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DDR
Gesundheitswesen
Gesundheit
Poliklinik
Krankenhaus
Versorgung
Betriebsgesundheitswesen
Prophylaxe

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„SOZIALISMUS IST DIE BESTE PROPHYLAXE!“

Das Gesundheitswesen der Deutschen Demokratischen Republik

ABSTRACT

Obwohl sie nur über 40 Jahre bestand, vermochte die Deut­sche Demo­kra­ti­sche Repu­blik (DDR) ein grund­sätz­lich ande­res Gesund­heits­we­sen aufzu­bauen. Die Schaf­fung sozia­lis­ti­scher Eigen­tums­ver­hält­nisse brachte dafür wesent­li­che Grund­vor­aus­set­zun­gen in Hinblick auf die Gesund­heits­po­li­tik mit sich. Fragen der Gesund­heit waren einheit­lich dem Staat und seinen demo­kra­ti­schen Entschei­dungs­struk­tu­ren unter­wor­fen und eine prophy­lak­ti­sche, das heißt krank­heits­vor­beu­gende Perspek­tive wurde zu einem leiten­den Anspruch.

 

Dieser Text behan­delt den allge­mei­nen Charak­ter des Gesund­heits­we­sens der DDR, der entlang einzel­ner zentra­ler Felder nach­ver­folgt werden soll. Der program­ma­ti­sche Titel „Der Sozia­lis­mus ist die beste Prophy­laxe!“ wird dem Arzt und Gesund­heits­po­li­ti­ker Maxim Zetkin (1883–1965) zuge­spro­chen. Seiner These wird in dem Text nach­ge­gan­gen, indem heraus­ge­stellt wird, welche Bedeu­tung der sozia­lis­ti­sche Charak­ter der DDR für den Aufbau des Gesund­heits­sys­tems nach dem Zwei­ten Welt­krieg hatte. Dabei werden die Entwick­lun­gen im Gesund­heits­we­sen der DDR in ihrem Verlauf beschrie­ben, der nicht frei von Schwie­rig­kei­ten und Wider­sprü­chen war. Die Erkennt­nisse aus dem Aufbau eines für alle Menschen zugäng­li­chen, wirk­sa­men Gesund­heits­we­sens im Rahmen der wirt­schaft­li­chen Ressour­cen können als Bezugs­rah­men für künf­tige Kämpfe um eine bessere Gesund­heits­ver­sor­gung auch inter­na­tio­nal dienen.

INHALTSVERZEICHNIS

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Der Prole­ta­ri­sche Gesund­heits­dienst (PGD) war ein von 1921 bis 1926 selbst­or­ga­ni­sier­ter Sani­täts­dienst. Er trat expli­zit poli­tisch auf und setzte die Tradi­tion der Sozi­al­hy­giene fort, indem er bspw. die Ernäh­rungs­si­tua­tion der Schul­kin­der und die Arbeits­kämpfe zur Beibe­hal­tung des Acht-Stun­den-Tages insbe­son­dere im Berg­bau und den chemi­schen Fabri­ken unter­stützte. Er trat für die Sozia­li­sie­rung der Gesund­heits­vor­sorge ein, orga­ni­sierte aber auch konkrete, prak­ti­sche Hilfe durch Schu­lun­gen und Ausbil­dun­gen im Bereich der Gesund­heits­pflege, Unfall­ver­hü­tung und Erste Hilfe und arbei­tete dabei eng mit der Arbei­ter­sport­be­we­gung zusammen.

„Da die volle Entfal­tung des Gesund­heits­we­sens erst in der sozia­lis­ti­schen Gesell­schaft gewähr­leis­tet sein wird, so gibt es doch auch für das demo­kra­ti­sche Deutsch­land einen Weg… Dieser Weg ist die Verstaat­li­chung des Gesund­heits­we­sens. Nur so kann sich der Arzt in wirt­schaft­lich siche­rer Stel­lung mit den vom Staat gewähr­ten Mitteln dem Kran­ken ganz widmen. Nur so können die Errun­gen­schaf­ten der medi­zi­ni­schen Wissen­schaft der gesam­ten Bevöl­ke­rung dienst­bar gemacht … werden. Die Erhal­tung der Gesund­heit und Leis­tungs­fä­hig­keit der Werk­tä­ti­gen ist eine der wich­tigs­ten Lebens­auf­ga­ben des Volkes und eine Voraus­set­zung für den Neuauf­bau … Daher muss der Gesund­heits­schutz eine Ange­le­gen­heit des Staa­tes und damit der Gesamt­heit des Volkes werden. Das Ziel muss ein, jedem den Schutz seiner Gesund­heit als der Grund­lage für Lebens­freude und Leis­tungs­fä­hig­keit zu sichern.“

  • 1945: Bildung der Zentral­ver­wal­tung für Gesund­heits­we­sen und der Gesund­heits­äm­ter (Befehl Nr. 17)
  • 1946: Aufhe­bung der Rassen­ge­setze und ande­rer nazis­ti­scher gesetz­li­cher Vorschrif­ten (Nr. 6); Befehl zur Tuber­ku­lo­se­be­kämp­fung (Nr. 297)
  • 1947: Einfüh­rung eines einheit­li­chen Systems der Sozi­al­ver­si­che­rung (Nr. 28); Aufbau eines Betriebs­ge­sund­heits­we­sens (Nr. 234); Befehl zum Aufbau von Ambu­lan­zen und Poli­kli­ni­ken (Nr. 272)

 

Weitere Befehle galten der Bekämp­fung einzel­ner Infek­ti­ons­krank­hei­ten, der Einrich­tung medi­zi­ni­scher und wissen­schaft­li­cher Einrich­tun­gen und Einzelfragen.

In einem Wohn­ge­biet nimmt die Bezirks­hy­giene-Inspek­tion Messun­gen der Lärm­be­las­tung vor, um Maßnah­men zu ihrer Minde­rung zu entwi­ckeln und umzu­set­zen. Die Sozial‑, Arbeits- und Kommu­nal­hy­giene war verant­wort­lich für die Siche­rung und Über­wa­chung der aus den allge­mei­nen Lebens­be­din­gun­gen und den Bedin­gun­gen am Arbeits­platz entste­hen­den gesund­heit­li­chen Anforderungen.

Arti­kel 35

 

(1) Jeder Bürger der Deut­schen Demo­kra­ti­schen Repu­blik hat das Recht auf Schutz seiner Gesund­heit und seiner Arbeitskraft.

 

(2) Dieses Recht wird durch die plan­mä­ßige Verbes­se­rung der Arbeits- und Lebens­be­din­gun­gen, die Pflege der Volks­ge­sund­heit, eine umfas­sende Sozi­al­po­li­tik, die Förde­rung der Körper­kul­tur, des Schul- und Volks­sports und der Touris­tik gewährleistet.

 

(3) Auf der Grund­lage eines sozia­len Versi­che­rungs­sys­tems werden bei Krank­heit und Unfäl­len mate­ri­elle Sicher­heit, unent­gelt­li­che ärzt­li­che Hilfe, Arznei­mit­tel und andere medi­zi­ni­sche Sach­leis­tun­gen gewährt.

Im Jahr 1950 gab es auf DDR-Gebiet 1.694 Apothe­ken, davon 1.266 in priva­ter Hand. 1989 waren es 2.002 staat­li­che und 24 private Apothe­ken. Die Leitung des Apothe­ken­we­sens erfolgte durch das Minis­te­rium für Gesund­heits­we­sen. Jedem der für die 15 Bezirke der DDR zustän­di­gen Bezirks­ärzte war je ein Bezirks­apo­the­ker zuge­ord­net. In den 229 Krei­sen war je ein Krei­s­apo­the­ker u.a. für die Kontrolle der Apothe­ken nach einheit­li­chen Gesichts­punk­ten verantwortlich.

„Besteht nicht (…) die wirk­li­che Frei­heit des Arztes darin, dass ihm die Mittel in die Hand gege­ben sind, die Gesund­heit jedes einzel­nen Bürgers ohne Begren­zung zu sichern? Durch den Aufbau des staat­li­chen Gesund­heits­we­sens sind die Ärzte nicht mehr mate­ri­ell am Krank­sein des Menschen inter­es­siert, sondern können tatsäch­lich als Hüter und Wahrer der Gesund­heit tätig werden.“

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Dr. Hein­rich Niemann erin­nert sich: „Als im Arbei­ter­stadt­be­zirk Prenz­lauer Berg in Berlin Anfang der 80er Jahre die große schöne Poli­kli­nik Dr. Karl Koll­witz gebaut wurde, war es nicht so, dass die im Bezirk bereits ansäs­si­gen Ärzte mit flie­gen­den Fahnen in die Poli­kli­nik gegan­gen sind. Natür­lich wuss­ten sie, in dem Moment, wo sie in so einem großen Haus arbei­ten, ist auch eine andere soziale Kontrolle, oder ein ande­rer Umgang mitein­an­der nötig. (…) Die Zusam­men­ar­beit zwischen thera­peu­ti­schen, reha­bi­li­ta­ti­ven und vorbeu­gen­den Maßnah­men, die ist aber nur so möglich. Das kann auch heute eine Praxis nur bedingt leisten.“
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Die Gemein­de­schwes­ter stellte eine hoch­qua­li­fi­zierte, aner­kannte Berufs­gruppe dar, die ihren Einzugs­be­reich und die Einwoh­ner und deren sozia­len Status gut kannte, wich­tige medi­zi­ni­sche Leis­tun­gen in der Regel mit einem Haus­be­such erle­digte, so Kontrol­len, Verbände, die Verab­rei­chung von Medi­ka­men­ten, auch von Injek­tio­nen. Sie veran­lass­ten, wenn erfor­der­lich, ärzt­li­che Hilfe.

§2 (4) Das Arbeits­recht ist darauf gerich­tet, die Arbeits- und Lebens­be­din­gun­gen der Werk­tä­ti­gen in den Betrie­ben plan­mä­ßig zu verbes­sern, insbe­son­dere den Schutz der Gesund­heit und Arbeits­kraft zu erhö­hen, die soziale und gesund­heit­li­che sowie geis­tig kultu­relle Betreu­ung auszu­bauen und die Voraus­set­zun­gen für die sinn­volle Frei­zeit­ge­stal­tung und Erho­lung der Werk­tä­ti­gen zu erwei­tern. Es garan­tiert den Werk­tä­ti­gen die mate­ri­elle Versor­gung bei Krank­heit, Inva­li­di­tät und im Alter.

 

§74 (3) Der Betrieb hat plan­mä­ßig gesund­heits­ge­fähr­dende Arbeits­be­din­gun­gen an den Arbeits­plät­zen zu vermin­dern und die Anzahl der Arbeits­plätze mit körper­lich schwe­ren sowie einsei­tig belas­ten­den Arbei­ten einzuschränken.

 

§201. (1) Der Betrieb ist verpflich­tet, den Schutz der Gesund­heit und Arbeits­kraft der Werk­tä­ti­gen vor allem durch die Gestal­tung und Erhal­tung siche­rer, erschwer­nis­freier sowie die Gesund­heit und Leis­tungs­fä­hig­keit fördern­der Arbeits­be­din­gun­gen zu gewährleisten.

 

§207. Werk­tä­tige, die eine körper­lich schwere oder gesund­heits­ge­fähr­dende Arbeit über­neh­men sollen, sind vor Aufnahme der Tätig­keit und in regel­mä­ßi­gen Abstän­den entspre­chend den Rechts­vor­schrif­ten ärzt­lich zu unter­su­chen. Das glei­che gilt für Werk­tä­tige, die eine Tätig­keit ausüben, für die die stän­dige gesund­heit­li­che Über­wa­chung in Rechts­vor­schrif­ten fest­ge­legt ist. Die Unter­su­chun­gen sind für die Werk­tä­ti­gen kostenlos.

 

§293. (1) Die Kontrolle über den Gesund­heits- und Arbeits­schutz in den Betrie­ben wird vom Freien Deut­schen Gewerk­schafts­bund durch die Arbeits­schutz­in­spek­tio­nen ausgeübt. 

