Es gibt so viel von Kerala zu lernen.

Der elfte Newsletter (2021).

Anujath Sindhu Vinaylal (Indien), Meine Mutter und die Mütter ihrer Nach­bar­schaft, 2017.

Liebe Freund*innen

 

Grüße vom Schreib­tisch des Tricon­ti­nen­tal: Insti­tute for Social Rese­arch.

 

Die indi­schen Bäuer*innen und Landarbeiter*innen haben die Hundert­tage-Marke ihres Protes­tes gegen die Regie­rung von Premier­mi­nis­ter Naren­dra Modi geknackt. Sie werden nicht aufge­ben, bis die Regie­rung Gesetze zurück­zieht, die den großen Konzer­nen Privi­le­gien in der Land­wirt­schaft sichert. Die Landwirt*innen und ‑arbeiter*innen sagen, es ist ein Exis­tenz­kampf. Aufge­ben bedeu­tet den Tod: Schon vor der Verab­schie­dung dieser Gesetze haben seit 1995 mehr als 315.000 indi­sche Bäuer*innen wegen der Schul­den­last, die ihnen aufge­bür­det wurde, Selbst­mord begangen.

 

In den nächs­ten einein­halb Mona­ten finden in vier indi­schen Bundes­staa­ten (Assam, Kerala, Tamil Nadu und West­ben­ga­len) und in einem Unions­ter­ri­to­rium (Pudu­cherry) Versamm­lungs­wah­len statt. In diesen vier Bundes­staa­ten leben insge­samt 225 Millio­nen Menschen. Damit wäre dieses Gebiet nach Indo­ne­sien das fünft­größte Land der Welt. Die Bhara­tiya Janata Party (BJP) von Premier­mi­nis­ter Modi ist in keinem dieser Staa­ten ein ernst­zu­neh­men­der Anwärter.

Gopika Babu (Indien), Gemein­schaft, 2021.

In Kerala (35 Millio­nen Einwoh­ner) regiert die Linke Demo­kra­ti­sche Front seit fünf Jahren und hat in dieser Zeit eine Reihe schwe­rer Krisen bewäl­tigt: die Nach­wir­kun­gen des Zyklons Ockhi im Jahr 2017, den Ausbruch des Nipah-Virus 2018, die Über­schwem­mun­gen 2018 und 2019 und schließ­lich die COVID-19-Pande­mie. Dabei hat sich Kera­las Gesund­heits­mi­nis­te­rin K.K. Shai­laja den Beina­men «Coro­na­vi­rus-Töte­rin» verdient, weil ihr Staat schnell und ganz­heit­lich vorging, um die Infek­ti­ons­kette zu unter­bre­chen. Alle Umfra­gen deuten darauf hin, dass die Linke in die Regie­rung zurück­keh­ren wird und damit einen Anti-Incum­bency-Trend in dem Bundes­staat seit 1980 bricht.

Um besser zu verste­hen, welche großen Erfolge der Regie­rung der Linken Demo­kra­ti­schen Front in den letz­ten fünf Jahren erzielte, sprach ich mit dem Finanz­mi­nis­ter von Kerala, T. M. Thomas Isaac, Mitglied des Zentral­ko­mi­tees der Kommu­nis­ti­schen Partei Indi­ens (Marxis­tisch). Isaac erzählt mir zunächst, dass das Hin- und Hersprin­gen zwischen der Links- und der Rechts­front, wie er es nennt, «Kerala eine Menge sozia­len Fort­schritt gekos­tet hat». Wenn die Linke wieder gewinnt, sagt er, wird sie «zehn Jahre lang unun­ter­bro­chen an der Macht sein. Das ist ein ausrei­chend langer Zeit­raum, um den Entwick­lungs­pro­zess in Kerala maßgeb­lich zu prägen».

