Dr. Anandita Bajpai
4. Oktober 2023
Einleitung
Das Radio war ein wichtiges kulturelles Instrument des Kalten Krieges, um Menschen in „weit entfernten“ Gebieten Weltanschauungen zu vermitteln, die seinen eigenen entsprachen, und um ideologische Affinitäten und Feindschaften zu festigen. Mehrere Auslandssender in Europa, den USA und der Sowjetunion wurden zwischen den 1960er und den späten 1980er Jahren eigens gegründet, um ein globales Publikum zu erreichen. Im Rahmen meiner Feldforschung zu den Hindi-Programmen verschiedener Radiosender und ihrer Hörerschaft in mittelgroßen Städten, Townships und ländlichen Dörfern Indiens habe ich insbesondere den Weg von Radio Berlin International, dem Auslandssender der DDR mit Sitz in Ost-Berlin, nachgezeichnet. Während über den ideologischen und akustischen Wettkampf im Äther in der Zeit des Kalten Krieges viel geforscht wurde, ist die Perspektive der Hörerinnen und Hörer jenseits einiger Briefe, die in den institutionalisierten Archiven zu finden sind, relativ wenig erforscht. Die Erforschung der Geschichten dieser HörerInnen, die vor den Radiogeräten saßen, Hörerclubs gründeten und private Sammlungen in ihren Wohnhäusern anlegten, kann neue Einblicke in die Art und Weise geben, wie internationalistische Solidaritäts- und Freundschaftsbekundungen im Alltag über Radiowellen gestaltet wurden.
1959 wurde Radio Berlin International, oder „Die Stimme der Deutschen Demokratischen Republik“, wie der Sender sowohl von den Menschen hinter den Mikrofonen als auch von den Hörerinnen und Hörern vor den Radiogeräten genannt wurde, gegründet. Die Hindi-Sektion, Teil der Südostasien-Abteilung, nahm 1967 seinen Sendebetrieb auf. Während einige der ModeratorInnen des Hindi-Programms InderInnen waren, stammten mehrere ModeratorInnen, JournalistenInnen, SendungsmacherInnen und MitarbeiterInnen aus der DDR und hatten an der Ostberliner Humboldt-Universität Hindi gelernt. Die meisten von ihnen waren noch nie in Indien gewesen, kamen aber zum Sender, um sich aktiv mit der Sprache und ihren MuttersprachlerInnen auseinanderzusetzen, die einen Kontinent entfernt waren. In den 23 Jahren seines Bestehens erfreute sich das Hindi-Programm bei Hunderten von HörerInnen und Hörerclubs in den Vorstädten und ländlichen Hindi-sprachigen Teilen Indiens großer Beliebtheit.
Wie mehrere Hörerinnen und Hörer in Interviews, die ich seit 2018 geführt habe, zum Ausdruck brachten, beruhte die große Beliebtheit von Radio Berlin International (RBI) beim indischen Publikum auf den innigen Beziehungen, die die ModeratorInnen des Senders zu ihnen knüpften, häufig ist von „Wärme“, „Liebe“ und „Freundschaft“ die Rede. Mehrere RBI-HörerInnen haben ihre RBI-Erinnerungsstücke, Briefe und von RBI gesendete DDR-Objekte in den privaten Räumen ihrer Häuser bis heute sorgfältig aufbewahrt, über 33 Jahre nach der Schließung des Senders im Jahr 1990. Wie erklärt sich diese Intimität? Wie haben die ephemeren Radiowellen transnationale Freundschaftsbande über die ideologischen Grenzen des Kalten Krieges hinweg und trotz dieser Grenzen geschaffen? Wie wird heute über diese Verbindungen berichtet? Ich gehe diesen Fragen nach, indem ich die Profile von vier begeisterten HörerInnen des Senders aus Bikaner (Rajasthan), Gola Bazaar, Gorakhpur (Uttar Pradesh) und Madhepura (Bihar) vorstelle und Ausschnitte aus meinen laufenden Gesprächen mit ihnen präsentiere.
