25. April 2024
Mamadu*Name auf Wunsch geändert. wurde Mitte der 1950er Jahre geboren und wuchs in der guinea-bissauischen Küstenregion Tombali unter dem langen Schatten des portugiesischen Kolonialismus auf. Als Kind erlebte er die portugiesischen Überfälle auf das Dorf seiner Familie und den bewaffneten Widerstand der Partido Africano para a Independência da Guiné e Cabo Verde (PAIGC), einer marxistisch inspirierten Befreiungsfront, die 1956 von Amílcar Cabral und seinen Genossen gegründet wurde. In den 1960er Jahren erhielt Mamadu eine Ausbildung durch das Schulsystem, das die PAIGC in den von ihr befreiten Gebieten errichtet hatte. Dort kam er zum ersten Mal mit der Deutschen Demokratischen Republik (DDR) in Kontakt, denn die von der PAIGC verwendeten Mathematiklehrbücher waren in Zusammenarbeit mit der DDR erstellt worden. Im Alter von 16 Jahren reiste Mamadu dann mit einigen Mitschülern in die DDR, wo er Landwirtschaftstechnik und Ingenieurwesen studierte.
Wir haben Mamadu im Februar 2023 interviewt. Im Folgenden teilen wir Auszüge aus unserem mehrstündigen Gespräch, in denen er über die Geschichte Guinea-Bissaus, die Auswirkungen von Sklaverei und Kolonialismus und den Zusammenhang zwischen dem nationalen Befreiungskampf in den Kolonien und der Nelkenrevolution im April 1974 spricht.
Wie kam es zur kolonialen Unterwerfung Guinea-Bissaus?
Die Region, wo heute der Staat Guinea-Bissau ist, war von den dort ansässigen Völkern seit fast 3.000 Jahren belebt. Aber diese Geschichte findet man fast gar nicht in den Geschichtsbüchern.
Ab 1441 kamen die ersten portugiesischen Abenteurer – nicht „Entdecker“ – in die Region und nahmen erste Kontakte auf. Ab ungefähr 1450 war das heutige Guinea-Bissau eine der ersten Stellen, wo die Portugiesen ihre Handelsstützpunkte gebaut hatten. So war Portugal eigentlich am Anfang Alleinherrscher für die ganze guineische Westküste. Die Franzosen sind später gekommen und konkurrierten mit Engländern und Holländern um das Land. Nach der Berlin Konferenz 1884/85 unterschrieben Frankreich und Portugal einen Vertrag, welcher das Gebiet aufteilte. Ein Großteil Westafrikas ist an Frankreich gegangen und Portugal blieb fest installiert in Kap Verden und Guinea-Bissau.
Ab 1895 bis 1936 gab es große kriegerische Auseinandersetzungen. Guinea-Bissau hat 21 verschiedene Völker oder Ethnien – das Wort „Stämme“ verwende ich nicht – und die großen 5 bis 6 Ethnien haben Widerstand geleistet. Frankreich und Portugal haben die Ethnien gegeneinander ausgespielt und konnten die in Krieg gestürzten Völker dadurch einfacher unterwerfen. Ab 1936 nahm Portugal das Land unter seine Kontrolle und konnte seine Kolonialherrschaft über das gesamte Land erstrecken. Die Portugiesen haben von Anfang an Kap Verde und das jetzige Territorium von Guinea-Bissau unter eine Administration gebracht.
Wie hatte diese europäische Vorherrschaft die Entwicklung Guinea-Bissaus beeinflusst?
Die transatlantische Sklaverei hat eine wesentlich neue Dynamik reingebracht, die den ‚normalen‘ Entwicklungsrhythmus unserer Gesellschaft außer Rand und Band gebracht hat.