Eine Arbeits­hy­gie­neinspek­tion misst Lärm‑, Temperatur‑, Feuch­tig­keits- und Licht­ver­hält­nisse. Mit der seit 1981 einge­führ­ten umfas­sen­den Berichts­pflicht über die gesund­heit­lich expo­nier­ten Arbeits­plätze und ihren Abbau entstand eine solide Daten­grund­lage für die Kontrolle, den Schutz und die gezielte Betreu­ung der betrof­fe­nen Beschäf­tig­ten und zugleich für eine stär­kere Einfluss­nahme auf Poli­tik und Betriebe, diese schäd­li­chen Wirkun­gen abzu­bauen und möglichst zu vermeiden.
Kinder­ärzt­li­che Unter­su­chung im Land­am­bu­la­to­rium: Neben dem recht­zei­ti­gen Erken­nen von gesund­heit­li­chen Auffäl­lig­kei­ten war auch die Fest­stel­lung der Schul­fä­hig­keit Teil der Vorsorge- und Reihen­un­ter­su­chun­gen. Eine Doku­men­ta­tion all dieser Befunde und Daten zur Gesund­heit und Entwick­lung beglei­tete ein Kind von der Geburt bis zur Schul­ent­las­sung. Die Doku­men­ta­tion befand sich vertrau­lich in ärzt­li­cher Hand.
In der DDR wurden strenge Norma­tive für den Betreu­ungs­ab­lauf, den Bau und die dazu­ge­hö­ren­den Frei­flä­chen von Kinder­ein­rich­tun­gen entwi­ckelt und durch­ge­setzt. So verfüg­ten z.B. die neuge­bau­ten Einrich­tun­gen in den großen Wohnungs­neu­bau­ge­bie­ten wie hier in Rostock über große Freiflächen.
Das Impfen erfolgte als selbst­ver­ständ­li­cher Teil der regel­mä­ßi­gen Reihen­un­ter­su­chun­gen von der Geburt bis ins Erwach­se­nen­al­ter sowie der medi­zi­ni­schen Betreu­ung der Kinder in den Krip­pen, Kinder­gär­ten, Schu­len und Feri­en­la­gern bis hin zur Lehr­aus­bil­dung oder zum Studium. Hier wird erst­ma­lig ein neuer Impf­stoff gegen Kinder­läh­mung in Form von Trop­fen eingesetzt.
Nach einer Welle der inter­na­tio­na­len Aner­ken­nung insbe­son­dere durch die Länder des Globa­len Südens wurde die DDR 1973 in die UNO aufge­nom­men und wirkte konstruk­tiv in deren Gremien und in Orga­ni­sa­tio­nen wie der UNESCO und WHO mit.
Was zunächst als Zelt­la­za­rett star­tete, wurde schließ­lich zu einem Kran­ken­haus ausge­baut: In der nika­ra­gua­ni­schen Presse wird über die Fort­schritte bei der Errich­tung des „Hospi­tal Carlos Marx“ berich­tet. Das Kran­ken­haus, dessen Bau und Ausstat­tung mit Tech­nik, Perso­nal und Medi­ka­men­ten durch Spen­den­gel­der von DDR-Bürge­rin­nen und ‑Bürgern finan­ziert wurde, gilt als eines der größ­ten Soli­da­ri­täts­pro­jekte der DDR.
Ein Schwer­punkt der Ausbil­dung an der medi­zi­ni­schen Fach­schule „Doro­thea Chris­tiane Erxle­ben“ (benannt nach der ersten deut­schen promo­vier­ten Ärztin) bildete die Medi­zin­päd­ago­gik. Durch sie soll­ten die Studie­ren­den befä­higt werden, Wissen an Auszu­bil­dende in ihren Heimat­län­dern zu vermit­teln und so den Aufbau eines eige­nen Gesund­heits­we­sens vor Ort voranbringen.

„1993 kam die Zeit, als die Ärzte anfin­gen sich nieder­zu­las­sen. Meine Ärztin hatte ihren ersten Lehr­gang zum Selb­stän­dig­ma­chen. Sie sagte: „Ich muss jetzt mal erzäh­len, was ich gelernt habe: Es gibt drei Sachen, um mit der Selb­stän­dig­keit im neuen System zurecht­zu­kom­men. Erstens, wir müssen zu den Pati­en­ten immer lieb und nett sein, dass sie gerne zu uns kommen. Kein Problem, das sind wir doch immer. Das nächste ist aber wich­tig: Was können wir an dem Mann verdie­nen, was bringt er uns ein? Das dritte: Gesund werden darf er nicht.“ Und das ist mein durch­gän­gi­ges Gefühl im Gesund­heits­we­sen heute. Das sagt alles.“

INHALTSVERZEICHNIS

1. Gesundheit in einem kranken System

Die Art, wie eine Gesell­schaft mit Fragen der Gesund­heit umgeht, gibt einen guten Eindruck von ihrem allge­mei­nen Charak­ter. Mit welcher Rele­vanz und Prio­ri­tät die gesund­heit­li­chen Lebens­be­din­gun­gen der Menschen geschützt werden, inwie­fern alle Menschen dabei glei­cher­ma­ßen bedacht sind und sich die Gesund­heits­ver­sor­gung nach den realen Bedürf­nis­sen der Menschen rich­tet, zeich­net ein Bild von den gege­be­nen sozia­len und poli­ti­schen Verhältnissen.

 

Gesund­heits­po­li­tik ist dabei nicht auf den medi­zi­ni­schen Bereich und das Gesund­heits­we­sen allein redu­zier­bar. Arbeits­be­din­gun­gen, Ernäh­rung, Wohn­ver­hält­nisse, Bildung, der Charak­ter der sozia­len Bezie­hun­gen, Frei­zeit- und Kultur­ver­hal­ten und vieles weitere mehr bilden die Grund­lage für die Entfal­tung der physi­schen und psychi­schen Gesund­heit der Menschen, im Posi­ti­ven wie im Nega­ti­ven. Dieser Zusam­men­hang wird in Deutsch­land bereits in der frühen Entwick­lung des Kapi­ta­lis­mus disku­tiert. Beispiel­haft dafür steht der deut­sche Arzt und Begrün­der der moder­nen Patho­lo­gie und Mitbe­grün­der der Sozi­al­hy­giene Rudolf Virchow (1821–1902). Die Sozi­al­hy­giene war ein Zweig der Wissen­schaft, der heute mit den Begrif­fen der Sozi­al­me­di­zin oder Public Health verknüpft ist und die Wech­sel­wir­kung zwischen gesund­heit­li­cher Lage und sozia­len Verhält­nis­sen unter­sucht. Auch Fried­rich Engels belegt in seiner frühen Schrift über die Lage der arbei­ten­den Klasse in England diesen Zusammenhang.

„Alle mögli­chen Übel werden auf das Haupt der Armen gehäuft. Ist die Bevöl­ke­rung der Stadt über­haupt schon zu dicht, so werden sie erst recht auf einen klei­nen Raum zusam­men­ge­drängt. (…) Man gibt ihnen feuchte Wohnun­gen, Keller­lö­cher, die von unten, oder Dach­kam­mern, die von oben nicht wasser­dicht sind. Man gibt ihnen schlechte, zerlumpte oder zerlum­pende Klei­der und schlechte, verfälschte und schwer­ver­dau­li­che Nahrungs­mit­tel. (…) Und wenn das alles nicht hilft, wenn sie das alles über­ste­hen, so fallen sie der Brot­lo­sig­keit einer Krisis zum Opfer, in der ihnen auch das wenige entzo­gen wird, was man ihnen bisher noch gelas­sen hatte. Wie ist es möglich, dass unter solchen Umstän­den die ärmere Klasse gesund sein und lange leben kann? Was lässt sich da ande­res erwar­ten als eine über­mä­ßige Propor­tion von Ster­be­fäl­len, eine fort­wäh­rende Exis­tenz von Epide­mien, eine sicher fort­schrei­tende körper­li­che Schwä­chung der arbei­ten­den Generation?”

Im Kapi­ta­lis­mus muss sich der Gesund­heits­schutz im stän­di­gen Kampf gegen­über wirt­schaft­li­chen Inter­es­sen legi­ti­mie­ren oder behaup­ten. Maßnah­men und Einrich­tun­gen der öffent­li­chen Gesund­heits­ver­sor­gung werden wesent­lich von den Gesamt­in­ter­es­sen der Privat­wirt­schaft bestimmt oder müssen gegen sie erkämpft werden. Wach­sende Teile der Versor­gung werden im Sinne einer markt­wirt­schaft­li­chen Wirt­schafts­weise umgestaltet.

 

Die Corona-Pande­mie hat dies in verschärf­ter Form vorge­führt und offen­bart in dras­ti­scher Weise die gravie­ren­den Mängel und unge­lös­ten Schwie­rig­kei­ten des gegen­wär­tig domi­nie­ren­den Gesund­heits­sys­tems: Klare, medi­zi­nisch begrün­dete staat­li­che Hand­lungs­struk­tu­ren fehlen, eine soli­da­ri­sche Formie­rung aller Teile der Gesell­schaft wird vor allem durch Inter­es­sen der Wirt­schaft und auf Kosten der sozia­len und kultu­rel­len Infra­struk­tur blockiert. Tote werden von Vertre­te­rin­nen und Vertre­tern der Poli­tik und Wirt­schaft ganz scham­los gegen ökono­mi­sche Schä­den abge­wo­gen. Ärmere Teile der Bevöl­ke­rung sind auf Grund ihrer Lebens- und Arbeits­be­din­gun­gen welt­weit am stärks­ten von der Pande­mie getrof­fen. Der Zugang zu Impf­stof­fen und Medi­ka­men­ten bleibt ihnen im inter­na­tio­na­len Maßstab viel­fach verwehrt. Der Schutz des Patent­rechts hat höhe­ren Rang als die umfas­sende Versor­gung der Menschen. Insbe­son­dere Bevöl­ke­run­gen im Globa­len Süden gehen dabei leer aus.

 

Das insge­samt leis­tungs­fä­hige Niveau der Gesund­heits­sys­teme im Globa­len Norden wird als Über­le­gen­heit des Systems verkauft, dabei werden weder seine Poten­tiale ausge­schöpft, noch ist dieses Leis­tungs­ni­veau allein der Wirt­schafts­kraft oder posi­ti­ven medi­zi­ni­schen Tradi­tio­nen geschul­det. Es sind die über Jahr­zehnte durch­ge­setz­ten sozia­len Forde­run­gen der Gewerk­schaf­ten und ande­rer demo­kra­ti­scher Kräfte, die Mindest­stan­dards und eine Grund­ver­sor­gung erkämp­fen und durch­set­zen konn­ten und heute perma­nent vertei­di­gen müssen. Es sind auch die Ärztin­nen und Ärzte sowie Gesund­heits­ar­bei­te­rin­nen und ‑arbei­ter aus ande­ren Ländern, ob im Nied­rig­lohn­be­reich oder beim Fach­per­so­nal, die zur Leis­tungs­fä­hig­keit des Gesund­heits­we­sens beitra­gen. Ihr Abzug aus wirt­schaft­lich schwach gehal­te­nen Regio­nen sowie die anhal­tende Ausbeu­tung des Globa­len Südens verschärft die Ungleich­heit in der Entwick­lung zwischen Nord und Süd.

