zusammenhält.

‘Wir bewe­gen die Welt, wir halten sie auf’, eine Inter­ven­tion, die während des 8M-Marsches statt­fand, basie­rend auf einem Foto von Genos­sin­nen der Bewe­gung der ausge­schlos­se­nen Arbeiter*innen, La Plata, Argen­ti­nien. Colec­tivo Wacha

Frauen und Mädchen, so zeigt die ILO-Studie, leis­ten drei Vier­tel der unbe­zahl­ten Betreu­ungs­ar­beit, die zum Erhalt von Fami­lie und Gesell­schaft erfor­der­lich ist. Würden dieje­ni­gen, die unbe­zahlte Care-Arbeit leis­ten, in ihren jewei­li­gen Ländern den Mindest­lohn erhal­ten, beliefe sich die Lohn­summe auf 11 Billio­nen US-Dollar (oder bis zu etwa 15% des globa­len Brut­to­in­lands­pro­dukts, der Größe der gesam­ten digi­ta­len Wirt­schaft). Die Notwen­dig­keit dieser unbe­zahl­ten Pfle­ge­ar­beit – einschließ­lich der Betreu­ung von Kindern und älte­ren Menschen – hat Frauen und einige Männer davon abge­hal­ten, in die bezahlte Arbeits­welt einzu­tre­ten. Im Jahr 2018 gaben laut ILO 606 Millio­nen Frauen an, dass sie sich wegen der unbe­zahl­ten Betreu­ungs­ar­beit keine bezahlte Beschäf­ti­gung außer­halb des Hauses suchen können; 41 Millio­nen Männer sagten das Gleiche.

 

Während der Pande­mie verlo­ren 64 Millio­nen Frauen ihre bezahlte Arbeit, während die meis­ten Frauen mehr Zeit für unbe­zahlte Betreu­ungs­ar­beit aufwen­den muss­ten als vor dem großen Lock­down von 2020–21. In unse­rer Studie Coro­naS­hock and Patri­ar­chy (Novem­ber 2020) stel­len wir fest, dass während der Pande­mie «die Betreu­ungs­ar­beit expo­nen­ti­ell zuge­nom­men hat und die zusätz­li­che Last weiter­hin auf Frauen fällt». Es sind größ­ten­teils Frauen, die die Erzie­hung der Kinder beauf­sich­ti­gen, Haus­halte versor­gen, mit vermin­der­tem Einkom­men zu kämp­fen haben und sich um ältere Menschen kümmern, in Zeiten, in denen sie am anfäl­ligs­ten für die Gefah­ren von COVID-19 sind. UNICEF berich­tet, dass 168 Millio­nen Kinder fast ein ganzes Jahr lang nicht in der Schule waren.

 

Gleich­zei­tig sind viele der an vorders­ter Front täti­gen Pfle­ge­kräfte in unse­rer Gesell­schaft – von Krankenpfleger*innen bis zu Reini­gungs­kräf­ten – Frauen. Es sind diese Frauen, die als «unver­zicht­bare Arbeits­kräfte» gelobt werden, während sich ihre Arbeits­be­din­gun­gen verschlech­tern und ihre Löhne stagnie­ren, was sie dem Risiko aussetzt, sich mit dem Virus zu infi­zie­ren. Im vergan­ge­nen Juni haben wir in unse­rem Dossier Health is a Poli­ti­cal Choice («Gesund­heit ist eine poli­ti­sche Entschei­dung») doku­men­tiert, wie Gesund­heits­ar­bei­te­rin­nen in Argen­ti­nien, Brasi­lien, Indien und Südafrika darum kämp­fen, ihre Arbeits­be­din­gun­gen zu verbes­sern und genug zu verdie­nen, um ihre Fami­lien versor­gen zu können. Unser 16-Punkte-Forde­rungs­ka­ta­log, mit dem das Dossier endet, fußt auf den Kämp­fen der Gewerk­schaf­ten in diesen Ländern. Seine Forde­run­gen sind heute noch genauso aktu­ell wie im vergan­ge­nen Juni. Diese Pande­mie hat unser Gespür dafür aufge­deckt und geschärft, wie das Patri­ar­chat den sozia­len Fort­schritt blockiert.

 

Ailén Possa­may, Ohne Titel, Gonzá­lez Catán (Provinz Buenos Aires, Argen­ti­nien), 2019.

Unser Team in Argen­ti­nien hat zusam­men mit dem Kollek­tiv Mapeos Femi­nis­tas («Femi­nis­ti­sches Mapping») einen Podcast entwi­ckelt, der die unglei­chen Auswir­kun­gen der Pande­mie aus femi­nis­ti­scher Perspek­tive unter­sucht. Diese Arbeit zur Doku­men­ta­tion der Krise und der Kämpfe der Menschen in Argen­ti­nien führte zur Veröf­fent­li­chung unse­res jüngs­ten Dossiers, Unco­ve­ring the Crisis: Care Work in the Time of Coro­na­vi­rus («Die Krise aufde­cken: Care-Arbeit in Zeiten des Coro­na­vi­rus», Dossier Nr. 38, März 2021).