Es stimmt, dass die europäischen Mächte in Afrika eine bereits existierende Sklaverei gefunden haben. Doch sie war keineswegs mit dem transatlantischen Sklavensystem vergleichbar. In den Reichen in Afrika war eine gewisse Zwangsarbeit durch Gefangenschaft vorherrschend und nicht die Sklaverei. Die Gefangenen in unseren Regionen wurden untergeordnet und mit verschiedenen Aufgaben beauftragt, aber ohne sie zu entpersonalisieren. Mit diesen Gefangenen wurde Handel getrieben, aber sie blieben in ihrem geografischen Territorium – sie sind dort zirkuliert. Dieses System betraf nur die Arbeitskräfte im arbeitsfähigen Alter.
Die transatlantische Sklaverei hingegen hat zu einem Ausbluten Afrikas geführt. Die Arbeitskräfte wurden massenweise abgezogen und das führte zu gesellschaftlichem Rückfall: das Wissen wird nicht weitergegeben, die Technik wird nicht weiterentwickelt, Arbeitskräfte fehlen überall und soziale Strukturen werden völlig zerstört. Dieser europäische Sklavenhandel hat am Ende so viel verzerrt, dass man bis heute noch die Auswirkungen sieht und zu bekämpfen hat. Das beachtet man zu oft in der Analyse nicht. Es war nicht nur der direkte Kolonialismus, der uns geschadet hat.
Es war eine große Katastrophe. Die Begegnung von Europa und Afrika, die hegemonial ablief, führte zu Beherrschung und Ausbeutung. Es hätte auch anders sein können – Gastfreundschaft, Kooperation und Kollaboration.
Wie entstand die Afrikanische Unabhängigkeitspartei von Guinea-Bissau und Kap Verden (PAIGC)?
Eben aus diesem Kontext von kolonialer Aufteilung und Unterdrückung ist die PAIGC entstanden. Der Agraringenieur Amílcar Cabral gründete die Partei am 19. September 1956 mit zwei anderen Genossen. Interessanterweise waren Cabrals Eltern Lehrer kapverdischer Abstammung gewesen. Sie sind als Lehrer nach Guinea-Bissau geschickt worden, nicht einmal in die Hauptstadt, sondern ins Innere des Landes, wo Cabral am 12. September 1924 geboren wurde. Eine Besonderheit der Partei war es, dass sie sich von Anfang an für die – wie sie heißt – „Afrikanische Unabhängigkeit von Guinea-Bissau und Kap Verden“ eingesetzt hat. Panafrikanismus war von Anfang an in ihr angelegt, aber nicht als ein abstrakter Panafrikanismus ohne Territorium, sondern mit konkretem Bezug auf Guinea-Bissau und Kap Verden als die Stellen, wo man kämpfen will. Auch ich bin ein Produkt dieses Prozesses.
Woher und aus welchen Verhältnissen kommst du? Wie bist du in die DDR gekommen?
Ich komme aus dem Süden Guinea-Bissaus, aus einem für guineische Verhältnisse großen Dorf. Ich bin 1955 geboren und kam 1962 zum ersten Mal mit portugiesischen Soldaten in Kontakt. Sie hatten uns eingekreist, es gab großen Rummel. Für uns Kinder war das wie ein fröhlicher Tag, neugierig sind wir rausgerannt zu den Autos und Soldaten. Doch es war schlimm. Im Nachbardorf gab es viele Verhaftungen, auch ein Onkel von mir ist verhaftet worden und zum Konzentrationslager in Tite in der Nähe von Bissau gebracht worden wie ich später erfuhr.
Dieser erste Kontakt mit den Soldaten hat meinen Lebensweg sehr geprägt. Unser Dorf war im Kreuzfeuer gefangen: Einerseits gab es eine portugiesische Kaserne kaum 2 Kilometer von uns entfernt, andererseits lagerten PAIGC-Kämpfer circa vier Kilometer in der anderen Richtung und sie haben das Dorf weitgehend kontrolliert. Immer wieder kamen die portugiesischen Patrouillen und es gab richtige Gefechte um das Dorf herum. Nachher mussten wir evakuieren.