„Das Gesund­heits­we­sen ist – anstatt ein bere­chen­ba­res System darzu­stel­len – zu einem Misch­masch von körper­schaft­li­chen Lebens­gü­tern gewor­den, deren zentra­les Anlie­gen es ist, die Profi­ta­bi­li­tät für Inves­to­ren von Wagnis­ka­pi­tal so ertrag­reich wie möglich zu gestal­ten. Ein profit­ori­en­tier­tes Gesund­heits­we­sen verlangt vom Arzt, dass er als eine Art Torhü­ter agiere, der über Zutei­lung oder Ableh­nung einer Kran­ken­ver­sor­gung befinde. Ein profit­ori­en­tier­tes Gesund­heits­we­sen ist ein Oxymo­ron, ein Wider­spruch in sich. In dem Augen­blick, in dem die Fürsorge dem Profit dient, hat sie die wahre Fürsorge verloren.“

Gerade in wirt­schaft­lich star­ken Ländern verfes­tigt sich der privat­ka­pi­ta­lis­ti­sche Sektor des Gesund­heits­we­sens, werden Gesund­heit und Krank­heit immer stär­ker zur Ware und damit dem Zweck des Profits unter­ge­ord­net. In der Bundes­re­pu­blik beginnt die zuneh­mende Kommer­zia­li­sie­rung insbe­son­dere des statio­nä­ren Bereichs in der Mitte der 1980er Jahre. Seit 1991 hat sich der Anteil priva­ter Kran­ken­häu­ser und ‑betten in Deutsch­land massiv erhöht. Diese allge­meine Entwick­lung bekam mit der Einfüh­rung der soge­nann­ten Fall­pau­scha­len im Jahr 2003 zusätz­lich Auftrieb. Das damit einge­führte Abrech­nungs­sys­tem hat dazu geführt, dass über Behand­lun­gen und Dauer des Kran­ken­haus­auf­ent­hal­tes nicht allein nach medi­zi­ni­schen Krite­rien entschie­den wird, sondern immer deut­li­cher danach, was sich gewinn­brin­gend abrech­nen lässt. Damit wurde die Gesund­heits­ver­sor­gung nicht auf‑, sondern abge­baut. Es verstärkt sich für Pati­en­tin­nen und Pati­en­ten die Abhän­gig­keit vom Einkom­men, der öffent­li­che Gesund­heits­dienst wird vernach­läs­sigt, das Profit­in­ter­esse von Medi­zin- und Phar­ma­kon­zer­nen erschwert eine gleich­be­rech­tigte inter­na­tio­nale Zusammenarbeit.

 

Der Antago­nis­mus von privat­wirt­schaft­li­chen Inter­es­sen und einer gesamt­ge­sell­schaft­lich wirk­sa­men Gesund­heits­ver­sor­gung wurde in der Deut­schen Demo­kra­ti­schen Repu­blik bereits in ihrer Anfangs­zeit erkannt. In den 40 Jahren ihres Bestehens vermochte die DDR ein grund­sätz­lich ande­res Gesund­heits­we­sen aufzu­bauen. Aus einer wirt­schaft­lich stark benach­tei­lig­ten Posi­tion heraus konnte die DDR schließ­lich mit ihren zuletzt gut 16 Mio. Einwoh­ne­rin­nen und Einwoh­nern, ihrem Wirt­schafts­pro­dukt und ihrem sozia­len Lebens­ni­veau zu den 20 größ­ten Indus­trie­staa­ten der Welt gezählt werden und beein­dru­ckende Erfolge auf dem Gebiet der Gesund­heit vorwei­sen. Was die gesund­heit­li­che Lage der Bevöl­ke­rung und die Leis­tun­gen des Gesund­heits­we­sens der DDR am Ende ihres Bestehens angeht, wies sie bei wich­ti­gen inter­na­tio­na­len Vergleichs­zif­fern gute, ja in einzel­nen Para­me­tern Spit­zen­werte auf, beispiels­weise bei der Ärzte­dichte, in der Bekämp­fung der Säug­lings­sterb­lich­keit und der Tuber­ku­lo­se­be­kämp­fung, die auch die WHO schätzte. Und das, obwohl der bauli­che Zustand manches Kran­ken­hau­ses schlecht war, Verbrauchs­ma­te­ria­lien knapp waren und es Engpässe bei einzel­nen Import­me­di­ka­men­ten oder moder­ner Medi­zin­tech­nik gab. Wesent­lich beein­flusst wurde das durch die wirt­schaft­li­chen Sank­tio­nen des Westens, die manche Entwick­lung erschwerten.
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Dass es in der DDR gelun­gen ist, solch gute Ergeb­nisse zu erzie­len, hängt neben dem Einfluss fort­schritt­li­cher Gesund­heits­kon­zepte aus dem 19. Jahr­hun­dert und der Zeit der Weima­rer Repu­blik (1918–1933) mit der Umwäl­zung der wirt­schaft­li­chen und poli­ti­schen Verhält­nisse in der DDR zusam­men. Zum einen schu­fen diese die Möglich­keit für ein neues Heran­ge­hen in Hinblick auf die Ziel­stel­lung und Gestal­tung des Gesund­heits­we­sens. Zum ande­ren blie­ben die weite­ren Verän­de­run­gen in den Arbeits- und Lebens­be­din­gun­gen der Menschen selbst nicht ohne Einfluss auf den Gesund­heits­zu­stand der Bevölkerung.

 

Dieser Text behan­delt den allge­mei­nen Charak­ter des Gesund­heits­we­sens der DDR, der entlang einzel­ner zentra­ler Felder nach­ver­folgt werden soll. Der program­ma­ti­sche Titel „Der Sozia­lis­mus ist die beste Prophy­laxe!“ wird dem Arzt und Gesund­heits­po­li­ti­ker Maxim Zetkin (1883–1965) zuge­spro­chen. Zetkin, Sohn der inter­na­tio­na­len Frau­en­recht­le­rin und Kommu­nis­tin Clara Zetkin (1857–1933), spielte eine wich­tige Rolle beim Aufbau des DDR-Gesund­heits­we­sens. Dieser These von Zetkin wird in diesem Text nach­ge­gan­gen, indem heraus­ge­stellt wird, welche Bedeu­tung der sozia­lis­ti­sche Charak­ter der DDR für den Aufbau des Gesund­heits­sys­tems nach dem Zwei­ten Welt­krieg hatte. Dabei werden die Entwick­lun­gen im Gesund­heits­we­sen der DDR in ihrem Verlauf beschrie­ben, der nicht frei von Schwie­rig­kei­ten und Wider­sprü­chen war. Die Erkennt­nisse aus dem Aufbau eines für alle Menschen zugäng­li­chen, wirk­sa­men Gesund­heits­we­sens im Rahmen der wirt­schaft­li­chen Ressour­cen können als Bezugs­rah­men für künf­tige Kämpfe um eine bessere Gesund­heits­ver­sor­gung auch inter­na­tio­nal dienen.

2. Historische Ausgangsbedingungen

Vor dem Hinter­grund der Indus­tria­li­sie­rung im Deut­schen Kaiser­reich (1871–1918) waren für das städ­ti­sche Prole­ta­riat verhee­rende soziale und gesund­heit­li­che Zustände entstan­den. Der revo­lu­tio­nä­ren Sozi­al­de­mo­kra­tie gelang es 1883, die Einfüh­rung einer sozia­len Kran­ken­ver­si­che­rung zu erkämp­fen. Bis heute wird Otto von Bismarck, dama­li­ger deut­scher Reichs­kanz­ler, als welt­wei­ter Vorrei­ter eines staat­li­chen Sozi­al­sys­tems erin­nert, das in Wirk­lich­keit von Arbei­te­rin­nen und Arbei­tern hart erkämpft wurde, denen die Regie­rung Zuge­ständ­nisse machen musste. Bismarck machte nie einen Hehl daraus, dass es ihm um die Zurück­drän­gung des poli­ti­schen Einflus­ses der sozia­lis­ti­schen Arbei­ter­be­we­gung ging. So sagte er während einer Sitzung des Reichs­tags: „Wenn es keine Sozi­al­de­mo­kra­tie gäbe und wenn nicht eine Menge Leute sich vor ihr fürch­te­ten, würden die mäßi­gen Fort­schritte, die wir über­haupt in der Sozi­al­re­form bisher gemacht haben, auch noch nicht exis­tie­ren […].“ Die Einfüh­rung einer Versi­che­rung, die Teile der Behand­lungs­kos­ten im Krank­heits­fall über­nimmt, bedeu­tete einen Fort­schritt, auch wenn die Arbeits­be­din­gun­gen selbst nicht verbes­sert wurden und zwei Drit­tel der Versi­che­rungs­bei­träge von den Arbei­te­rin­nen und Arbei­tern selbst zu leis­ten waren. In der Folge bilde­ten sich in der Zeit der Weima­rer Repu­blik um die Sozi­al­de­mo­kra­ti­sche und die Kommu­nis­ti­sche Partei Deutsch­lands (SPD und KPD) Struk­tu­ren einer selbst­or­ga­ni­sier­ten Gesund­heits­ver­sor­gung wie z.B. der Prole­ta­ri­sche Gesund­heits­dienst. Sie stell­ten mit Nach­druck die Forde­rung zum weite­ren Ausbau der öffent­li­chen Gesundheitspflege.

Der Prole­ta­ri­sche Gesund­heits­dienst (PGD) war ein von 1921 bis 1926 selbst­or­ga­ni­sier­ter Sani­täts­dienst. Er trat expli­zit poli­tisch auf und setzte die Tradi­tion der Sozi­al­hy­giene fort, indem er bspw. die Ernäh­rungs­si­tua­tion der Schul­kin­der und die Arbeits­kämpfe zur Beibe­hal­tung des Acht-Stun­den-Tages insbe­son­dere im Berg­bau und den chemi­schen Fabri­ken unter­stützte. Er trat für die Sozia­li­sie­rung der Gesund­heits­vor­sorge ein, orga­ni­sierte aber auch konkrete, prak­ti­sche Hilfe durch Schu­lun­gen und Ausbil­dun­gen im Bereich der Gesund­heits­pflege, Unfall­ver­hü­tung und Erste Hilfe und arbei­tete dabei eng mit der Arbei­ter­sport­be­we­gung zusammen.

Während des deut­schen Faschis­mus (1933–1945) wurde die Medi­zin von den Nazis für die Durch­set­zung der rassis­ti­schen und anti­se­mi­ti­schen Ideo­lo­gie von vermeint­lich minder­wer­ti­gen Menschen miss­braucht und in nie gekann­tem Ausmaß für Verbre­chen gegen diese einge­setzt. Nach dem Ende des von Deutsch­land verur­sach­ten Zwei­ten Welt­krie­ges entstand eine kata­stro­phale gesund­heit­li­che Situa­tion. Sie zeigte, wie Kriege auch lange nach dem Ende von mili­tä­ri­schen Ausein­an­der­set­zun­gen noch viele zusätz­li­che Opfer erzeu­gen, etwa durch Seuchen, Krank­hei­ten und Verlet­zun­gen. In der dama­li­gen sowje­ti­schen Besat­zungs­zone waren die Kran­ken­häu­ser, viele Heil­stät­ten und das gesamte Gesund­heits­we­sen zerstört. Die Versor­gung mit Medi­ka­men­ten stockte. Seuchen traten auf, zusätz­lich verschärft durch die große Zahl Geflüch­te­ter und Umge­sie­del­ter. Die Univer­si­tä­ten waren geschlos­sen, die Ärzte­aus­bil­dung unter­bro­chen. An Tuber­ku­lose star­ben nun doppelt so viele Menschen wie vor dem Krieg. Typhus, Cholera, Ruhr, Geschlechts­krank­hei­ten und die soge­nann­ten Kinder­krank­hei­ten verbrei­te­ten sich. Im Vergleich zum Vorkriegs­zu­stand hatte sich die Zahl der Ärzte und Ärztin­nen halbiert, nicht wenige gingen in die west­li­chen Besat­zungs­zo­nen. Etwa 45 % aller Ärzte und Ärztin­nen waren Mitglied der Nazi­par­tei gewe­sen, eine Reihe von ihnen in faschis­ti­sche Verbre­chen der Eutha­na­sie oder in Konzen­tra­ti­ons­la­gern verwi­ckelt. Eine poli­tisch und mora­lisch sehr schwie­rige Frage war der Umgang mit denje­ni­gen Ärzten und Ärztin­nen und ande­ren Gesund­heits­be­ru­fen, die als Mitglie­der der Nazi­par­tei das faschis­ti­sche System mitge­tra­gen hatten. Ein diffe­ren­zier­tes und zugleich prag­ma­ti­sches Vorge­hen wurde gesucht. Eine pauschale Entlas­sung aus ihrer beruf­li­chen Tätig­keit, wie etwa bei Rich­tern oder Lehre­rin­nen und Lehrern aus gutem Grund prak­ti­ziert, kam schon wegen der gesund­heit­li­chen Lage nicht in Frage. So wurde den Ärzten und Ärztin­nen, die sich keiner Verbre­chen schul­dig gemacht hatten, ihre weitere Arbeit ermög­licht. Nicht wenige stell­ten sich später voll für das neue Gesund­heits­we­sen zur Verfügung.