Das Hindi Programm von RBI
Mit einer 20-minütigen Sendung, die schließlich auf 30 Minuten verlängert und täglich dreimal wiederholt wurde, begann 1967 das Hindi-Programm von RBI. Die Sendung bestand aus einigen zentralen Beiträgen wie dem „Tageskommentar“, „Aktuelles“ und der „Presseschau“ (in Hindi: Aaj ki Sameeksha), die in allen fremdsprachigen RBI-Sendungen enthalten waren, etwa in Kisuaheli, Französisch, Spanisch, Arabisch, Portugiesisch, Englisch usw. Zu den regelmäßigen wöchentlichen Beiträgen gehörten die „Sportsendung“ (Hindi: Khel-kud ke Samachar), die „Friedenssendung“ (Hindi: Kadam Badhao Aman Ki Khaatir, wörtlich übersetzt: Mach einen Schritt vorwärts in Richtung Frieden), und „Das Land in dem wir leben“ (Hindi: Wah desh jisme hum rehte hain und DDR Darshan). Einen beträchtlichen Teil ihrer Sendezeit widmete die Sendung der „Hörerpost“ wie Aapki Chitthi Mili (Wir haben Ihre Post erhalten) und Aapne Poocha Hai (Sie haben uns gefragt).
Das DX-Programm war eine weitere Plattform für den direkten Austausch zwischen ModeratorInnen und HörerInnen durch Briefe und Empfangsberichte. Als DXen wird das seit den 1920er Jahren internationale Phänomen und Hobby von Amateur-FunkerInnen bezeichnet, entfernte Radio- oder Fernsehsignale zu identifizieren und zu empfangen oder mit entfernten Stationen in Kontakt zu treten und sie durch Berichte über die Empfangsqualität zu informieren (DX ist die telegrafische Abkürzung für distance oder distant exchange). DXer und DXerinnen erhielten eine schriftliche Bestätigung des Empfangs von Meldungen durch Funkstationen in Form sogenannter QSL-Karten (Bestätigungskarten). RBI hatte mehrere engagierte DXerInnen und DX-Clubs, wie auf den 200 Magnetbandaufnahmen (1988–90) der Hindi-Sendung zu hören ist, die im Deutschen Rundfunk Archiv (DRA) in Potsdam aufbewahrt werden. Ab 1983 startete die Programmleitung eine neue Rubrik namens Naye Mitron ke Patr (Briefe von unseren neuen Freunden), da die Hindi Sendungen bei den HörerInnen immer beliebter geworden war und der Sender nun weit mehr Briefe als in den 1970er Jahren erhielt. Diese Rubrik wurde vor allem eingeführt, um auf die Briefe der neuen Hörerclubs einzugehen. Da der Sender bis Oktober 1990, ein Jahr nach dem Fall der Mauer, fortbestand, wurden im Jahr 1989 neue Sendungen wie das „Berlin Tagebuch“ eingeführt, das die rasanten Veränderungen in der Stadt nach der Öffnung der Grenzen zwischen Ost- und Westberlin aufzeichnete.
Für die meisten indischen HörerInnen waren es die ostdeutschen Stimmen, die in Hindi zu ihnen sprachen, und die persönliche Aufmerksamkeit für ihre Neugier, Fragen und Botschaften, die das Programm einzigartig und beliebt machten.
Solidarität und Freundschaft in Madhepura, Bihar
Als Arvind Srivastava begann Radio Berlin International zu hören war er Student der russischen Geschichte an der örtlichen Universität. Heute ist er hauptberuflich Schriftsteller und Dichter und schreibt in Hindi. In den 1980er Jahren gründete Srivastava in Madhepura, Bihar, einen Club von Radiohörern, den Lenin Club. Er nennt RBI seinen Lieblingssender und rekapituliert
Ich hing an RBI. Die Hauptziele des Clubs bestanden darin, die Inhalte des Programms zu diskutieren, sich über das Weltgeschehen zu informieren, die Politik des Kalten Krieges kritisch zu kommentieren und auch den Platz Indiens als blockfreies Land in der Welt zu beleuchten. Wir fanden eine gemeinsame Stimme gegen Imperialismus und marktgesteuerten Kapitalismus. Unsere Ansichten fanden eine Gemeinsamkeit mit der DDR. Uns waren auch die Ereignisse in Ländern wie Mosambik, Chile, Angola, Vietnam und Nicaragua bekannt. Wir sahen im Sozialismus und Antiimperialismus die einzige Lösung für eine Welt, die bereits von zwei Kriegen erschüttert war.1Interview mit Arvind Srivastava, unterwegs von Berlin nach Bonn (DW), 31.01.2023.