1969 kam ich in das von der PAIGC in den befreiten Gebieten aufgebaute Schulsystem. Dort wurden die besten Schüler ausgewählt und ins Internat geschickt. Zunächst ins Front-Internat in den befreiten Gebieten und dann nach Conakry, der Hauptstadt von Guinea. Dieses Internat nannte man Pilotschule, denn dort hat die PAIGC neue didaktische und pädagogische Konzepte ausprobiert. Dort kam ich auch zum ersten Mal in Kontakt mit der DDR, denn die DDR war das Land, das Schulmaterialien produzierte für den Mathematik-Unterricht der PAIGC in den befreiten Zonen. Die Übergabe der ersten Materialien für die Schulen und ganz Guinea-Bissau hat man in der DDR-Botschaft in Guinea-Conakry organisiert. Dafür hat man eine Pioniergruppe ausgewählt, die das offiziell in Empfang nehmen würde. Ich war in der Gruppe und hatte das Privileg dort zu reden – das hatte ich mir nicht träumen lassen!
Ich war damals 14 Jahre alt und blieb in diesem Internat für zweieinhalb Jahre. Es gab ein großes Angebot von Studienstipendien der sozialistischen Länder und ich erhielt einen Ausbildungsplatz in der DDR. So ging ich mit 16 Jahren nach Ostdeutschland. Dort wurde ich als Traktoren- und Landmaschinenschlosser ausgebildet.
Von den sozialistischen Ländern – der DDR, Tschechoslowakei, Sowjetunion, Kuba, und so weiter – kam direkte Unterstützung für unseren Befreiungskampf. Wir wussten, das sind wirklich unsere Freunde gewesen. Das Ende des sozialistischen Lagers hat mich damals fast wie überrollt. Ich war traurig, wirklich richtig traurig! Denn wir wussten, ohne die Hilfe des sozialistischen Lagers im antiimperialistischen Kampf gäbe es noch Apartheid in Südafrika! Gäbe es noch portugiesischen Kolonialismus in Guinea-Bissau und das 100%ig unterstützt – um im Rahmen von Deutschland zu bleiben – von der BRD und anderen. Ohne Wenn und Aber.
Du warst in der DDR als die Unabhängigkeit Guinea-Bissaus erklärt wurde. Wie haben du und die anderen Studenten Kontakt mit der PAIGC gehalten?
In der DDR waren wir mit Guinea-Bissau immer konstant verbunden. Die Partei hat damals eine Jugend- und Studentenorganisationen der Partei gegründet. Jeden Monat hatten wir Versammlungen und Beiträge zu zahlen und in diesem Rahmen haben wir auch unsere Aktivitäten organisiert und weiterentwickelt.
Im November 1972 war Amílcar Cabral zum offiziellen Besuch in der DDR. Er saß mit unserem Studentenkontingent einen ganzen Tag zusammen und hat uns viel erzählt. Er bereitete uns auch auf die bevorstehende Unabhängigkeitserklärung von Guinea-Bissau vor. Das war im November und im Januar ist er ermordet worden. Das war ein totaler Schock für uns alle. Alle Studenten haben damals eine gemeinsame Erklärung an die Partei geschickt, dass wir zurückgehen wollen an die Front zum Befreiungskampf. Doch wir hatten dann Anweisung gekriegt, dass unsere Mission gerade das Studium ist, sodass wir mit einem Abschlusszertifikat zurück nach Hause kommen – das war ein Riesen-Schock.
Aber wir hatten es im Kopf: 1973. Cabral hatte es auch in seinem Neujahrskommuniqué erklärt: 1973 werden wir unsere Unabhängigkeit erklären. Und so war 1973 das spannendste Jahr hier gewesen – wird das klappen oder nicht? Anstatt noch schlimmere Nachrichten zu kriegen, etwa dass die Portugiesen jetzt im Anmarsch sind, haben wir ab März Nachrichten erhalten, wie bestimmte Garnisonen überrannt wurden von PAIGC Kämpfern, dass wieder Flugzeuge abgeschossen wurden, und so weiter. Und 1973 gab es dann die einseitige Unabhängigkeitserklärung von Guinea-Bissau. Da haben wir nur gefeiert in der DDR. Das Afro-Asiatische Solidaritätskomitee rief uns zu gemeinsamen Veranstaltungen auf. Wir haben Studenten anderer Länder eingeladen – das war ein Erlebnis. Und das war auch kurz nach den X. Weltfestspielen in Berlin. 73 war das verrückteste Jahr! Wir begehen da in Berlin den Abschluss der zehnten Weltfestspiele und Inti-Illimani, der Oktoberklub und alle singen zum Abschluss an dem Tag. Und ich war dabei!