Für die nach dem Ende des Krie­ges mit der Verwal­tung beauf­trag­ten Ärztin­nen und Ärzte und ande­ren Gesund­heits­ar­bei­ter, von denen viele aus dem Wider­stand, der Emigra­tion oder aus sowje­ti­scher Kriegs­ge­fan­gen­schaft kamen, gaben die Beschlüsse der alli­ier­ten Sieger­mächte (Pots­da­mer Abkom­men 1945), die vorge­fun­dene Lage und die zuge­las­se­nen poli­ti­schen Parteien Orien­tie­rung. Auch wenn während der Pots­da­mer Konfe­renz mehr oder weni­ger noch Konsens bei allen Besat­zungs­mäch­ten über die notwen­dige Zerstö­rung der Nazi­struk­tu­ren, die Enteig­nung oder mindes­tens Entflech­tung der kapi­ta­lis­ti­schen Mono­pol­wirt­schaft bestand, wurden die Beschlüsse nur in der sowje­tisch besetz­ten Zone (SBZ) konse­quent umge­setzt. Im Hinblick auf die Notwen­dig­keit neuer Struk­tu­ren beson­ders in der ambu­lan­ten Medi­zin stellte die 1946 aus der Verei­ni­gung von KPD und SPD hervor­ge­gan­gene Sozia­lis­ti­sche Einheits­par­tei Deutsch­lands (SED) sozial- und gesund­heits­po­li­ti­sche Programme auf, die sich in hohem Maße auf die linken Forde­run­gen und die in vielen Kommu­nen schon prak­ti­zier­ten Erfah­run­gen der Zeit der Weima­rer Repu­blik stützten.

„Da die volle Entfal­tung des Gesund­heits­we­sens erst in der sozia­lis­ti­schen Gesell­schaft gewähr­leis­tet sein wird, so gibt es doch auch für das demo­kra­ti­sche Deutsch­land einen Weg… Dieser Weg ist die Verstaat­li­chung des Gesund­heits­we­sens. Nur so kann sich der Arzt in wirt­schaft­lich siche­rer Stel­lung mit den vom Staat gewähr­ten Mitteln dem Kran­ken ganz widmen. Nur so können die Errun­gen­schaf­ten der medi­zi­ni­schen Wissen­schaft der gesam­ten Bevöl­ke­rung dienst­bar gemacht … werden. Die Erhal­tung der Gesund­heit und Leis­tungs­fä­hig­keit der Werk­tä­ti­gen ist eine der wich­tigs­ten Lebens­auf­ga­ben des Volkes und eine Voraus­set­zung für den Neuauf­bau … Daher muss der Gesund­heits­schutz eine Ange­le­gen­heit des Staa­tes und damit der Gesamt­heit des Volkes werden. Das Ziel muss ein, jedem den Schutz seiner Gesund­heit als der Grund­lage für Lebens­freude und Leis­tungs­fä­hig­keit zu sichern.“

Es galt nun, ein funk­tio­nie­ren­des Gesund­heits­we­sen aufzu­bauen. Zentrale und grund­le­gende Forde­rung war die Verstaat­li­chung der Einrich­tun­gen des Gesund­heits­we­sens, verbun­den mit einem später in den Verfas­sun­gen der DDR veran­ker­ten Recht auf den Schutz der Gesund­heit, kosten­lose medi­zi­ni­sche Behand­lung bei einer Gesetz­li­chen Kran­ken­ver­si­che­rung und dem Grund­satz, den Schutz der Gesund­heit als Aufgabe der gesam­ten Gesell­schaft zu begrei­fen. Die wirk­same Tren­nung medi­zi­ni­scher Erfor­der­nisse von Kapi­tal­in­ter­es­sen der Wirt­schaft war ein entschei­den­der zentra­ler Gedanke dabei. Beson­ders bei tradi­tio­nell privat nieder­ge­las­se­nen Ärztin­nen und Ärzten wurde erkannt, dass ihr damit objek­tiv verbun­de­nes Unter­neh­mer­tum der fort­schrei­ten­den Entwick­lung der Medi­zin zuwi­der­läuft. Eine Erkennt­nis, die schon im „Völker­bund“ – einer nach dem 1. Welt­krieg gegrün­de­ten inter­na­tio­na­len Staa­ten­ver­ei­ni­gung, Vorläu­fer der UNO – formu­liert worden war.

In der Zeit von 1945 bis zur Grün­dung der DDR erfolg­ten gesund­heits­po­li­ti­sche Entschei­dun­gen in der sowje­ti­schen Besat­zungs­zone beson­ders in Form von insge­samt etwa 30 Befeh­len der Sowje­ti­schen Mili­tär­ad­mi­nis­tra­tion (SMAD) und wurden von der deut­schen Wirt­schafts­kom­mis­sion der SBZ, der neu geschaf­fe­nen Zentral­ver­wal­tung für Gesund­heits­we­sen, den fünf Landes­re­gie­run­gen und deren Gesund­heits­ver­wal­tun­gen umgesetzt.

  • 1945: Bildung der Zentral­ver­wal­tung für Gesund­heits­we­sen und der Gesund­heits­äm­ter (Befehl Nr. 17)
  • 1946: Aufhe­bung der Rassen­ge­setze und ande­rer nazis­ti­scher gesetz­li­cher Vorschrif­ten (Nr. 6); Befehl zur Tuber­ku­lo­se­be­kämp­fung (Nr. 297)
  • 1947: Einfüh­rung eines einheit­li­chen Systems der Sozi­al­ver­si­che­rung (Nr. 28); Aufbau eines Betriebs­ge­sund­heits­we­sens (Nr. 234); Befehl zum Aufbau von Ambu­lan­zen und Poli­kli­ni­ken (Nr. 272)

 

Weitere Befehle galten der Bekämp­fung einzel­ner Infek­ti­ons­krank­hei­ten, der Einrich­tung medi­zi­ni­scher und wissen­schaft­li­cher Einrich­tun­gen und Einzelfragen.

Die Erfah­run­gen der Sowjet­union spiel­ten eine wich­tige Rolle, nicht nur weil sie Besat­zungs­macht war. Das sowje­ti­sche Gesund­heits­sys­tem hatte sich bei seinem Aufbau stark an den sozi­al­hy­gie­ni­schen und gesund­heits­po­li­ti­schen Posi­tio­nen der deut­schen Linken der Weima­rer Repu­blik orien­tiert. Nach der Revo­lu­tion von 1917 und dem Bürger­krieg 1917 bis 1922 baute die junge Sowjet­union als erster Staat in der Welt­ge­schichte ein Gesund­heits­sys­tem auf, das den allge­mei­nen freien Zugang der gesam­ten Bevöl­ke­rung zur Gesund­heits­ver­sor­gung garan­tierte. Mit dem von Niko­lai Semaschko (von 1918 bis 1930 Volks­kom­mis­sar für Gesund­heit) einge­führ­ten Modell wurden die medi­zi­ni­schen Einrich­tun­gen und Leis­tun­gen komplett staat­lich finan­ziert und zentral­staat­lich gelei­tet als ein mehr­stu­fi­ges System aus Kran­ken­häu­sern auf Land‑, Landkreis‑, Stadt‑, Regi­ons-Ebene, ergänzt durch Spezi­al­kli­ni­ken und Sana­to­rien. Das Recht auf kosten­lose medi­zi­ni­sche Versor­gung wurde in der sowje­ti­schen Verfas­sung von 1936 als eines der Grund­rechte des sowje­ti­schen Volkes veran­kert. Das sowje­ti­sche Gesund­heits­sys­tem stand Pate für die Umge­stal­tung des Gesund­heits­we­sens in der Sowje­ti­schen Besat­zungs­zone, wurde jedoch nicht 1 zu 1 über­nom­men und unter­schied sich beispiels­weise im Grad der zentra­len Orga­ni­sa­tion, aber auch in der nicht rein staat­li­chen Finan­zie­rung. Das DDR-Gesund­heits­we­sen stand auf drei finan­zi­el­len Säulen: Beiträ­gen aus der Sozi­al­ver­si­che­rung, staat­li­chen Subven­tio­nen zur Sozi­al­ver­si­che­rung und Mitteln aus dem Staatshaushalt.

3. Gesellschaftliches Konzept und Struktur des DDR-Gesundheitswesens

„Die Gesund­heits­po­li­tik wurde in der DDR als Gesamt­heit der ideo­lo­gisch-kultu­rel­len, wirt­schaft­li­chen, sozia­len und medi­zi­ni­schen Maßnah­men verstan­den, konzi­piert und inner­halb der staat­li­chen und gesell­schaft­li­chen Berei­che in unter­schied­li­cher Inten­si­tät und Quali­tät mit dem Ziel prak­ti­ziert, die äuße­ren Bedin­gun­gen des Lebens der Bevöl­ke­rung gesund­heits­er­hal­tend gestal­ten zu helfen und zu opti­mie­ren, mehr Gesund­heit herbei­zu­füh­ren, den kran­ken Menschen in Anwen­dung der Erkennt­nisse und Erfah­rung der moder­nen Medi­zin erfolg­reich zu behan­deln und zu betreuen sowie den unver­meid­ba­ren Tod immer mehr zurückzudrängen.“

Die Schaf­fung sozia­lis­ti­scher Eigen­tums­ver­hält­nisse in der DDR brachte wesent­li­che Grund­vor­aus­set­zun­gen in Hinblick auf die Gesund­heits­po­li­tik mit sich. Fragen der Gesund­heit waren damit einheit­lich dem Staat und seinen demo­kra­ti­schen Entschei­dungs­struk­tu­ren unter­wor­fen. Eine prophy­lak­ti­sche, das heißt krank­heits­vor­beu­gende Perspek­tive wurde zu einem leiten­den Anspruch. Gesund­heits­schäd­li­che Bedin­gun­gen in den Lebens- und Arbeits­ver­hält­nis­sen der Menschen soll­ten erkannt und nach Möglich­keit bekämpft werden. Damit knüpfte die DDR an die Tradi­tio­nen der Sozi­al­hy­giene an und förderte diesen poli­ti­schen und gesamt­ge­sell­schaft­li­chen Blick auf die Gesund­heit mit eige­nen wissen­schaft­li­chen Struk­tu­ren für die Sozial‑, Arbeits‑, und Kommu­nal­hy­giene. Insbe­son­dere die Ausrich­tung auf den Gesund­heits­schutz in den Betrie­ben und für Kinder und Jugend­li­che sowie auf ein moder­nes Konzept der ambu­lan­ten Versor­gung – das poli­kli­ni­sche Prin­zip – brin­gen diesen einheit­li­chen und gesamt­ge­sell­schaft­li­chen Charak­ter des Gesund­heits­we­sens poin­tiert zum Ausdruck.

In einem Wohn­ge­biet nimmt die Bezirks­hy­giene-Inspek­tion Messun­gen der Lärm­be­las­tung vor, um Maßnah­men zu ihrer Minde­rung zu entwi­ckeln und umzu­set­zen. Die Sozial‑, Arbeits- und Kommu­nal­hy­giene war verant­wort­lich für die Siche­rung und Über­wa­chung der aus den allge­mei­nen Lebens­be­din­gun­gen und den Bedin­gun­gen am Arbeits­platz entste­hen­den gesund­heit­li­chen Anforderungen.