Die allge­meine Vorge­hens­weise der Linken Kera­las, so Isaac, sei «eine Art von Hop, Step und Jump» gewesen:

 

Hop, oder Hopser, die erste Stufe, ist die Umver­tei­lungs­po­li­tik. Kerala ist hier­für bestens bekannt. Unsere Gewerk­schafts­be­we­gung hat es geschafft, eine signi­fi­kante Umver­tei­lung der Einkom­men zu errei­chen. Kerala hat die höchs­ten Lohn­sätze im Land. Unsere Bauern­be­we­gung konnte im Rahmen eines Land­re­form­pro­gramms Land­be­sitz erfolg­reich umver­tei­len. Mäch­tige soziale Bewe­gun­gen, die bereits vor der linken Bewe­gung in Kerala exis­tier­ten und deren Tradi­tion die Linke fort­ge­führt hat, haben die jewei­li­gen Regie­run­gen, die in Kerala an der Macht waren, unter Druck gesetzt, für Bildung, Gesund­heits­ver­sor­gung und die Grund­be­dürf­nisse aller zu sorgen. Daher genießt der Bevöl­ke­rungs­durch­schnitt in Kerala eine Lebens­qua­li­tät, die weit über der des rest­li­chen Indi­ens liegt.

 

Aber es gibt ein Problem bei diesem Vorge­hen. Weil wir so viel für den sozia­len Sektor ausge­ben müssen, haben wir nicht genü­gend Geld und Ressour­cen für die Gestal­tung der Infra­struk­tur. Daher gibt es also nach einem über ein halbes Jahr­hun­dert andau­ern­den Programm zur sozia­len Entwick­lung ein ernst­haf­tes Infra­struk­tur­de­fi­zit in Kerala.

 

Unsere derzei­tige Regie­rung hat bei der Bewäl­ti­gung der Krisen Beacht­li­ches geleis­tet, indem sie dafür gesorgt hat, dass es nicht zu einem sozia­len Zusam­men­bruch kam, dass niemand in Kerala hungern muss und dass in Zeiten von COVID jede*r eine Behand­lung erhält. Und wir haben noch mehr getan.

Junaina Muham­med (Indien), Grünes Kerala, 2021.

Die Regie­rung hat begon­nen, die Infra­struk­tur des Staa­tes aufzu­bauen und ein ande­res wirt­schaft­li­ches Funda­ment zu schaf­fen. Der für die Verbes­se­rung der Infra­struk­tur benö­tigte Betrag ist schwin­del­erre­gend, etwa 60.000 Crores Rupien (oder 11 Milli­ar­den US-Dollar). Wie kann eine linke Regie­rung die Mittel aufbrin­gen, so eine Entwick­lung zu finan­zie­ren? Da Kerala als indi­scher Bundes­staat nur bis zu einer bestimm­ten Höhe Kredite aufneh­men kann, hat die Links­re­gie­rung Instru­mente wie den Kerala Infra­struc­ture Invest­ment Fund Board (KIIFB) geschaf­fen. Durch dieses Board konnte die Regie­rung 10.000 Crores Rupien (1,85 Milli­ar­den US$) ausge­ben und «eine bemer­kens­werte Verän­de­rung in der Infra­struk­tur bewir­ken». Nach dem Hopser (Umver­tei­lung) und der infra­struk­tu­rel­len Entwick­lung (Schritt), kommt der Jump, der Sprung:

 

Der Sprung ist das Programm, das wir den Menschen vorge­legt haben. Jetzt, wo die Infra­struk­tur da ist, wie zum Beispiel Über­tra­gungs­lei­tun­gen, gesi­cherte Elek­tri­zi­tät, Indus­trie­parks für Inves­to­ren, werden wir K‑FON [Kerala-Fibre Optic Network] haben, eine Inter­net-Super­au­to­bahn in Staats­be­sitz, die allen Dienst­leis­tern zur Verfü­gung steht. Es stellt die Gleich­be­hand­lung aller sicher; niemand wird einen unzu­läs­si­gen Vorteil haben. Und wir werden das Inter­net für alle zur Verfü­gung stel­len. Es ist das Recht jeder einzel­nen Person. Alle Armen bekom­men einen kosten­lo­sen Breitbandanschluss.