Nach der Unabhängigkeitserklärung von Guinea-Bissau ging es dann auf internationaler Bühne weiter. Das portugiesische Militär war zu dem Zeitpunkt nur noch in der Defensive. Aber jetzt wurde es spannend: Wird die internationale Gemeinschaft unsere Unabhängigkeitserklärung anerkennen oder nicht? Bis zum Dezember des gleichen Jahres hatten wir die absolute Mehrheit der UNO-Länder hinter uns. Wir wussten also, dass Portugal jetzt international geschlagen ist. Militärisch, politisch und diplomatisch. Als wir dann gehört haben, dass in Portugal ein Putsch stattgefunden hat, da wussten wir: es ist vollbracht. Das ist unser Sieg. Den Putsch hatten wir auch als unseren Sieg gefeiert.
Als ich die Berufsschule 1974 abschloss sollte ich eigentlich zurück, aber wegen guter Ergebnisse hat man mich vorgeschlagen für die Ingenieursschule. Die Partei hat das gutgeheißen und so blieb ich bis 1977 in der DDR.
Wie hing der Befreiungskampf in den Kolonien mit der Nelkenrevolution zusammen?
Man sagt, es war das erste Mal in der modernen Geschichte, dass durch den Druck vom Süden ein Regimewechsel im Norden herbeigeführt werden konnte. Für uns war klar: Die Gründung der PAIGC 1956 und die Aufnahme des bewaffneten Befreiungskampfes 1963 würden definitiv helfen, das faschistische Regime in Portugal zum Fall zu bringen.
Später erfuhr ich, dass die Sozialistische und die Kommunistische Partei in Portugal damals sehr stark mit den Befreiungsbewegungen diskutierten wie eine gemeinsame Zusammenarbeit gestaltet werden sollte. Amílcar Cabral machte klar, dass sie sich jetzt ihrem Unabhängigkeitskampf anschließen müssten, anstatt dass unsere Leute, die gerade in Portugal studierten alle in die sozialistischen und kommunistischen Parteien eintreten (einige Mitglieder von unserer Partei waren auch Mitglieder der Kommunistischen Partei von Portugal). Denn wenn das faschistische System in Portugal fällt, dann werden nicht automatisch die portugiesischen Kolonien fallen. Aber, wenn die portugiesischen Kolonien dieses Kolonialsystem besiegen, wird automatisch die faschistische Regierung, die zu diesem Zeitpunkt schon 40 Jahre existierte, zusammenbrechen.
In seinen Schriften hat Cabral betont: Wir kämpfen gegen ein und denselben Feind. Das muss uns sehr bewusst sein. Das, was die PAIGC in Guinea-Bissau leistet, ist nur ein Teil des gleichen Kampfes, den ihr gerade – in Portugal, in der BRD und anderswo führt. Es ist Pflicht, als Gewerkschafter im Norden, die Kämpfe im Süden zu unterstützen. Das ist kein Geschenk, wie man das heutzutage oft gerne darstellt, sondern eine Pflicht. In Guinea-Bissau starben viele von uns durch portugiesische Napalm-Bomben, aber als wir die koloniale Armee zurückschlugen, war es auch euer Sieg im Norden. Durch unseren täglichen Kampf im Süden unterstützen wir euren Kampf. Heute ist dieses Verständnis leider weitgehend verloren gegangen.
Im folgenden Auszug aus unserem Interview mit Mamadu erinnert er sich an die entscheidenden Jahre 1972 und 1973, als Cabral die DDR besuchte und Guinea-Bissau seine Unabhängigkeit erklärte.