Seine Weltanschauung fand Srivastava auch in der in den RBI-Sendungen vorgenommenen Verurteilung des südafrikanischen Apartheidregimes widergespiegelt.
Für Hörer wie Srivastava war das Radio ein Medium, durch das er nicht nur über die Welt „hörte“, die von der spaltenden Politik des Kalten Krieges geprägt war, sondern das ihm auch ermöglichte, als politisches Subjekt „gesehen“ zu werden. Als Präsident des Lenin Clubs war es ihm wichtig, die Aktivitäten des Clubs fotografisch festzuhalten und diese Fotos an den Radiosender zu senden. Ein Beispiel dafür sind die Fotos eines Protestmarsches, den der Lenin Club auf den Straßen von Madhepura gegen die Verbreitung von Atomwaffen und für den internationalen Frieden organisierte. Eine solche Veranstaltung war für Srivastava nicht nur eine Möglichkeit, am Weltgeschehen teilzunehmen und sich von einer indischen Stadt aus politisch in die internationale Politik einzubringen, sondern auch eine Gelegenheit, ideologische Solidarität mit der DDR durch ein visuelles Beweisobjekt zu „inszenieren“.
Srivastava war hocherfreut die Fotos zu sehen, die er in den 1980er Jahren an den Sender geschickt hatte. Jahre nach der Schließung des RBI (1990) waren sie über mich im Jahr 2019 zu ihm zurückgekehrt (Abb. 1 und 2). Es erfüllte ihn mit Stolz, dass sie all die Jahre von einer der RBI-Moderatorinnen, Sabine Imhof, sorgfältig in Berlin aufbewahrt worden waren, da er selbst keine Kopien mehr besaß.
Unter den aus der DDR erhaltenen Erinnerungsstücken, die Srivastava seit Jahren sicher auf dem Dachboden seines Hauses aufbewahrt, finden sich mehrere RBI-Zeitschriften und ‑Pamphlete, QSL-Karten, Plakate, Wimpel, Briefe, RBI-Schirmmützen und ein halb zerstörtes Foto des Funkhauses in der Nalepastraße in Ost-Berlin, von dem aus RBI seine Sendungen ausstrahlte (Abb. 3 und 4).
Als ich sein Haus in Madhepura besuchte, um einen Dokumentarfilm über die Verflechtungsgeschichte des RBI, seiner ModeratorInnen und HörerInnen zwischen Berlin und Bihar zu drehen,2Dokumentarfilm von Anandita Bajpai, The Sound of Friendship: Warm Wavelengths in a Cold, Cold War?, https://www.projekt-mida.de/2050/filmankuendigung-thesoundoffriendship/, Trailer: https://www.youtube.com/watch?v=eCVWosBrzYk schlug Srivastava vor, dass wir auf seinen Dachboden gehen und alle DDR- und RBI-Objekte für eine genauere Betrachtung hervorholen. Das Dokumentieren, teilweise Digitalisieren des Materials und das Fotografieren der Radio-Objekte in den darauffolgenden drei Tagen auf dem Dach seines Gehöfts brachte uns auf die Idee, eine Ausstellung zu organisieren, die die Erinnerungen an die Freundschaft zwischen Indien und der DDR und seine persönliche Verbindung zum RBI wachrufen würde.