Es ergab sich folge­rich­tig, auch die Einrich­tun­gen des Gesund­heits­we­sens selbst als staat­li­ches Eigen­tum zu entwi­ckeln und sie einheit­lich zu leiten und zu orga­ni­sie­ren. Die heute in kapi­ta­lis­ti­schen Ländern vieler­orts bestehende struk­tu­relle Tren­nung zwischen dem soge­nann­ten öffent­li­chen Gesund­heits­dienst als staat­lich finan­zier­tem und in der Tendenz schwa­chem Bereich und dem privat orga­ni­sier­ten großen Bereich der ambu­lan­ten und Kran­ken­haus­be­treu­ung war in der DDR über­wun­den. Die Besei­ti­gung der unter­schied­li­chen Eigen­tums­for­men machte die fach­li­che und orga­ni­sa­to­ri­sche Umset­zung der ange­streb­ten Einheit von vorbeu­gen­den, thera­peu­ti­schen und nach­sor­gen­den Maßnah­men erst möglich. Es bestand eine enge Zusam­men­ar­beit zwischen den unter­schied­li­chen Ein- und Fach­rich­tun­gen des Gesund­heits­we­sens – von der loka­len, ambu­lan­ten und allge­mein­me­di­zi­ni­schen Betreu­ung bis zur spezia­li­sier­ten statio­nä­ren Behand­lung. Sie bilde­ten ein umfas­sen­des Netz von inein­an­der­grei­fen­den Insti­tu­tio­nen, dessen Arbeit das Minis­te­rium für Gesund­heit maßgeb­lich koor­di­nierte. Der staat­li­che Charak­ter des Gesund­heits­we­sens erleich­terte eine einheit­li­che und in der Regel zügige Umset­zung wich­ti­ger gesund­heit­li­cher Maßnah­men, z.B. bei Epide­mien oder ande­ren medi­zi­ni­schen Notlagen.

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Eine fach­lich plau­si­ble und zugleich terri­to­rial für die meis­ten Bürger gut erreich­bare Kran­ken­haus­be­treu­ung wurde entwi­ckelt. Das abge­stufte System sah die Grund­be­treu­ung in städ­ti­schen und kommu­na­len Kreis­kran­ken­häu­sern vor, spezia­li­sierte Betreu­un­gen hinge­gen in der Regel in den Bezirks­städ­ten und die hoch­spe­zia­li­sierte Betreu­ung an Univer­si­tä­ten oder einzel­nen Stand­or­ten. Von den 1989 insge­samt 539 Kran­ken­häu­sern in der DDR, die über 163.300 Betten verfüg­ten, waren 75 in konfes­sio­nel­ler Hand belas­sen. Diese ordne­ten sich in das staat­li­che System ein, blie­ben aber in der Zustän­dig­keit der Kirchen. Auch für den länd­li­chen Raum der DDR konnte so eine stetig verbes­serte Versor­gungs­in­fra­struk­tur entwi­ckelt werden.

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Alle Ärztin­nen und Ärzte erhiel­ten nach dem Studium ihre Appro­ba­tion (Erlaub­nis zur ärzt­li­chen Berufs­aus­übung) und einen bezahl­ten Arbeits­platz. Sie waren jedoch verpflich­tet, an einem Ort ihre Tätig­keit aufzu­neh­men – wenigs­tens für einige Jahre –, wo der Bedarf an Ärztin­nen und Ärzten beson­ders groß war. Diese soge­nannte Absol­ven­ten­len­kung, zu der sich die Medi­zin­stu­die­ren­den am Beginn ihres Studi­ums verpflich­tet hatten, reagierte auf das auch inter­na­tio­nal in vielen Ländern immer noch bestehende ernste Problem, eine terri­to­rial sach­ge­rechte Vertei­lung der Ärztin­nen und Ärzte und der Gesund­heits­res­sour­cen zu erreichen.

“Es kam der Punkt, wo man uns sagte: Du hast dich ja eigent­lich verpflich­tet, da zu dienen, wo die Gesell­schaft dich braucht. Es gab viele, die in Berlin studiert haben, die dann alles mögli­che versucht haben, um möglichst in Berlin zu blei­ben und nicht etwa nach Cott­bus oder Bitter­feld zu müssen – in die Braun­kohle, in den Dreck. Ich habe gesagt: Gut, das sind Menschen, die haben ein Recht auf vernünf­tige ärzt­li­che Betreu­ung. Die sollen dort nicht alleine gelas­sen werden und dann mache ich das eben. Das war für mich prak­tisch die Erfül­lung eines Verspre­chens, das man gege­ben hat, als Gegen­leis­tung dafür, dass man gebüh­ren­frei und sogar noch unter Bezug eines Stipen­di­ums, also auch wirt­schaft­lich ohne Not, ein Studium absol­vie­ren konnte. Das wider­spricht auch heute in keiner Weise meiner Rechts­auf­fas­sung. Das war für mich völlig in Ordnung, das so zu machen.”

Die DDR führte ein neues System einer einheit­li­chen gesetz­li­chen Sozi­al­ver­si­che­rung ein, die die alte und heute immer noch in den kapi­ta­lis­ti­schen Ländern bestehende Zersplit­te­rung und zum Teil gewerb­li­che Ausrich­tung der Kran­ken­ver­si­che­rung über­wand. Die Sozi­al­ver­si­che­rung der DDR umfasste ein umfang­rei­ches Leis­tungs­spek­trum der Kranken‑, Unfall- und Renten­ver­si­che­rung. Ihre poli­ti­sche und orga­ni­sa­to­ri­sche Leitung oblag dem Freien Deut­schen Gewerk­schafts­bund. Monat­li­che Beiträge (10 % des Brut­to­lohns; maxi­mal aller­dings 60 Mark vom Beschäf­tig­ten selbst; die zweite Hälfte wurde vom Betrieb getra­gen) und zusätz­li­che staat­li­che Subven­tio­nen sicher­ten ihre Finan­zie­rung ab. So konnte eine unent­gelt­li­che Versor­gung im Gesund­heits­we­sen inklu­sive der Bereit­stel­lung von Medi­ka­men­ten abge­si­chert werden.

Die ausge­baute Gesetz­ge­bung verdeut­licht das poli­ti­sche Gewicht, das die DDR Fragen der Gesund­heit beimaß. Grund­le­gende gesund­heits­re­le­vante Rechte und Pflich­ten nicht nur für die medi­zi­ni­sche Betreu­ung selbst, sondern für die Wirt­schaft, den Bildungs­be­reich, für die Gleich­be­rech­ti­gung der Frau, für den Kinder- und Jugend­ge­sund­heits­schutz bis hin zu den alten Menschen waren abge­si­chert. Dazu gehör­ten auch die inter­na­tio­nal beach­te­ten gesetz­li­chen Rege­lun­gen zur Abschaf­fung der Straf­bar­keit für homo­se­xu­elle Taten (§ 175) im Jahre 1968 (die bereits seit den 1950er Jahren straf­frei war) und zur Fris­ten­lö­sung für Schwan­ger­schafts­ab­brü­che §218 (1972), genauso wie die Wider­spruchs­lö­sung bei Organ­trans­plan­ta­tio­nen (1975) oder die staat­li­che Haftung bei Gesund­heits­schä­den infolge medi­zi­ni­scher Maßnah­men (1987). Das Recht auf den Schutz der Gesund­heit, auf eine jeder­mann zugäng­li­che medi­zi­ni­sche Betreu­ung unab­hän­gig von seiner sozia­len Lage wurde schon in die erste Verfas­sung der DDR von 1949 mit aufge­nom­men und auch in den zwei nach­fol­gen­den Verfas­sun­gen von 1968 und 1974 verankert.

Arti­kel 35

 

(1) Jeder Bürger der Deut­schen Demo­kra­ti­schen Repu­blik hat das Recht auf Schutz seiner Gesund­heit und seiner Arbeitskraft.

 

(2) Dieses Recht wird durch die plan­mä­ßige Verbes­se­rung der Arbeits- und Lebens­be­din­gun­gen, die Pflege der Volks­ge­sund­heit, eine umfas­sende Sozi­al­po­li­tik, die Förde­rung der Körper­kul­tur, des Schul- und Volks­sports und der Touris­tik gewährleistet.

 

(3) Auf der Grund­lage eines sozia­len Versi­che­rungs­sys­tems werden bei Krank­heit und Unfäl­len mate­ri­elle Sicher­heit, unent­gelt­li­che ärzt­li­che Hilfe, Arznei­mit­tel und andere medi­zi­ni­sche Sach­leis­tun­gen gewährt.

Damit trug die DDR der inzwi­schen beschlos­se­nen UNO-Menschen­rechts­kon­ven­tion von 1948 über das Recht auf Gesund­heit Rech­nung, welches nach wie vor weder welt­weit aner­kannt, noch in vielen Ländern auch nur ansatz­weise umge­setzt wird. Die Grund­rech­te­charta der Euro­päi­schen Union hält es seit dem Jahr 2009 fest, und es findet sich mitt­ler­weile in einer Reihe natio­na­ler Verfas­sun­gen. In der bundes­deut­schen Verfas­sung ist dieses Recht ausdrück­lich nicht enthal­ten. In der DDR wurde das Gesund­heits­we­sen mit diesem gesell­schafts- und gesund­heits­po­li­ti­schen Ansatz im Verlauf von vier Jahr­zehn­ten schritt­weise, aber syste­ma­tisch auf- und ausgebaut.

Das Gesund­heits­we­sen war ein hoch­kom­ple­xer gesell­schaft­li­cher Bereich, in dem fast 600.000 Menschen arbei­te­ten (etwa 7 Prozent aller Beschäf­tig­ten). Neben den Kran­ken­häu­sern und den ambu­lan­ten medi­zi­ni­schen Kapa­zi­tä­ten gehör­ten dazu die medi­zi­ni­schen Lehr- und Forschungs­ein­rich­tun­gen, eine Reihe von Spezi­al­in­sti­tu­ten, ein System der Schnel­len Medi­zi­ni­schen Hilfe, aktive medi­zi­nisch-wissen­schaft­li­che Gesell­schaf­ten, das ärzt­li­che Begut­ach­tungs­we­sen, Einrich­tun­gen der Gesund­heits­auf­klä­rung und Gesund­heits­er­zie­hung wie das inter­na­tio­nal renom­mierte Deut­sche Hygie­ne­mu­seum in Dres­den, medi­zi­ni­sche Verlage und Fach­zeit­schrif­ten und nicht zuletzt eine leis­tungs­fä­hige phar­ma­zeu­ti­sche Indus­trie. Das Indus­trie­kom­bi­nat GERMED mit 13 Betrie­ben und drei Forschungs­in­sti­tu­ten mit etwa 15.000 Beschäf­tig­ten produ­zierte mit etwa 1.300 verschie­de­nen Human­phar­maka 80–90 % des Arznei­mit­tel­be­darfs der DDR. Es expor­tierte darüber hinaus vor allem in die Sowjet­union und die ande­ren sozia­lis­ti­schen Länder. Der Bedarf an Arznei­mit­teln wurde durch die von Bezirks­apo­the­ke­rin­nen und ‑apothe­kern gelei­te­ten „Phar­ma­zeu­ti­schen Zentren“ ermit­telt. Apothe­ker und Apothe­ke­rin­nen arbei­te­ten eng mit Ärzten und Ärztin­nen zusam­men, was eine opti­male Betreu­ung der Pati­en­tin­nen und Pati­en­ten ermög­lichte und bei auftre­ten­den Versor­gungs­eng­päs­sen nütz­lich war. In ihren Entschei­dun­gen waren beide frei von gewinn­ori­en­tier­ten Erwägungen.

Im Jahr 1950 gab es auf DDR-Gebiet 1.694 Apothe­ken, davon 1.266 in priva­ter Hand. 1989 waren es 2.002 staat­li­che und 24 private Apothe­ken. Die Leitung des Apothe­ken­we­sens erfolgte durch das Minis­te­rium für Gesund­heits­we­sen. Jedem der für die 15 Bezirke der DDR zustän­di­gen Bezirks­ärzte war je ein Bezirks­apo­the­ker zuge­ord­net. In den 229 Krei­sen war je ein Krei­s­apo­the­ker u.a. für die Kontrolle der Apothe­ken nach einheit­li­chen Gesichts­punk­ten verantwortlich.

