“Anknüpfen an Solidaritätsarbeit”

Sie haben im Jahr 2019 die »Internationale Forschungsstelle DDR« (IF DDR) gegründet. Was genau hat es damit auf sich?
Florentine Morales Sandoval: Nach der Internationalen Rosa-Luxemburg-Konferenz 2018 in Berlin fand ein DDR-Südafrika-Solidaritätstreffen statt, bei dem wir uns mit Vertretern der südafrikanischen Gewerkschaft NUMSA und Mitarbeitern des Forschungsinstituts Tricontinental trafen. Auch ein ehemaliger ANC-Kämpfer war dabei. Kernfrage war, wie fortschrittliche Bewegungen weltweit von den Erfahrungen der DDR lernen können. Darüber hinaus wurde deutlich, dass es in vielen Ländern noch sehr positive Erinnerungen an die Solidaritätsarbeit der DDR gibt und dass daran angeknüpft werden sollte. 2019 wurde deshalb die IF DDR ins Leben gerufen.
Sie sind ein kleines Team junger Geisteswissenschaftlerinnen und ‑wissenschaftler aus Ost und West. Woher rührt das Interesse junger Menschen an der DDR?
Max Rodermund: Es sind die wahrnehmbaren Krisenerscheinungen des Kapitalismus heute, die tendenziell eine Veränderung der Sicht auf die DDR erzwingen. Vor diesem Hintergrund werden Alternativen zum Kapitalismus für mehr, insbesondere junge Menschen interessant. Das wird nicht dazu führen, dass sich der Charakter der offiziellen Geschichtsschreibung ändert, aber es fällt zunehmend schwerer, ein Bild von Überwachung, Unrecht und Mangelwirtschaft aufrechtzuerhalten angesichts heutiger Probleme etwa in der Wohnungs- und Gesundheitspolitik sowie der weltweiten militärischen Drohgebärden. Wir selbst haben die DDR nicht mehr erlebt, sind aber am sozialistischen Aufbau interessiert, weil er wichtige Erfahrungen für die gesellschaftlichen Fragen unserer Zeit bereithält.
Aber warum sollte man sich mehr als drei Jahrzehnte nach dem Scheitern des ersten Sozialismusversuchs hierzulande noch mit der DDR beschäftigen?
M. R.: In der DDR wurde die ökonomische und politische Macht des Privateigentums gebrochen. Sie war eine reale Alternative zur kapitalistischen Gesellschaft. Eine Kritik an bestehenden Verhältnissen muss diese Erfahrungen ernst nehmen und aufnehmen.
Die Ignoranz und Überheblichkeit mit der in Deutschland, auch in linken Kreisen, der DDR oftmals begegnet wird, ist aus unserer Sicht fatal. Hieran zeigt sich der Effekt der offiziellen Geschichtsaufarbeitung. Bezeichnenderweise gibt es gerade aus Bewegungen anderer Länder das Interesse, mehr über die DDR zu erfahren. Und dafür wollen wir einen Zugang anbieten.
Wie genau muss man sich Ihre Arbeit vorstellen, wenn Sie schreiben, dass Sie »die seinerzeit im scharfen Kontrast an der Systemgrenze zur kapitalistischen Bundesrepublik Deutschland entstandenen sozialistischen Verhältnisse der DDR« untersuchen und werten wollen? Wie gehen Sie vor? Welche Quellen werten Sie aus?
F. M. S.: Die Systemkonkurrenz, die sich über 40 Jahre direkt zwischen der BRD und der DDR manifestierte, bestimmte das politische Geschehen der Zeit wesentlich. Dieser weltpolitische Zusammenhang konstituierte die Rahmenbedingungen der gesamten politischen, ökonomischen, sozialen, kulturellen Entwicklungen der DDR und führte zu vielen Widersprüchen und Schwierigkeiten beim Aufbau des Sozialismus. In unserem ersten Heft »Auferstanden aus Ruinen« unserer Reihe »Studies on the DDR« stellen wir diesen Kontext durch eine genaue Betrachtung der Gründungsbedingungen der DDR vor.
Für unsere Veröffentlichungen ziehen wir zeitgenössische Quellen aus Ost und West sowie aktuelle wissenschaftliche Literatur heran. Zentrales Anliegen der Forschungsstelle sind darüber hinaus Interviews mit Zeitzeugen.
Handelt es sich bei Ihrer Arbeit dann tatsächlich um wissenschaftliche Forschungen oder steht mehr oder minder bereits fest, dass die DDR der rundum bessere deutsche Staat war?