Es folgte eine sorgfältige Auswahl und Sortierung aller Erinnerungsstücke in seinem Haus und eine Ausstellung, die von Arvind offiziell eröffnet wurde, indem er die Geschichte jedes ausgestellten Objekts vor einem Saal voller BesucherInnen erläuterte (Abb. 5 und 6). Unsere Ausstellung erinnerte an jene Ausstellungen, die Hörer wie Arvind regelmäßig organisierten, als der Radiosender noch existierte. Bei diesen Ausstellungen handelte es sich um für Fotoaufnahmen inszenierte Aktionen, bei denen die Mitglieder von Hörerclubs ihre Solidarität mit der DDR bekundeten, indem sie die ihnen zugesandten Materialien in ihren Clubräumen ausstellten. Die Objekte wurden der Nachbarschaft zum Anschauen zugänglich gemacht, um das Bewusstsein für den Radiosender, sein Sendeland und den Alltag der Menschen zu schärfen. Über die Privatsammlung der bereits erwähnten RBI-Moderatorin Sabine Imhof, die von 1981–90 in regelmäßigem Briefkontakt mit den Hörern stand, bin ich erstmals auf Fotos solcher Ausstellungen gestoßen. Auf ihnen sieht man den HörerInnen zugesandte Objekte sorgfältig auf Tischen und in Vitrinen präsentiert. Bücher, Zeitschriften, Vorhänge in den Farben der DDR-Flagge, Flugblätter, Souvenirs und Wimpel schmücken die Wände und Tische in den Wohnzimmern der Clubvorsitzenden, die meist als temporäre Ausstellungsräume genutzt wurden (z.B. Abb. 7).3Für eine ausführliche Beschreibung solcher Objekte und der Art und Weise, wie die Hörer durch und mit ihnen “Liebe”, “Freundschaft” und “Solidarität” praktizierten, siehe Anandita Bajpai, “Objects of Love: Remembering Radio Berlin International in India”, The GDR Tomorrow: Rethinking the East German Legacy, hrsg. von Elizabeth Emery, Matthew Hines & Evelyn Preuss (Oxford: Peter Lang, 2023), 240–266. Die Ausstellung in Srivastavas Gehöft im Jahr 2019 war ein Versuch, die emotionale Stimmung der Clubaktivitäten der 1980er Jahre wiederherzustellen.
Arvinds unerschütterliche Loyalität zum Sender und seiner Botschaft von Solidarität und internationaler Freundschaft führte dazu, dass er 1983 eine Zeitschrift mit dem Titel Aman Ki Aawaaz (Die Stimme des Friedens: Dem internationalen Frieden und der Freundschaft gewidmet) gründete, die er ausschließlich mit eigenen Mitteln finanzierte. Die Zeitschrift informierte nicht nur über das Programm von RBI Hindi, die Sendezeiten und den Ablauf der Sendungen, sondern enthielt auch mehrere Texte zu anderen Themen wie dem 2000-jährigen Jubiläum von Taschkent als Stadt des internationalen Friedens und der Solidarität sowie kritische Essays gegen die Verbreitung von Atomwaffen und das Wettrüsten. Die Zeitschrift dankt Ujjwal Bhattacharya vom RBI als einem ihrer inspirierenden Führer (Abb. 8 und 9).
Wenn er an seine LieblingsmoderatorInnen zurückdenkt, erinnert sich Srivastava
Wir wollten unbedingt die Leute treffen, die bei RBI arbeiten, sei es Friedemann, Sabine oder Marita, und die anderen wie Ujjwal oder Mahesh oder Wolfgang. Zumindest, um sie einmal persönlich zu sehen! Es ist so: Wenn man jemanden in seinem Herzen tief verehrt, in Form eines Idols, dann möchte man ihn auch einmal persönlich treffen. Das Leben wird bedeutungsvoller, wenn man zu ihnen vordringen kann. Und noch etwas: Damals hatte das Radio nicht nur eine formale Präsenz in meinem Leben. Wir hatten auch ein schönes Bild von den Menschen in der DDR: DDR-Bürger. Wenn ich einen Ausländer gesehen habe, habe ich mich gefragt, ob er aus der DDR kommt. Und vielleicht könnte ich mit ihm sprechen.4Interview mit Arvind Srivastava, 27.03.2019, Madhepura, Bihar.