 

All das hat uns darauf vorbe­rei­tet, den nächs­ten großen Sprung zu wagen. Nämlich die wirt­schaft­li­che Basis unse­rer Ökono­mie zu verän­dern. Unsere wirt­schaft­li­che Basis sind der kommer­zi­elle Anbau (der wegen der Öffnung für den «Frei­han­del» in einer erns­ten Krise steckt), arbeits­in­ten­sive tradi­tio­nelle Indus­trien, umwelt­ver­schmut­zende chemi­sche Indus­trien und so weiter. Jetzt erken­nen wir, dass die Indus­trien, die zu unse­rer Kern­kom­pe­tenz passen, Wissens­in­dus­trien, Dienst­leis­tungs­in­dus­trien, quali­fi­ka­ti­ons­ba­sierte Indus­trien und so weiter sind. Wie schafft man nun diesen Para­dig­men­wech­sel von der tradi­tio­nel­len Wirt­schafts­ba­sis zur neuen Basis?

Kadam­bari Vaiga (Indien), High-tech School, 2020.

Was werden die neuen wirt­schaft­li­chen Möglich­kei­ten für Kerala sein? Erstens wird Kerala aufgrund der Verla­ge­rung zur digi­ta­len Platt­form-Ökono­mie nun seine IT-Indus­trie ausbauen – mit den immensen Vortei­len der hohen Alpha­be­ti­sie­rungs­rate im Bundes­staat sowie der 100-prozen­ti­gen, staat­lich finan­zier­ten Inter­net­an­bin­dung, die bald für die gesamte Bevöl­ke­rung verfüg­bar sein wird. Dies, so Isaac, «wird einen enor­men Einfluss auf die Erwerbs­tä­tig­keit von Frauen haben». Zwei­tens wird Kera­las linke Regie­rung die Hoch­schul­bil­dung umstruk­tu­rie­ren, um Inno­va­tio­nen zu fördern und Kera­las Tradi­tion der genos­sen­schaft­li­chen Produk­tion zu vertie­fen (als Beispiel sei hier die Ural­un­gal Labour Contract Coope­ra­tive Society genannt, die kürz­lich eine alte Brücke in fünf Mona­ten wieder aufge­baut hat, sieben Monate früher als geplant).

 

Kerala will hinaus­ge­hen über die Para­dig­men des Guja­rat-Modells (hohe Wachs­tums­ra­ten für kapi­ta­lis­ti­sche Firmen, aber wenig soziale Sicher­heit und Wohl­stand für die Menschen), des Uttar Pradesh-Modells (weder hohes Wachs­tum noch sozia­ler Wohl­stand) und des Modells, das hohen Wohl­stand, aber wenig indus­tri­el­les Wachs­tum bietet. Das neue Kerala-Projekt wird auf hohes, aber kontrol­lier­tes Wachs­tum und hohen Wohl­stand setzen. «Wir wollen in Kerala die Basis für indi­vi­du­elle Lebens­würde, Sicher­heit und Wohl­stand schaf­fen», sagt Isaac, was sowohl Indus­trie als auch Sozi­al­po­li­tik erfor­dert. «Wir sind kein sozia­lis­ti­sches Land», erklärt er mir, «wir sind Teil des indi­schen Kapi­ta­lis­mus. Aber in diesem Teil, inner­halb der Gren­zen, werden wir eine Gesell­schaft gestal­ten, die alle fort­schritt­lich denken­den Menschen in Indien inspi­rie­ren wird. Ja, es ist möglich, etwas ande­res aufzu­bauen. Das ist die Idee von Kerala».