4. Widersprüche und Probleme

Der Aufbau und die Leis­tungs­fä­hig­keit des Gesund­heits­we­sens in der DDR entwi­ckel­ten sich nicht konflikt­los, es kam zu Wider­sprü­chen zwischen gesund­heit­li­chen Zielen und ökono­mi­schen Möglich­kei­ten. Manche der erklär­ten und ange­streb­ten Ziele konn­ten vor allem aus ökono­mi­schen Grün­den nicht oder nicht ausrei­chend erreicht werden.

Dabei können die Entwick­lun­gen und auch die Probleme und Wider­sprü­che im Gesund­heits­we­sen letzt­lich nur als ein Spie­gel­bild der Gesamt­ent­wick­lung der DDR verstan­den werden. Wirt­schaft­li­che Schwie­rig­kei­ten oder unter­schied­li­che Schwer­punkte im ökono­mi­schen Aufbau, ebenso wie poli­ti­sche Ausein­an­der­set­zun­gen muss­ten sich auch gesund­heits­po­li­tisch nieder­schla­gen. So führte beispiels­weise das Programm der „Einheit von Wirt­schafts- und Sozi­al­po­li­tik“ ab 1971 einer­seits zu groß­zü­gi­gen Zuwen­dun­gen in das Gesund­heits­we­sen, ande­rer­seits mach­ten sich auch im Bereich der Gesund­heit zuneh­mende wirt­schaft­li­che Dispro­por­tio­nen, auf Basis eines allge­mei­nen Inves­ti­ti­ons­rück­stan­des, bemerkbar.

Das betrifft z.B. den bauli­chen Verschleiß von Kran­ken­häu­sern und die Knapp­heit bestimm­ter Verbrauchs­ma­te­ria­lien, was die tägli­che Arbeit erschwerte. In den letz­ten Jahren konnte die DDR moderne Medi­zin­tech­nik, die in west­li­chen Indus­trie­län­dern entwi­ckelt wurde, nicht mehr im notwen­di­gen Umfang impor­tie­ren, ein Teil davon unter­lag dem Embargo des Westens gegen die sozia­lis­ti­schen Länder. Während neue diagnos­ti­sche und thera­peu­ti­sche Metho­den Fort­schritte bei bestimm­ten Erkran­kun­gen ermög­lich­ten, die mit herkömm­li­chen Mitteln nur schwer oder gar nicht zu errei­chen waren, fehlte es der DDR zum Teil an entspre­chen­der Ausrüstung.

In den 80er Jahren kam es inner­halb wissen­schaft­li­cher Kreise, ange­sichts von Mate­ri­al­eng­päs­sen und auch in Hinblick auf die Bewäl­ti­gung drän­gen­der gesund­heit­li­cher Aufga­ben, zu gesund­heits­po­li­ti­schen Ausein­an­der­set­zun­gen. Die Perspek­tive auf die Vorbeu­gung von Krank­hei­ten und die Einbe­zie­hung brei­ter gesell­schaft­li­cher Berei­che und Akteure blieb dabei bis zuletzt ein entschei­den­des Merk­mal der Gesund­heits­po­li­tik. Die Frage aller­dings, welche krank­heits­ver­ur­sa­chen­den Bedin­gun­gen wesent­lich ange­gan­gen werden konn­ten und soll­ten, war teil­weise umstrit­ten. Mit Maßnah­men zur Aufklä­rung und Förde­rung gesun­der Lebens­wei­sen soll­ten beispiels­weise insbe­son­dere Probleme wie Über­ge­wich­tig­keit, Alko­hol­miss­brauch, Mängel im hygie­ni­schen Verhal­ten und die Zunahme des Rauchens bei Jugend­li­chen bekämpft werden. Von Sozi­al­me­di­zi­ne­rin­nen und ‑medi­zi­nern wurde diese Fokus­sie­rung auf Verhal­tens­fra­gen gegen­über der Verbes­se­rung allge­mei­ner sozi­al­po­li­ti­scher Rahmen­be­din­gun­gen mitun­ter in Frage gestellt und kritisiert.

Diese Ausein­an­der­set­zun­gen zeigen: alltäg­li­che Schwie­rig­kei­ten ebenso wie grund­sätz­li­chere Entwick­lungs­pro­bleme waren poli­tisch disku­tier­bar. Neben vielen weite­ren Struk­tu­ren boten beispiels­weise die zwei­mo­nat­li­chen Bezirks­ärz­te­ta­gun­gen und die alle zwei bis drei Jahre statt­fin­den­den Kreisärz­te­kon­fe­ren­zen die Möglich­keit zur inten­si­ven gesund­heits­po­li­ti­schen Bera­tung und somit zur Lösung von Problemen.

Während der gesam­ten Zeit der DDR wirkte die System­kon­fron­ta­tion mit dem Westen in viel­sei­ti­ger Weise auf die Entwick­lun­gen im Gesund­heits­we­sen. Auf ideo­lo­gi­scher, poli­ti­scher und wirt­schaft­li­cher Ebene wurde Einfluss genom­men. Im beson­de­ren Maße betraf das den einge­schränk­ten Zugang zu medi­zi­ni­schem und tech­ni­schem Mate­rial, sowie den Zugang zu inter­na­tio­na­ler Forschung und die Abwer­bung von Arbeits­kräf­ten durch die Bundes­re­pu­blik. Dass Ärztin­nen und Ärzte bei gesell­schaft­li­chen Umbrü­chen eine wich­tige Rolle einneh­men, erlebte die DDR durch deren Abwan­de­rung in den Westen vor 1961 am eige­nen Leib. Ähnlich erging es Kuba, wo es neben Ärzten wie Che Guevara, die sich der Revo­lu­tion zur Verfü­gung stell­ten, viele Ärztin­nen und Ärzte gab, die nach 1960 die Insel Rich­tung USA verlie­ßen. Gegen­wär­tig wird der soge­nannte „Brain drain“, die Abwan­de­rung von Ärztin­nen und Ärzten und ande­ren Hoch­schul­be­ru­fen aus den sie ausbil­den­den Heimat­län­dern, in denen sie zumeist selbst drin­gend gebraucht würden, kaum noch thema­ti­siert. Seine weit­rei­chen­den Konse­quen­zen insbe­son­dere für Entwick­lungs­län­der werden totge­schwie­gen oder als posi­ti­ver Aspekt der Globa­li­sie­rung verkauft.

Die seiner­zeit in und auf Kosten der DDR ausge­bil­de­ten Ärztin­nen und Ärzte lockte eine bessere Bezah­lung oder die Gegner­schaft zu den gesell­schaft­li­chen Umwäl­zun­gen in den Westen, aber in den Nach­kriegs­jah­ren auch die Möglich­keit, sich als ehema­li­ges Mitglied der Nazi­par­tei einer mögli­chen Straf­ver­fol­gung zu entzie­hen. Da Ärztin­nen und Ärzte aus der DDR als gut ausge­bil­det galten, nutzte die BRD den Aufruf zur Flucht als bewuss­tes Mittel der Abwer­bung. Die Abwan­de­rung zu dieser Zeit war so massiv, dass es, um den Verlust auszu­glei­chen, mindes­tens fünf zusätz­li­che Jahr­gänge aller Absol­ven­ten des Medi­zin­stu­di­ums der DDR gebraucht hätte.

Insbe­son­dere das Problem der Abwan­de­rung der Ärztin­nen und Ärzte macht deut­lich, dass eine Analyse und Beur­tei­lung der Entwick­lung im Gesund­heits­we­sen der DDR nicht um eine genaue Unter­su­chung der histo­ri­schen Bedin­gun­gen herum­kommt. Das einfa­che Hervor­he­ben und Über­be­to­nen von Mängeln und Proble­men führt weg von einer tatsäch­li­chen Analyse und Beur­tei­lung des Konzepts und der entstan­de­nen Struk­tur des Gesund­heits­we­sens. Eine kriti­sche Beur­tei­lung, nicht nur des Gesund­heits­we­sens, sondern auch allge­mein der DDR, muss sich letzt­lich immer entschei­den, ob sie die Ursa­chen der Schwie­rig­kei­ten in der Entwick­lung histo­risch sehen und einord­nen und aus der DDR lernen will oder ob sie allein mit dem Ziel geübt wird, die DDR und den Sozia­lis­mus zu diffamieren.

5. Die poliklinische Idee – Weg zu einer modernen ambulanten medizinischen Betreuung

5.1. Der Unterschied zwischen Privatpraxis und Poliklinik

In einem moder­nen, demo­kra­tisch orga­ni­sier­ten und alle Bevöl­ke­rungs­schich­ten erfas­sen­den Gesund­heits­we­sen spielt die ambu­lante medi­zi­ni­sche Betreu­ung eine sehr große, wenn nicht entschei­dende Rolle. „Ambu­lant“ bedeu­tet, dass die Betreu­ung von Pati­en­tin­nen und Pati­en­ten in der Regel außer­halb von Kran­ken­häu­sern, in der eige­nen Wohn­um­ge­bung, aber auch allge­mein im sozia­len Lebens­um­feld ohne einen statio­nä­ren Aufent­halt statt­fin­det. Sie sorgt dafür, dass die Menschen an ihren Wohn- und Lebens­or­ten unmit­tel­bar notwen­dige medi­zi­ni­sche Hilfe erhal­ten, von vorbeu­gen­den Maßnah­men über die Thera­pie bis hin zur Nach­sorge und reha­bi­li­ta­ti­ven Maßnah­men. Eine funk­tio­nie­rende ambu­lante Betreu­ung bietet eine schnelle und direkte Versor­gung, führt durch die Nach­sorge, vermei­det einen statio­nä­ren Aufent­halt im Kran­ken­haus und beugt im besten Falle Erkran­kun­gen vor.

„Besteht nicht (…) die wirk­li­che Frei­heit des Arztes darin, dass ihm die Mittel in die Hand gege­ben sind, die Gesund­heit jedes einzel­nen Bürgers ohne Begren­zung zu sichern? Durch den Aufbau des staat­li­chen Gesund­heits­we­sens sind die Ärzte nicht mehr mate­ri­ell am Krank­sein des Menschen inter­es­siert, sondern können tatsäch­lich als Hüter und Wahrer der Gesund­heit tätig werden.“

Beim Aufbau des Gesund­heits­we­sens in der DDR als staat­li­ches, nicht auf privat­ka­pi­ta­lis­ti­schem Eigen­tum beru­hen­des System, stellte sich die Umge­stal­tung und Neufor­mie­rung der ambu­lan­ten medi­zi­ni­schen Betreu­ung der Bevöl­ke­rung struk­tu­rell wohl als das weit­rei­chendste, ja, revo­lu­tio­näre Element dar.

Die Etablie­rung der ambu­lan­ten Struk­tu­ren in allen Lebens­be­rei­chen sollte ein Gesund­heits­we­sen garan­tie­ren, welches die Bürge­rin­nen und Bürger nicht nur bei Krank­hei­ten in Anspruch nahmen, sondern dass sie medi­zi­nisch bera­tend und unter­stüt­zend durch ihr Leben beglei­tete, um so auch für die Gesund­heit der Bevöl­ke­rung zu sorgen. Das konnte nur durch die Ände­rung der Eigen­tums­frage ermög­licht werden, die das Gesund­heits­we­sen einer staat­li­chen Planung nach Notwen­dig­keit und Bedürf­nis unter­zog und so die ökono­mi­sche Abhän­gig­keit der ambu­lan­ten Versor­gung von der Krank­heit der Menschen überwand.