Intimität und Freundschaft anhand von Objekten in Bikaner, Rajasthan
Die Familie von Rajendra Kumar Swarnkar (Vater und Söhne) ist von Beruf Goldschmied und hat sich auf die Herstellung von feinem Schmuck aus Silber, Gold und Emaille spezialisiert. Als junger Radiohörer in den 1980er Jahren erinnert sich Swarnkar an lange Arbeitstage, die er neben seinem Vater im oberen Stockwerk seines Hauses verbrachte, wo der Klang des Radiogeräts allgegenwärtig und die einzige akzeptierte „fremde“ Präsenz war. Abgeschirmt vom alltäglichen Haushaltsleben und den anderen Familienmitgliedern wurde in diesem Raum der Großteil der Entwurfsarbeit geleistet. Swarnkar erinnert sich lebhaft daran, wie er am Radioknopf herumspielte und mit dem allerersten Radiogerät im Haus Frequenzen ausländischer Sender wie Radio Taschkent, Radio Peking, Deutsche Welle, Radio Praha und Radio Berlin International einfing. Seine Neugierde wurde geweckt, als er zum ersten Mal den Hindi-Service der BBC hörte und sich fragte, ob es noch andere Radiosender auf der Welt gab, die ebenfalls Hindi-Programme sendeten. Ab 1982 wurde Swarnkar ein überzeugter Hörer von RBI, gründete seinen eigenen Hörerclub und verfolgte regelmäßig alle Sendungen und Wiederholungen. In seinen eigenen Worten:
Ich werde Ihnen sagen, was das Besondere an RBI war: Für sie war nicht nur der Club wichtig, sondern der Mensch, die Person. Sie haben mich als Person sehr ernst genommen. Und so sind ihre Moderatoren mit jedem Zuhörer umgegangen. Das zeigte sich in der Sendung.5Interview mit Rajendra Kumar Swarnkar, 02.04.2022, Bikaner, Rajasthan.
Im Laufe der Jahre konnte Swarnkar die Stimme eines jeden Moderators und einer jeden Moderatorin aus der DDR wiedererkennen. Nach seinen eigenen Angaben fühlte er sich mit diesen Stimmen freundschaftlich verbunden.
RBI zu hören, war wie eine Sucht und Leidenschaft. Im Gegensatz zu den meisten Süchten hat man mit einem solchen Hobby – einer gesunden Leidenschaft – niemandem geschadet, so würde ich es beschreiben. Es vermittelte mir Wissen über die Welt. RBI war mein Favorit, weil jeder Moderator eine persönliche und unmittelbare Art hatte, zu uns Zuhörern zu sprechen. Ihre Stimmen hallten in meinen Ohren noch lange nach, nachdem die Sendung zu Ende war. Es ist schwer, diese Gefühle auszudrücken. Jeder von ihnen hatte eine einzigartige Stimme, einen eigenen Tonfall und eine eigene Art, in Hindi zu sprechen. Es war eine einzigartige Erfahrung, diese ostdeutschen Stimmen in Hindi zu hören.6Interview mit Rajendra Kumar Swarnkar, 03.04.2022, Bikaner, Rajasthan.
Die Sendung informierte Swarnkar über die DDR, ihre Menschen und ihren Alltag, ihre städtischen und ländlichen Landschaften. In seinem Wohnhaus, im selben Raum, in dem er arbeitete und RBI hörte, findet man heute mehrere Eisenschränke, die voll sind mit diversen Objekten, die er vor fast 40 Jahren vom Sender erhalten hat. Darunter befinden sich z.B. eine DDR-Pionierpuppe, die ein RBI-Schal ziert, ein manueller Diabetrachter mit mehreren Dias, die DDR-Landschaften zeigen, Plastiktüten von RBI, die noch so glänzend sind, wie sie empfangen wurden, mehrere Anstecknadeln, RBI-Schirmmützen, Stapel von RBI-Spielkarten, deren Verpackungen nie entfernt wurden, DDR-Wimpel und die Umschläge aller Briefe, die Swarnkar vom Sender erhielt (Abb. 11–15).
Diese Objekte, die damals per Einschreiben aus der DDR nach Bikaner gelangten, rufen bei Swarnkar noch heute Erinnerungen an seine Freundschaftsbande mit dem Land, seinen Menschen und vor allem mit den ostdeutschen ModeratorInnen des RBI hervor.