 

 

Ein Schlüs­sel­ele­ment des Kerala-Modells sind die mäch­ti­gen sozia­len Bewe­gun­gen, die es in dem Staat gibt. Zu ihnen gehört eine Massen­front aus der hundert Jahre alten kommu­nis­ti­schen Bewe­gung und der All-India Demo­cra­tic Women’s Asso­cia­tion (AIDWA), die sich vor vier­zig Jahren, 1981, bildete und mehr als zehn Millio­nen Frauen als Mitglie­der hat. Eine der Grün­de­rin­nen der AIDWA war Kanak Mukher­jee (1921–2005). Kanakdi, wie sie genannt wurde, schloss sich im Alter von zehn Jahren der Frei­heits­be­we­gung an und kämpfte von da an unab­läs­sig für die Befrei­ung unse­rer Welt von den Ketten des Kolo­nia­lis­mus und Kapi­ta­lis­mus. 1938, im Alter von sieb­zehn Jahren, trat Kanakdi der Kommu­nis­ti­schen Partei Indi­ens bei und nutzte ihre immensen Talente, um Student*innen und Industriearbeiter*innen zu orga­ni­sie­ren. Als Teil des anti­fa­schis­ti­schen Kamp­fes half Kanakdi 1942 bei der Grün­dung des Mahila Atma Raksha Samiti («Frauen-Selbst­ver­tei­di­gungs­ko­mi­tee»), das einen wich­ti­gen Beitrag zur Unter­stüt­zung derje­ni­gen leis­tete, die von der Hungers­not in Benga­len 1943 heim­ge­sucht wurden – einer von der impe­ria­lis­ti­schen Poli­tik verur­sach­ten Hungers­not, die fast drei Millio­nen Tote forderte. Diese Erfah­run­gen festig­ten Kanak­dis Enga­ge­ment für den kommu­nis­ti­schen Kampf, dem sie ihr ganzes Leben widmete.

 

Um diese kommu­nis­ti­sche Pionie­rin zu ehren, widmete Tricon­ti­nen­tal: Insti­tute for Social Rese­arch seine zweite Femi­nis­mus-Studie (Women of Struggle, Women in Struggle – «Frauen des Kamp­fes, Frauen im Kampf») ihrem Leben und Werk. Die Profes­so­rin Elisa­beth Armstrong, die maßgeb­lich an dieser Studie mitge­wirkt hat, veröf­fent­lichte kürz­lich ein Buch über AIDWA, das jetzt als Taschen­buch bei Left­Word Books erschie­nen ist.

 

Heute stär­ken Orga­ni­sa­tio­nen wie AIDWA das Selbst­ver­trauen und die Macht der Frauen aus den Reihen der Arbei­te­rin­nen und Bäue­rin­nen, deren Rolle in Kerala und bei der Bauern­re­volte sowie in Kämp­fen auf der ganzen Welt beträcht­lich war. Sie spre­chen nicht nur über ihr Leiden, sondern auch über ihre Bestre­bun­gen, über ihre großen Träume von einer sozia­lis­ti­schen Gesell­schaft – Träume, aus denen Seite an Seite mit solchen Bemü­hun­gen wie die der Linken Demo­kra­ti­schen Front in Kerala eine Wirk­lich­keit geschaf­fen werden kann.

 

Herz­lichst,

 

Vijay

Ich bin Tricontinental

Emiliano Lopez, Forscher im Argentinien-Büro

 

Ich verbringe meine Tage damit, verschie­dene Forschungs­pro­jekte für das Tricon­ti­nen­tal: Insti­tute for Social Rese­arch zu koor­di­nie­ren, Online-Hoch­schul­kurse zu geben und mich um meine klei­nen Kinder zu kümmern. Jeden Tag versu­che ich zu verste­hen, warum die Welt aus den Fugen gera­ten ist. Ich habe mich mit der durch den Impe­ria­lis­mus verur­sach­ten Ungleich­heit im Globa­len Süden beschäf­tigt, insbe­son­dere in Latein­ame­rika – in «unse­rem Amerika» (Nuestra­mé­rica). Und ich behalte immer im Blick, wie wir mit unse­rer beschei­de­nen Arbeit die Orga­ni­sa­tion der Menschen im Süden unterstützen.

Aus dem Engli­schen von Claire Louise Blaser.