M. R.: Wir wollen Errungenschaften und Niederlagen aus 40 Jahren Sozialismus verstehen, um daraus zu lernen. Es ist nichts damit gewonnen zu behaupten, die DDR war einfach besser. Aber zur Frage der wissenschaftlichen Objektivität lässt sich sagen, dass es gerade die Prämisse des vorherrschenden Blicks auf die DDR ist, bei der das Ergebnis bereits feststeht: Die DDR muss schlecht sein, weil der Sozialismus falsch ist. Nicht jeder Wissenschaftler oder jede Wissenschaftlerin startet unbedingt mit dieser Vorbedingung, aber die Zwänge des Wissenschaftsbetriebs, zuallererst die Frage der Finanzierung, aber auch der akademischen Anerkennung, befördern immer wieder diese Grundhaltung zur DDR.
Sie arbeiten, wie bereits von Ihnen erwähnt, eng mit dem global organisierten Forschungsinstitut »Tricontinental: Institute for Social Research« zusammen. Welcher Nutzen ergibt sich für Ihre Arbeit aus dieser Kooperation?
F. M. S.: Es geht nicht um einen Nutzen für uns, sondern für unsere Leserschaft. Der Impuls zur Gründung der Forschungsstelle war, die Erfahrungen beim Aufbau des Sozialismus mit Bewegungen insbesondere im Globalen Süden zu teilen, die sich aktuell in sozialen Kämpfen befinden, die von Debatten um gesellschaftliche Alternativen begleitet werden. Genau dort wollen wir einen Beitrag leisten und uns solidarisieren. Als Beispiel lässt sich hier gut die Bodenreform auf dem Gebiet der späteren DDR anführen, an der es ein großes Interesse der Landlosenbewegungen in Südafrika und Brasilien gibt. Tricontinental als Partner vermittelt uns die Anliegen dieser Bewegungen, mit denen sie selbst aufs engste verbunden sind.
Sie kündigen auf Ihrer Internetseite an, einen genaueren Blick »auf den Internationalismus und die Beziehungen staatlicher und gesellschaftlicher Akteure der DDR zu anderen Ländern und antikolonialen Bewegungen« werfen zu wollen. War der Internationalismus der DDR tatsächlich so uneigennützig motiviert?
M. R.: Natürlich war er nicht uneigennützig. Entscheidend ist, dass das Interesse der DDR mit den Interessen der Befreiungsbewegungen und der Unterdrückten zusammenfiel. Aber man muss kein Kommunist sein, um zu sehen, dass die internationale Solidarität der DDR für die Menschen vor Ort im schärfsten Gegensatz zu der Außenpolitik der imperialistischen Staaten stand. Die Frage ist also, wem hat die Solidarität genützt? Nicht den kapitalistischen Wirtschaftsinteressen, sondern der Arbeiterklasse weltweit. Auf lange Sicht war es natürlich das Ziel, das sozialistische Lager zu stärken. »Uneigennützigkeit« führt hier in eine begriffliche Sackgasse.
In unserer Forschungsreihe »Freundschaft!« spüren wir den vielen Solidaritätsprojekten der DDR nach, gerade auch um die Frage zu klären, was ihre internationalen Beziehungen auszeichnete.
Sie wollen sämtliche Aspekte der DDR-Gesellschaft beleuchten und damit den Blick auf grundsätzliche Möglichkeiten und Schwierigkeiten alternativer sozialer, ökonomischer und politischer Entwicklung weiten. Haben Sie sich für ein kleines Institut damit nicht etwas viel vorgenommen?
F. M. S.: Sicher, wir können nicht alles auf einmal stemmen. Wir wachsen selbst mit den Themen. Unsere »Studies on the DDR« haben zunächst Überblickscharakter. Dabei treibt uns die Nützlichkeit der Forschungsarbeit für fortschrittliche Bewegung weltweit an. Das und die Unterstützung von DDR-Experten für unterschiedliche Themenbereiche hilft uns dabei, unsere Arbeit zu fokussieren. So widmet sich beispielsweise angesichts der Coronapandemie unser zweites Heft der »Studies«-Reihe dem Gesundheitswesen in der DDR.
Wer profitiert am Ende von Ihrer Arbeit?