 

Die Pande­mie übt einen immensen Druck auf die Fami­lien aus, wobei die Frauen im Mittel­punkt der erhöh­ten Arbeits­be­las­tung stehen. Dieser Druck ist die Folge einer langen Peri­ode von Spar­maß­nah­men, die staat­li­che Insti­tu­tio­nen trafen, was zur Verschlech­te­rung der Sozi­al­löhne geführt hat (einschließ­lich der vorschu­li­schen Betreu­ung von Kindern und nahr­haf­tem Essen in der Schule). Dieses lang­fris­tige Problem wird mit dem Begriff «Betreu­ungs­krise» (crisis del cuid­ado) erfasst, der von der UN-Wirt­schafts­kom­mis­sion für Latein­ame­rika und die Kari­bik (CEPAL) im Jahr 2009 geprägt wurde. Aufgrund des Spar­re­gimes hat sich der Begriff der Fami­lie erwei­tert, da die Pfle­gen­den Ressour­cen von ande­ren in ihrer Gemein­schaft bezie­hen. Diese brei­te­ren Fami­li­en­netz­werke gehen über die Verwandt­schaft hinaus und erwei­sen sich als wesent­li­che Grund­lage für das Über­le­ben während der Pandemie.

 

Luz Bejer­ano von der Trans­gen­der-Bewe­gung Argen­ti­ni­ens berich­tet, dass eine Trans­gen­der-Genos­sin eine Außen­kü­che eröff­net hat, um Menschen zu verpfle­gen und auch Snacks für Kinder bereit­stellt. Silvia Campo von Encuen­tro de Orga­ni­za­cio­nes erklärt, wie ihre Orga­ni­sa­tion daran arbei­tet, Fälle von COVID-19 aufzu­spü­ren und Infor­ma­tio­nen über Gesund­heits­kli­ni­ken und ‑dienste an die Öffent­lich­keit weiter­zu­ge­ben. María Beni­tez von der Föde­ra­tion der Basis­or­ga­ni­sa­tio­nen orga­ni­sierte ihre Nachbar*innen, um zu den Vermieter*innen zu gehen und sie – mit Erfolg – dazu aufzu­for­dern, Fami­lien während der Pande­mie nicht zu vertrei­ben. Allen Widrig­kei­ten zum Trotz haben Luz, Silvia, María und ihre Orga­ni­sa­tio­nen das soziale Gefüge zusam­men­ge­hal­ten. Ihre Geschich­ten sind inspi­rie­rend und lehrreich.

Power­Paola, Ohne Titel, ursprüng­lich veröf­fent­licht auf Seite 12 der Las Doce Beilage, Februar 2020.

Eliza­beth Gómez Alcorta ist die erste Minis­te­rin für Frauen, Gender und Diver­si­tät in der argen­ti­ni­schen Regie­rung. Im Dezem­ber 2019 rich­tete ihr Minis­te­rium die Natio­nale Direk­tion für Pflege (Dirección Nacio­nal de Cuid­ados) ein, die entlang von vier Haupt­ach­sen arbei­tet. Erstens, um eine föde­rale Karte der Pflege- und Ausbil­dungs­ein­rich­tun­gen für die Pfle­ge­ar­beit zu erstel­len. Zwei­tens rich­tete die Direk­tion im Februar 2020 einen inter­mi­nis­te­ri­el­len Runden Tisch zur Pfle­ge­po­li­tik (Mesa Inter­mi­nis­te­rial de Polí­ti­cas de Cuid­ado) ein, um vier­zehn Minis­te­rien zusam­men­zu­brin­gen, deren Agenda sich mit der Pfle­ge­ar­beit über­schnei­det. Drit­tens star­tete die Direk­tion im August 2020 die Kampa­gne Caring with Equa­lity: Neces­sity, Rights, and Work («Betreu­ung mit Gleich­stel­lung: Notwen­dig­keit, Rechte und Arbeit»), die «Pflege-Parla­mente» abhält, um den Pfle­ge­kräf­ten und Betreuer*innen zuzu­hö­ren und ihre Perspek­tive zu den wich­tigs­ten Themen zu erfah­ren. Und schließ­lich bildete Gómez Alcor­tas Team im Okto­ber 2020 eine aus neun Exper­ten bestehende Kommis­sion, die einen Gesetz­ent­wurf für ein umfas­sen­des Pfle­ge­sys­tem für das Land verfas­sen wird.