Im Jahr 1999 reiste Sabine Imhof zum ersten Mal nach Indien und lernte in Bikaner einen ihrer eifrigsten Hörer, Rajendra Kumar Swarnkar, persönlich kennen. Rajendras Verbundenheit mit den Radio-Objekten von RBI zeigt sich aufschlussreich in einer von Sabine geschilderten Erinnerung an ihren Besuch auf seinem Gehöft:
Er zeigte mir einen Teil der Wand in seinem Haus, an dem seit Jahren ein RBI-Wimpel hing. Dieser dreieckige Fleck war vor den Auswirkungen von Staub und Feuchtigkeit auf den Rest der Wand gerettet worden. Ich sagte zu Rajendra: „Natürlich gibt es RBI nicht mehr und die DDR auch nicht. Es macht nur Sinn, dass du den Wimpel von der Mauer abgenommen hast“. Darauf sagte er: „Ich habe ihn nicht entfernt, weil es keinen Sinn mehr machte, ihn dort zu haben, ich habe ihn entfernt, um ihn vor der Mauer zu retten. Ich habe ihn abgenommen, weil ich weiß, dass dies eine der einzigen Erinnerungen sein wird, die ich an RBI behalten kann.“7Interview mit Sabine Imhof, 31.07.2018, Berlin.
Die DDR-Objekte dienten also eindeutig als Botschafter der Freundschaft und bildeten enge Verbindungen zu den indischen HörerInnen von RBI. Sie wurden zu materiellen Markern der allgegenwärtigen Präsenz des Radios im Alltag der Menschen und dienen heute, Jahre später, als Instrumente der Nacherzählung, die von den affektiven Bindungen der HörerInnen an den Sender und sein Gastland erzählen.8In Anandita Bajpai, „Material Lives of Cold War Radio-pasts in India“, Historical Journal of Film, Radio and Television (erscheint 2023) habe ich den Werdegang solcher Objekte und ihre affektiven Bindungen zu den Radiohörern historisch aufbereitet.
Going Global von Gola Bazaar, Gorakhpur, Uttar Pradesh
In einer kleinen Gemeinde im östlichen Uttar Pradesh, siebzig Kilometer von der Stadt Gorakhpur entfernt, liegt die Gemeinde Gola Bazaar. Dort sind seit dem Beginn des Hindi-Programms von RBI im Jahr 1967 Badri Prasad Verma ‚Anjaan‘ und Shakuntala Verma eifrige HörerInnen der Sendungen gewesen. Badri Prasad Verma ist Hobby-Karikaturist, Autor von Kurzgeschichten für Kinder und betreibt einen Gemischtwarenladen in seinem Viertel. Seine Frau Shakuntala Verma war früher Hausfrau und hilft jetzt ihrem Sohn bei der Führung eines weiteren Gemischtwarenladens. In den 1980er Jahren gründete Verma den Swargiya Menu Shrota Club, einen Club von RadiohörerInnen, der auf Anregung eines Radiomoderators bei Radio Beijing, nach ihrer ältesten Tochter benannt wurde, die als Kleinkind starb.
Besonders stolz ist das Ehepaar darauf, dass sie zu den wenigen HörerInnen gehörten, die die letzte von RBI herausgegebene QSL-Karte erhalten haben (Abb. 17). Beim Anhören der letzten Sendung des RBI Hindi Programms am 02.10.1990, deren Kopie ich 2018 als Tonbandkassette von einer der Moderatorinnen der Sendung (Marita Hoffmann) in Berlin erworben hatte, erzählte Badri Prasad mit Tränen in den Augen, wie ihm die Sendung als Begleiter in schwierigen Jahren geholfen hatte. Für ihn spiegelten die Stimmen, die die letzte Sendung des Senders moderierten, den Schmerz wider, den HörerInnen in ganz Indien an diesem Tag empfanden, weil sie wussten, dass ihre Lieblingssendung nie wieder ausgestrahlt werden würde.