Mit dem Ausbau von Poli­kli­ni­ken, staat­li­chen Arzt­pra­xen und weite­ren Struk­tur­ele­men­ten soll­ten die Einschrän­kun­gen, denen privat nieder­ge­las­sene Ärztin­nen und Ärzte in ihrer Einzel­pra­xis unter­lie­gen über­wun­den werden. Sie soll­ten als Ange­stellte mit einem ange­mes­se­nen Einkom­men ihre medi­zi­ni­schen Entschei­dun­gen unab­hän­gig von wirt­schaft­li­chen Erwä­gun­gen tref­fen können. Ihnen soll­ten Labor und medi­zi­ni­sche Tech­nik unmit­tel­bar zur Verfü­gung stehen. Die fach­li­che Zusam­men­ar­beit mit ande­ren ärzt­li­chen Kolle­gen in der Ambu­lanz und in den Kran­ken­häu­sern sollte ohne büro­kra­ti­sche Hürden möglich sein. Die poli­kli­ni­sche Idee bezeich­net eine Art und Weise der ambu­lan­ten medi­zi­ni­schen Betreu­ung, bei der Ärzte und Ärztin­nen und andere Mitar­bei­ter und Mitar­bei­te­rin­nen unab­hän­gig von persön­li­chen wirt­schaft­li­chen Erwä­gun­gen unkom­pli­ziert zwischen den einzel­nen Fach­ge­bie­ten sowie mit den Kran­ken­häu­sern zusam­men­ar­bei­ten und die Einheit von vorbeu­gen­den, thera­peu­ti­schen und nach­sor­gen­den Maßnah­men gestal­ten können.

In der DDR defi­nierte sich eine Poli­kli­nik als eine staat­li­che ambu­lante medi­zi­ni­sche Einrich­tung, in der mindes­tens die sechs folgen­den Fach­ab­tei­lun­gen vorhan­den und ärzt­lich besetzt sein müssen: innere Abtei­lung, stoma­to­lo­gi­sche Abtei­lung, gynä­ko­lo­gi­sche Abtei­lung, chir­ur­gi­sche Abtei­lung, pädia­tri­sche Abtei­lung und eine allge­mein­ärzt­li­che Abtei­lung. Sie verfügt über ein klinisch diagnos­ti­sches Labo­ra­to­rium, eine physio­the­ra­peu­ti­sche Abtei­lung (mit Wasser­be­cken) und eine Rönt­gen­ein­rich­tung. Das klei­nere Ambu­la­to­rium verfügte über mindes­tens drei verschie­dene Fach­ge­biete, zumeist Allge­mein­me­di­zin, Innere und Kinder­ab­tei­lung. Die Poli­kli­ni­ken und Ambu­la­to­rien waren in einem eige­nen Gebäude „unter einem Dach“ unter­ge­bracht, mehr als ein Drit­tel war ange­glie­dert an Kran­ken­häu­ser und an Univer­si­täts­kli­ni­ken, fast jede vierte Poli­kli­nik fungierte als Betriebs­po­li­kli­nik. Den Poli­kli­ni­ken terri­to­rial zuge­ord­net waren in der Regel staat­li­che Arzt­pra­xen und auch bestimmte Bera­tungs­stel­len an ande­ren Orten wie zum Beispiel die soge­nann­ten poli­kli­ni­schen Abtei­lun­gen für Lungen­krank­hei­ten und Tuberkulose.

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Im Unter­schied zu der in der Vergan­gen­heit über viele Jahr­zehnte übli­chen Arzt­pra­xis in Wohn­häu­sern waren dafür neue Zweck­bau­ten erfor­der­lich. Einzelne Vorläu­fer hatte es in der Zeit der Weima­rer Repu­blik z.B. mit dem „Haus der Gesund­heit“ von 1923 in Berlin gege­ben. Es wurden deshalb in den 1950er Jahren entspre­chende Typen­pro­jekte durch Archi­tek­ten der Bauaka­de­mie der DDR und deren dama­li­gen Präsi­den­ten Kurt Lieb­knecht entwi­ckelt. Der Bau von Poli­kli­ni­ken oder Ambu­la­to­rien in den neuen großen Neubau­sied­lun­gen gehörte seit Beginn der 1970er Jahre zu den Pflicht­auf­ga­ben des Wohnungs­bau­pro­gramms. Vor allem für Berlin, andere große Städte und Indus­trie­zen­tren wurden größere Poli­kli­ni­ken mit jeweils 50 Arzt- und Zahn­arzt­plät­zen gebaut.

Während die Versor­gung in Kran­ken­häu­sern auf einer länge­ren Tradi­tion sowohl in ihrem fach­li­chen Profil als auch in den bauli­chen Erfor­der­nis­sen aufbauen konnte, stellte sich das im ambu­lan­ten Bereich auch mit Blick auf die neuen poli­ti­schen Ziele anders und auch schwie­rig dar. Skep­sis und auch Wider­stand unter den Ärztin­nen und Ärzten gegen die poli­kli­ni­sche Idee waren groß, die anvi­sierte Zusam­men­ar­beit verschie­de­ner Ärztin­nen und Ärzte unter einem Dach und dann noch im Status eines Ange­stell­ten wider­sprach den verwur­zel­ten Tradi­tio­nen und dem Selbst­ver­ständ­nis der Idee, ja des Mythos des nieder­ge­las­se­nen, auf eigene Rech­nung täti­gen „frei­be­ruf­li­chen“ Arztes. Sie wurde syste­ma­tisch von konser­va­ti­ven einfluss­rei­chen ärzt­li­chen Stan­des­or­ga­ni­sa­tio­nen schon in der Weima­rer Repu­blik, aber auch nach 1945 bekämpft. Die Vorteile muss­ten zudem auch in der Ausstat­tung der gegrün­de­ten Poli­kli­ni­ken mit Labor oder ande­ren Kapa­zi­tä­ten gezeigt werden. Wenn auch die ersten Poli­kli­ni­ken wie in Schwe­rin oder im Land Bran­den­burg in eini­ger­ma­ßen geeig­ne­ten Gebäu­den einge­rich­tet wurden und sich ihre Zahl stetig vergrö­ßerte, dauerte dieser Prozess einige Jahre. So sicher­ten privat nieder­ge­las­sene Ärztin­nen und Ärzte noch viele Jahre einen großen Teil der ambu­lan­ten Betreu­ung ab. 1955 waren mit 5.048 weit mehr als die Hälfte der ambu­lan­ten Ärztin­nen und Ärzte noch privat nieder­ge­las­sen. 1970 waren es immer noch 18 Prozent. Im Prozess der deut­schen Verei­ni­gung in den Jahren 1989/90 stellte sich der Unter­schied in den Struk­tu­ren im ambu­lan­ten medi­zi­ni­schen Bereich zwischen der Bundes­re­pu­blik und der DDR am größ­ten dar: Auf der einen Seite die fast ausschließ­lich in Einzel­pra­xen privat nieder­ge­las­se­nen Ärztin­nen und Ärzte in der Bundes­re­pu­blik, wo 1988 die etwa 68.000 Kassen­ärzte und ‑ärztin­nen zum aller­größ­ten Teil auf diese Weise prak­ti­zier­ten. Auf der ande­ren Seite das System der poli­kli­ni­schen Arbeit mit ange­stell­ten Ärztin­nen und Ärzten in der DDR.

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Man muss aus heuti­ger Sicht den fach­li­chen Mut und die Über­zeu­gung von dem sich als medi­zi­nisch sinn­voll erwei­sen­den Weg der verant­wort­li­chen Medi­zi­ne­rin­nen und Gesund­heits­po­li­ti­ker bewun­dern. Es ist schritt­weise gelun­gen, die Ärzte­schaft für die poli­kli­ni­sche Idee zu gewin­nen und auch mit dem zügi­gen Bau von Ambu­la­to­rien und Poli­kli­ni­ken ihrer Aufgabe eine adäquate bauli­che Hülle zu geben und so die nicht bestreit­ba­ren prak­ti­schen Vorteile für die Pati­en­tin­nen und Pati­en­ten zu reali­sie­ren. Dieser Prozess voll­zog sich bis 1961 bei offe­nen Gren­zen im „Wett­be­werb“ mit dem über­kom­me­nen und wirt­schaft­lich und poli­tisch wieder favo­ri­sier­ten System der Privat­nie­der­las­sung der Ärztin­nen und Ärzte in der Bundes­re­pu­blik. Die west­deut­sche Regie­rung lockte zahl­rei­che gut ausge­bil­dete Ärztin­nen und Ärzte mit hohen Gehäl­tern und Privi­le­gien gezielt zur „Flucht“. Damit stand die DDR vor der kompli­zier­ten Aufgabe, der sich bereits die Bolsche­wiki nach der Okto­ber­re­vo­lu­tion gegen­über­sa­hen, wie nämlich spezia­li­sierte Fach­kräfte und eine im Kapi­ta­lis­mus privi­le­gierte Intel­li­genz für den Aufbau des Sozia­lis­mus gewon­nen werden kann. Die SED entschied sich Ende der 1950er Jahre in Anbe­tracht der hohen Abwan­de­rungs­zah­len der medi­zi­ni­schen Intel­li­genz entge­gen­zu­kom­men und setzte zum Teil auch mate­ri­elle Anreize ein, um den Ärztin­nen und Ärzten ihre Arbeit und ihr Leben in der DDR zu erleich­tern. Die weitere Entwick­lung weg von privat nieder­ge­las­se­nen hin zu ange­stell­ten Ärztin­nen und Ärzten setzte sich in den folgen­den Jahren trotz­dem durch.

Obwohl bis zur Siche­rung der Gren­zen und dem Bau der Mauer 1961 einige Tausend Ärztin­nen und Ärzte die DDR verlie­ßen, nahm ihre Zahl 1988 mit etwa 41.000 im euro­päi­schen Vergleich einen vorde­ren Platz ein und hatte sich seit 1949 mehr als verdrei­facht. Die Zahl der im Gesund­heits­we­sen der DDR Beschäf­tig­ten war vergleich­bar mit ande­ren entwi­ckel­ten Ländern. Ein Vergleich der Ärzte­dichte mit ande­ren Ländern darf jedoch die Bedeu­tung der Struk­tur­ver­än­de­rung der Versor­gung nicht über­ge­hen. Das einheit­li­che System des Gesund­heits­we­sens der DDR ermög­lichte einen effi­zi­en­ten Einsatz des medi­zi­ni­schen Perso­nals. Ein abge­stimm­tes, den inter­na­tio­na­len Stan­dard mitbe­stim­men­des System der Aus‑, Weiter- und Fort­bil­dung hatte im Vergleich zur BRD und ande­ren Ländern den prak­ti­schen Ärzten und Ärztin­nen eine gleich­wer­tige Bedeu­tung mit den Fach­ärz­ten und ‑ärztin­nen zuge­mes­sen und zugleich einem jeden die Fach­arzt­aus­bil­dung ermög­licht. Auch Schwes­tern und Pfle­ge­per­so­nal erhiel­ten eine allge­mein­me­di­zi­ni­sche Ausbil­dung auf hohem akade­mi­schem Niveau. Das Medi­zin­stu­dium wurde für Kinder aus allen sozia­len Schich­ten zugäng­lich, es war durch Stipen­dien und andere Vergüns­ti­gun­gen sozial abge­si­chert, was zu rela­tiv gerin­gen Abbruch­quo­ten beitrug. Der Anteil von Frauen betrug zeit­weise mehr als die Hälfte. Auch wenn nach dem Ende der DDR vielen Menschen ihre Aner­ken­nung genom­men wurde, wagte sich im Unter­schied zu ande­ren Hoch­schul­be­ru­fen niemand, die beruf­li­che Quali­fi­ka­tion der Ärzte und Ärztin­nen der DDR ernst­haft in Frage zu stel­len. Zahl­rei­che Hoch­schul­leh­re­rin­nen und ‑lehrer, wissen­schaft­lich ausge­wie­sene Ärzte und Ärztin­nen sowie Wissen­schaft­le­rin­nen und Wissen­schaft­ler wurden jedoch aus poli­ti­schen Moti­ven entlassen.