F. M. S.: Wir bieten Forschungs- und Bildungsmaterialien an, um einen internationalen Austausch über einen Teil der Geschichte der Arbeiterbewegung voranzutreiben. Umgekehrt müssen auch wir uns mit der Geschichte und den politischen Prozessen in Chile, Südafrika, Vietnam und anderswo beschäftigen, um Texte zu schreiben, zu denen sich unser internationales Publikum ins Verhältnis setzen kann. Wir sehen uns als wissenschaftliche Schnittstelle zwischen Diskurs und Aktion. Im Sinne der Popular Education sind wir deshalb bestrebt, einen zugänglichen Einstieg in das Thema zu schaffen – davon können alle profitieren.
Können ehemalige Bürgerinnen und Bürger der DDR Ihre Forschungen unterstützen?
M. R.: Unbedingt! Vor einiger Zeit hatten wir in der jungen Welt bereits einen Aufruf gestartet, in dem wir explizit nach Zeitzeugen suchten, die an den Solidaritätsprojekten der DDR im In- und Ausland beteiligt waren. Daraus ergaben sich spannende Kontakte. Wir informieren nun einmal monatlich in einem Newsletter über den Arbeitsstand und über geplante Interviewvorhaben und freuen uns über Rückmeldungen. Gerade weil wir mit unserer Forschung die Erfahrungen der DDR-Bürger nicht in die Erzählung vom »Unrechtsstaat« einbetten, erhalten wir bisher guten Zuspruch.
Hintergrund: Internationale Forschungsstelle DDR
Die in Berlin ansässige Internationale Forschungsstelle DDR (IF DDR) richtet ihr Augenmerk insbesondere auf den Internationalismus sowie die Beziehungen staatlicher und gesellschaftlicher Akteure der DDR zu anderen Ländern und antikolonialen Bewegungen. In vielen Ländern Lateinamerikas, Afrikas und Asiens seien die positiven Impulse zur ökonomischen und politischen Souveränität, wie sie die DDR unter anderem mit zahlreichen Solidaritätsprojekten setzte, in Erinnerung geblieben, schreiben die Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler auf ihrer Internetseite. Wo wirtschaftliche und soziale Alternativen zum Bestehenden erneut gefragt seien, wo sich erneut antikoloniale, antikapitalistische und sozialistische Bewegungen formierten, da bestünde auch Interesse an den Erfahrungen und Entwicklungen der DDR, heißt es weiter.
Mit einem kleinen Team aus Ost und West sichtet und sortiert die IF DDR vorhandene Literatur, verbindet sie mit Erfahrungen aus erster Hand in Zeitzeugeninterviews und erarbeitet auf dieser Basis wissenschaftlich fundierte und anschauliche Publikationen in unterschiedlichsten Medienformaten. Mit ihren Studien möchte die IF DDR »einen Beitrag zu aktuellen Debatten um soziale Kämpfe und politische Alternativen leisten, der sich aus den Bedingungen und Erfahrungen des DDR-Sozialismus speist«.
Schon jetzt findet sich eine Reihe von Veröffentlichungen zu verschiedenen Aspekten der DDR auf der Homepage der Forschungsstelle. In der ersten Ausgabe der »Studies on the DDR« wird beispielsweise die Entstehung der DDR nach dem Zweiten Weltkrieg nachgezeichnet und »ihr Werden vom antifaschistisch-demokratischen Staat hin zum sozialistischen verfolgt«. Zentral sei »hierbei die wirtschaftliche Ausgangslage, welche nach dem Krieg und aufgrund der Reparationsleistungen eine besonders schwierige war und das wirtschaftliche Leben bestimmte«, schlussfolgern die Wissenschaftler. Folgerichtig befasst sich der Text schwerpunktmäßig mit der Wirtschaftlichkeit der DDR, ihren Leistungen wie ihren Widersprüchen. Darüber hinaus wird über zentrale Charakteristika der sozialistischen Gesellschaft und Arbeit informiert: Internationale Solidarität, kollektive Organisierung in volkseigenen Betrieben, Planwirtschaft. In naher Zukunft sollen Veröffentlichungen über das Gesundheitswesen in der DDR und die auf dem späteren Gebiet der DDR durchgeführte Bodenreform folgen. Die Reihe soll »die Grundlage für einen internationalen Austausch über die DDR liefern, indem sie anhand ausgewählter Aspekte aus dem Alltag den Aufbau dieses sozialistischen Staates und seine Lebenswirklichkeit nachzeichnen«. Die Reihe »Freundschaft!« befindet sich in Vorbereitung, sie soll sich der sozialistischen Maxime der Internationalen Solidarität widmen und die internationalen Beziehungen der DDR sowie ihre Aus- und Nachwirkungen erforschen. (bern)