Shakuntala und Badri Prasad waren alles andere als passive EmpfängerInnen der „Propaganda“ des Kalten Krieges. Sie verfolgten auch die Hindi-Sendungen der Deutschen Welle, von Radio Taschkent, Radio Beijing, Voice of America, BBC Hindi Service und Radio Moskau mit Aufmerksamkeit. Sie erzählten jedoch, dass RBI und seine ModeratorInnen zu ihren Favoriten gehörten. Die Sendung berührte ihre Herzen, und angesichts der Ernsthaftigkeit, mit der der Sender ihre Briefe, Bitten und Fragen beantwortete, fühlten sie sich vom Sender „anerkannt“. Beide haben bis heute mehrere Ordner mit Briefen, QSL-Karten, Broschüren, Zeitschriften und Rundbriefen des Senders aufbewahrt (Abb. 18), Wimpel, Kalender und Fahnen bewahren sie in ihrem Schlafzimmer auf (Abb. 19, 20 und 21). Zwei der Beiträge des Hindi-Programms – Aapne Poocha hai (Sie haben uns gefragt) und Naya Daur Naye Prashn (Eine neue Ära, neue Fragen) –, von denen etwa 200 Sendungen (1988–90) in Form von Magnetbändern aus dem RBI-Bestand des Deutschen Rundfunk Archivs in Potsdam zugänglich sind, sind voll von Fragen, die von den Vermas an die Sendung gestellt wurden und die in der Sendung gebührend beantwortet wurden. Für Badri Prasad Verma hat das RBI nicht nur seine Neugierde in Bezug auf die DDR und den Kalten Krieg angesprochen, sondern ihm auch die Möglichkeit gegeben, sich einen Überblick über die globale Kulturpolitik des Kalten Krieges zu verschaffen. Es ermöglichte ihm, der aus dem sehr lokalisierten ländlichen Kontext von Gola Bazaar im östlichen Uttar Pradesh kam, einen Internationalismus zu leben. Die Sendung war ein Mittel, um sich über eine ideologische Alternative zu informieren – eine Perspektive, die sich von dem unterschied, was er bei BBC, DW oder VOA hörte – und eine kritische Stellungnahme zur Weltpolitik abzugeben. Vor allem die Beiträge der Hindi-Sendung halfen ihm, das Alltagsleben der BürgerInnen in der DDR und in Indien zu vergleichen und gegenüberzustellen.
Nachdem sie unsere Briefe gelesen hatten, und es waren so viele, die wir ihnen regelmäßig schickten, dachten sie (RBI) vielleicht, dass diese Menschen in einem kleinen, abgelegenen Dorf im Osten UPs so wissbegierig sind. Wir hatten so viele Fragen – über ihr Land, seine Kultur, sein politisches System, seine Vergangenheit und vor allem über seine Menschen. Das RBI ermöglichte es mir, zu zeigen, dass man, auch wenn man aus einem winzigen Dorf kommt, ein Teil der großen, weiten Welt sein kann.9Interview mit Badri Prasad Verma Anjaan and Shakuntala Verma, 12.04.2022, Gola Bazaar, Gorakhpur, Uttar Pradesh.
Fazit
In ihrem Bericht über ihre Erfahrungen mit dem Lesen von HörerInnenbriefen während ihrer fast neunjährigen Tätigkeit beim Sender sagte Sabine Imhof, die auch den Spitznamen „Postkönigin“ trägt:
Das ist es, was mich von Anfang an an meiner Arbeit beeindruckt und begeistert hat – dass sie (die Hörerinnen und Hörer) uns von ihren Aktivitäten, ihrem Alltag, ihren Problemen, ihren Erfolgen erzählten, dass sie so viele Fragen stellten. Trotz des schlechten Empfangs – er schwankte! – hörten sie uns über die Jahre hinweg weiter zu. Sie erzählten uns von ihrem politischen Aktivismus – dass sie manchmal Protestmärsche organisierten und dass sie uns Bilder von all ihren Aktivitäten schickten. Wenn also ein Club eine neue Straße in seinem Dorf gebaut hatte, schickten sie uns ein stolzes Bild der neuen Straße, auf der sie selbst mit RBI-Transparenten standen, die wir ihnen geschickt hatten [lächelt].10Interview mit Sabine Imhof, 31.07.2018, Berlin.