 

«Der Slogan der Kampa­gne – Betreu­ung mit Gleich­stel­lung (Cuidar en igualdad) – ist ein Kern unse­res Konzepts von Pflege», sagte mir Gómez Alcorta kürz­lich. «Pflege ist eine Notwen­dig­keit, wir alle müssen irgend­wann in unse­rem Leben gepflegt werden, und wenn es eine Notwen­dig­keit ist, dann muss es auch Rechte für die Pfle­gen­den geben. Wir stehen vor der großen Heraus­for­de­rung, die Grund­la­gen für ein umfas­sen­des Pfle­ge­sys­tem mit einer Gender-Perspek­tive zu schaf­fen», sagte sie mir, und dieses System müsse die «komplexe und hete­ro­gene Reali­tät» Argen­ti­ni­ens berück­sich­ti­gen. Deshalb, so sagte sie, «ist der Dialog, den die Entwurfs­kom­mis­sion führt, so wich­tig. … Wir wissen, dass die derzei­tige Zusam­men­set­zung der Fami­lien viel­fäl­tig ist, also arbei­ten wir einer­seits in Bezug auf die Viel­falt der Fami­lien und Iden­ti­tä­ten und versu­chen, alle Situa­tio­nen zu berück­sich­ti­gen. Auf der ande­ren Seite hat unser Land eine große soziale Verschul­dung, wir haben hohe Armuts­quo­ten, und wir wissen, dass Frauen am stärks­ten von Wirt­schafts­kri­sen betrof­fen sind. Deshalb sagen wir, dass eine bessere Umver­tei­lung der Betreu­ungs­auf­ga­ben nicht nur zu mehr Gleich­be­rech­ti­gung der Geschlech­ter, sondern auch zu mehr sozia­ler Gerech­tig­keit führt.»

 

Patri­ar­chale Systeme und Gewohn­hei­ten gilt es zu «zerbre­chen», sagte Gómez Alcorta, aber «es ist noch ein langer Weg zu gehen». Geteilte Verant­wor­tung für die Pfle­ge­ar­beit sei selten Reali­tät, weshalb «Männer mehr einbe­zo­gen werden müssen, aber wir wissen auch, dass der Abbau von Gewohn­hei­ten und Stereo­ty­pen Zeit braucht». Nichts­des­to­trotz sagte mir Gómez Alcorta: «Wir sind der festen Über­zeu­gung, dass wir uns auf ein Szena­rio zube­we­gen, in dem Pfle­ge­ar­beit besser verteilt und gesell­schaft­lich als das aner­kannt und wert­ge­schätzt wird, was sie ist: Arbeit, die die Welt zum Funk­tio­nie­ren bringt».

Im News­let­ter der letz­ten Woche habe ich über den Bundes­staat­wahl­kampf in Kerala gespro­chen. Jetzt, da das Mani­fest der Linken Demo­kra­ti­schen Front veröf­fent­licht wurde, gibt es einen Punkt, der beson­dere Erwäh­nung verdient: die Linke, wenn sie an die Macht zurück­kehrt, wird eine Rente für Haus­frauen einfüh­ren. «Der Wert der häus­li­chen Arbeit wird aner­kannt, und es wird eine Rente für Haus­frauen einge­führt», heißt es im Mani­fest. Die Auswir­kun­gen dieses Renten­plans sind enorm; er erkennt an, dass Haus­ar­beit einen Wert hat, und rüttelt an den Grund­fes­ten des Patri­ar­chats, das auf der finan­zi­el­len Abhän­gig­keit von Frauen aufbaut.

 

Diese Kämpfe in Argen­ti­nien und Kerala spie­geln sich in den Worten von Alaíde Foppa (1914–1980) wider, einer Dich­te­rin und Akti­vis­tin, die 1980 in Guate­mala ermor­det wurde:

 

Durch blühende Wiesen

lief mein leich­ter Fuß,

hinter­ließ seine Spur

im feuch­ten Sand,

suchte nach verlo­re­nen Pfaden,

zertram­pelte die harten Bürgersteige

der Städte

und stieg Trep­pen hinauf

von denen er nicht wusste, wohin sie führten.

 

Herz­lich,

 

Vijay

Ich bin Tricontinental:

Tings Chak — Desi­gne­rin und Forsche­rin im inter­re­gio­na­len Büro


An guten Tagen, wenn ich nicht in Meetings sitze, findet man mich norma­ler­weise bei vieler­lei Arbei­ten – ich zeichne, lese, schreibe und helfe, kollek­tive poli­ti­sche Projekte aufzu­bauen. Meine Arbeit konzen­triert sich auf die Geschichte, Prak­ti­ken und Theo­rien von Kunst und Kultur, die aus den Kämp­fen der Menschen hervor­ge­hen. Ich bin dabei, ein Buch über die Kunst in natio­na­len Befrei­ungs­kämp­fen zu schrei­ben, in das die Arbeit an unse­ren Dossiers Nr. 15 über Kuba und Nr. 35 über Indo­ne­sien einflie­ßen wird. Ich koor­di­niere die Kunst­ab­tei­lung von Tricon­ti­nen­tal: Insti­tute for Social Rese­arch und habe das Glück, jeden Tag mit einem Team von talen­tier­ten Künstler*innen zu arbei­ten, um gemein­sam ein inter­na­tio­na­lis­ti­sches Netz­werk aufzubauen.

Aus dem Engli­schen von Claire Louise Blaser.