Am 2. Oktober 1990 sendete Radio Berlin International zum letzten Mal. Danach wurde der Sender offiziell geschlossen und die Deutsche Welle wurde zum einzigen Auslandssender der wiedervereinigten deutschen Staaten. Drei MitarbeiterInnen der Hindi-Abteilung von RBI wurden bei der DW wieder eingestellt, während die Mehrheit über Nacht ihren Job verlor und viele danach einen anderen beruflichen Weg einschlugen. Meine seit 2018 andauernden Gespräche mit den ModeratorInnen und HörerInnen bezeugen jedoch, dass der Sender von beiden Seiten alles andere als vergessen ist. Wie ich bereits an anderer Stelle dargelegt habe, waren die Objekte, die vom Sender zu den HörerInnen nach Indien gelangten, ein Mittel zur Festigung von Banden der Intimität, Liebe, Freundschaft und Solidarität.11Anandita Bajpai, ‘Objects of Love: Remembering Radio Berlin International in India’, Ibid. Als Marker für die Verflechtungen zwischen indischen und DDR-Akteuren verweisen sie auf die materiellen, affektiven Register, die von den ansonsten flüchtigen Radiowellen erzeugt wurden. Ihre Nähe zu ihren BesitzerInnen zeigt auch heute noch, dass Radio nicht nur gehört wurde, sondern dass seine Wellen weiterhin durch Dinge „gefühlt“ wurden. Heute gehören diese Objekte zu den Privatsammlungen und Hausarchiven der HörerInnen, die eine bisher unerforschte, reichhaltige Quellenbasis für die Dokumentation der Rezeptionsgeschichte des Senders sowie der Geschichte der Verflechtungen zwischen Indien und der DDR im Kalten Krieg darstellen können.
Leibniz-Zentrum Moderner Orient (ZMO), Berlin
Principal Investigator, Crafting Entanglements: Afro-Asian Pasts of the Global Cold War
Leibniz Collaborative Excellence Project (2023–26) (K437/2022)
Fußnoten
[1] Interview mit Arvind Srivastava, en route Berlin to Bonn (DW), 31.01.2023.
[2] Dokumentarfilm von Anandita Bajpai, The Sound of Friendship: Warm Wavelengths in a Cold, Cold War , https://www.projekt-mida.de/2050/filmankuendigung-thesoundoffriendship/, trailer: https://www.youtube.com/watch?v=eCVWosBrzYk
[3] Für eine ausführliche Beschreibung solcher Objekte und der Art und Weise, wie die Hörer durch und mit ihnen “Liebe”, “Freundschaft” und “Solidarität” praktizierten, siehe Anandita Bajpai, “Objects of Love: Remembering Radio Berlin International in India”, The GDR Tomorrow: Rethinking the East German Legacy, hrsg. von Elizabeth Emery, Matthew Hines & Evelyn Preuss (Oxford: Peter Lang, 2023), 240–266.
[4] Interview mit Arvind Srivastava, 27.03.2019, Madhepura, Bihar.
[5] Interview mit Rajendra Kumar Swarnkar, 02.04.2022, Bikaner, Rajasthan.
[6] Interview mit Rajendra Kumar Swarnkar, 03.04.2022, Bikaner, Rajasthan
[7] Interview mit Sabine Imhof, 31.07.2018, Berlin.
[8] In Anandita Bajpai, „Material Lives of Cold War Radio-pasts in India“, Historical Journal of Film, Radio and Television (erscheint 2023) habe ich den Werdegang solcher Objekte und ihre affektiven Bindungen zu den Radiohörern historisch aufbereitet.
[9] Interview mit Badri Prasad Verma Anjaan und Shakuntala Verma, 12.04.2022, Gola Bazaar, Gorakhpur, Uttar Pradesh.
[10] Interview mit Sabine Imhof, 31.07.2018, Berlin.
[11] Anandita Bajpai, ‘Objects of Love: Remembering Radio Berlin International in India’, Ibid.