5.2. Arbeitsweise einer Poliklinik

Ärztin­nen, Ärzte und ande­res medi­zi­ni­sches Perso­nal wurden im Ange­stell­ten­ver­hält­nis staat­lich vergü­tet. Deshalb spielte im Arzt-Pati­en­ten-Verhält­nis und bei den ärzt­li­chen Entschei­dun­gen dieser wirt­schaft­li­che bzw. finan­zi­elle Aspekt keine Rolle. Im Unter­schied zur privat nieder­ge­las­se­nen Praxis war in einer Poli­kli­nik schon deshalb eine unbü­ro­kra­ti­sche fach­li­che Zusam­men­ar­beit zwischen den einzel­nen Fach­be­rei­chen Reali­tät. Labor- und Rönt­gen­leis­tun­gen konn­ten unmit­tel­bar abge­for­dert werden und lagen in der Regel schon nach kurzer Zeit bzw. noch während des Arzt­ter­mins vor. So war auch eine bessere Auslas­tung und Nutzung medi­zin­tech­ni­scher Geräte in einer Poli­kli­nik möglich, die betriebs­wirt­schaft­lich einfach güns­ti­ger sein musste als in einer Einzelpraxis.

Dr. Hein­rich Niemann erin­nert sich: „Als im Arbei­ter­stadt­be­zirk Prenz­lauer Berg in Berlin Anfang der 80er Jahre die große schöne Poli­kli­nik Dr. Karl Koll­witz gebaut wurde, war es nicht so, dass die im Bezirk bereits ansäs­si­gen Ärzte mit flie­gen­den Fahnen in die Poli­kli­nik gegan­gen sind. Natür­lich wuss­ten sie, in dem Moment, wo sie in so einem großen Haus arbei­ten, ist auch eine andere soziale Kontrolle, oder ein ande­rer Umgang mitein­an­der nötig. (…) Die Zusam­men­ar­beit zwischen thera­peu­ti­schen, reha­bi­li­ta­ti­ven und vorbeu­gen­den Maßnah­men, die ist aber nur so möglich. Das kann auch heute eine Praxis nur bedingt leisten.“

Die Poli­kli­nik orga­ni­sierte ihre Arbeit mit einer einheit­li­chen Pati­en­ten­akte, die jedem behan­deln­den Arzt und jeder behan­deln­den Ärztin bezie­hungs­weise jeder Fach­ab­tei­lung zur Verfü­gung stand. Die Beset­zung einer Poli­kli­nik mit mehre­ren Ärzten und Mitar­bei­tern ermög­lichte deut­lich längere Öffnungs­zei­ten für die Bürger und Pati­en­ten einschließ­lich unkom­pli­zier­ter Vertre­tungs­re­ge­lun­gen bei Urlaub oder Krank­heit. Die arbeits­recht­li­che Gleich­stel­lung als Ange­stellte, aber auch die Mitglied­schaft von Ärztin­nen und Ärzten, Schwes­tern und Pfle­gern in der glei­chen Gewerk­schaft Gesund­heits­we­sen sowie die sich heraus­bil­den­den Formen der inner­be­trieb­li­chen Zusam­men­ar­beit (z.B. regel­mä­ßige Dienst- oder Arbeits­be­ra­tun­gen, feste Arbeits­kol­lek­tive, „Sozia­lis­ti­scher Wett­be­werb“) förder­ten eine kolle­giale Zusam­men­ar­beit. Neue Wege der ärzt­li­chen Arbeit waren ohne die Unter­stüt­zung der Schwes­tern und Pfle­ger schwer umzu­set­zen. Im Laufe der Jahre bilde­ten sich berufs­stän­di­sche Hier­ar­chien auch im Pfle­ge­be­reich völlig zurück.

„Dass ein Arzt immer daran denken muss, wie er sein Einkom­men sichert und darauf ange­wie­sen ist, dass Kranke zu ihm kommen, das kann nicht die Lösung sein. Wir müssen eine andere Lösung finden. Nämlich den Arzt zu begrei­fen als vom Staat ange­stell­ten, gutbe­zahl­ten Menschen, der unab­hän­gig von seinem Einkom­men, von seiner Exis­tenz ärzt­lich handeln kann. Das war eine der Grund­ideen in der DDR. Eine zweite war, dass die moderne Wissen­schafts­ent­wick­lung mit dieser Einzel­pra­xis im Grunde genom­men nicht zusam­men­passt. Ich brau­che Struk­tu­ren, wo der Zugang zum Labor, zum Rönt­gen, zu den Fach­kol­le­gen erleich­tert wird. Diese beiden fach­li­chen Grund­ideen haben dazu geführt, dass Schritt für Schritt Poli­kli­ni­ken, Ambu­la­to­rien, also letz­ten Endes bauli­che Hüllen entstan­den sind, die so etwas möglich mach­ten. Das war ein langer Prozess gegen den es auch Wider­stand gab.“

Ein entschei­den­der Unter­schied und Vorteil der Poli­kli­nik-Struk­tur war, dass Aufga­ben und Leis­tun­gen der vorbeu­gen­den Medi­zin, so zum Beispiel die Reihen­un­ter­su­chun­gen für Kinder oder die Schwan­ge­ren- und Mütter­be­ra­tung, aber auch die Dispen­saire-Betreu­ung bestimm­ter Pati­en­ten­grup­pen als norma­ler Teil der Arbeit inte­griert waren und mit dem kura­ti­ven Teil der ärzt­li­chen Arbeit und der norma­len Sprech­stun­den- und Haus­be­such­s­tä­tig­keit gut abge­stimmt und geplant werden konn­ten. Die Dispen­saire-Betreu­ung beschreibt die Früh­erfas­sung und konti­nu­ier­li­che medi­zi­ni­sche Behand­lung für spezi­fi­sche chro­ni­sche Krank­hei­ten wie beispiels­weise Diabe­tes. Die gegen­wär­tig anhal­tende starre Tren­nung zwischen den Leis­tun­gen des Öffent­li­chen Gesund­heits­diens­tes und den Leis­tun­gen der nieder­ge­las­se­nen Ärztin­nen und Ärzte war hier zum Nutzen der Pati­en­tin­nen und Pati­en­ten und einer effek­ti­ven Orga­ni­sa­tion über­wun­den. So gehörte zur Arbeit der Kinder­ärz­tin­nen und ‑ärzte neben ihrer norma­len Sprech­stunde die regel­mä­ßige Betreu­ung zuge­ord­ne­ter Kinder­gär­ten und Kinder­krip­pen ebenso wie die Mütterberatung.

Die Poli­kli­ni­ken hatten nicht nur die Aufgabe, sondern auch gute Voraus­set­zun­gen für den medi­zi­nisch-fach­li­chen Erfah­rungs­aus­tausch und eine regel­mä­ßige arbeits­platz­be­zo­gene beruf­li­che Fort­bil­dung des Perso­nals. In den letz­ten Jahren der DDR wurde unter dem Begriff der „Ambu­lan­ten Visite“ die regel­mä­ßige fach­li­che Konsul­ta­tion zwischen den Poli­kli­nik­ärz­ten geför­dert und ausge­baut. Die fach­li­che Auto­no­mie der einzel­nen Ärztin­nen und Ärzte in ihren Sprech­stun­den war auch in den Poli­kli­ni­ken lange herge­brach­tes Selbst­ver­ständ­nis ambu­lan­ter ärzt­li­cher Tätig­keit. Im Unter­schied zur seit Jahr­zehn­ten übli­chen Praxis in Kran­ken­häu­sern mit Visite, Ober­arzt­vi­site, Chef­vi­site (mit even­tu­el­len Korrek­tu­ren ärzt­li­cher Entschei­dun­gen) waren (und sind auch heute) die ambu­lan­ten Ärztin­nen und Ärzte prak­tisch nur mit ihrer Person für die medi­zi­ni­schen Entschei­dun­gen verant­wort­lich. Mit der ambu­lan­ten Visite wurden nun struk­tu­riert gemein­sam unter den Ärztin­nen und Ärzten kompli­zierte Fälle, die Anwen­dung neuer Medi­ka­mente oder neue Thera­pie­emp­feh­lun­gen bespro­chen. In größe­ren Poli­kli­ni­ken waren Aufnah­me­ärzte für neue Pati­en­ten (auch Pati­en­ten­leit­stelle) tätig.

Die Poli­kli­ni­ken waren wich­tige Part­ner für die kommu­na­len Verwal­tun­gen zur Umset­zung gesund­heit­li­cher Ziele im Terri­to­rium. Sie waren einge­ord­net in die Abläufe bei der Bekämp­fung von Infek­ti­ons­krank­hei­ten und Epide­mien und bestimm­ten Notfäl­len. So konn­ten Kräfte umgrup­piert, Notbet­ten aufge­stellt, eine scharfe Tren­nung zwischen septi­schen und asep­ti­schen Berei­chen reali­siert werden. So wurden viel­fach auch abge­stimmte Aktio­nen zur gesun­den Lebens­füh­rung, zur Aufklä­rung über die Gefah­ren des Rauchens und ähnli­ches orga­ni­siert. Auf sozia­lem Gebiet war es ein großer Vorteil, nicht nur eine gere­gelte Arbeits­zeit für Ärztin­nen und Ärzte und alle Mitar­bei­ten­den zu gewähr­leis­ten, sondern sie selbst betriebs­ärzt­lich zu betreuen, Mittag­essen oder Kanti­nen­ver­sor­gung anzu­bie­ten bis hin zur Möglich­keit, die Kinder in eige­nen Feri­en­la­gern oder in Feri­en­la­gern koope­rie­ren­der Einrich­tun­gen unterzubringen.

5.3. Die ambulante medizinische Versorgung in der DDR

Die staat­li­che ambu­lante Versor­gung wurde konti­nu­ier­lich ausge­baut. 1980 waren von den fast 19.000 ambu­lan­ten Ärztin­nen und Ärzten 60 Prozent in Poli­kli­ni­ken beschäf­tigt (im Durch­schnitt 18–19 Ärztin­nen und Ärzte je Poli­kli­nik), und 18,5 % in den über 1.000 Ambu­la­to­rien, 11 % in den rund 1.700 staat­li­chen Arzt­pra­xen. Jeder Bürger und jede Bürge­rin der DDR konsul­tierte durch­schnitt­lich zehn­mal in einem Jahr einen ambu­lan­ten Arzt oder eine ambu­lante Ärztin. Auf einen ärzt­li­chen Arbeits­platz kamen 4,8 andere Mitar­bei­ter und Mitar­bei­te­rin­nen. 1989 gab es 13.690 ambu­lante Einrich­tun­gen in der DDR.

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Eine Heraus­for­de­rung für die ambu­lante medi­zi­ni­sche Betreu­ung bedeu­tete die Gewähr­leis­tung einer Versor­gung in länd­li­chen Gebie­ten mit gerin­ger Einwoh­ner­zahl und dörf­li­chen Struk­tu­ren. Der Land­be­völ­ke­rung, die in größe­rer Entfer­nung zu den Gesund­heits­ein­rich­tun­gen in den Städ­ten lebte, sollte der selbe Zugang ermög­licht werden wie der städ­ti­schen Bevöl­ke­rung. So wurde baulich schon Anfang der 1950er Jahre der Typ des soge­nann­ten Land­am­bu­la­to­ri­ums entwi­ckelt und an vielen Stand­or­ten gebaut. Sie hatten wiederum Außen­stel­len mit zeit­wei­li­ger ärzt­li­cher Beset­zung. In vielen Dörfern sicher­ten nieder­ge­las­sene Ärztin­nen und Ärzte, später auch staat­li­che Arzt­pra­xen eine Grund­be­treu­ung, oft mit Sprech­stun­den an ausge­wähl­ten Tagen und Hausbesuchen.

Die Gemein­de­schwes­ter stellte eine hoch­qua­li­fi­zierte, aner­kannte Berufs­gruppe dar, die ihren Einzugs­be­reich und die Einwoh­ner und deren sozia­len Status gut kannte, wich­tige medi­zi­ni­sche Leis­tun­gen in der Regel mit einem Haus­be­such erle­digte, so Kontrol­len, Verbände, die Verab­rei­chung von Medi­ka­men­ten, auch von Injek­tio­nen. Sie veran­lass­ten, wenn erfor­der­lich, ärzt­li­che Hilfe.

Die Anzahl dieser Ambu­la­to­rien mit bis zu drei Arzt­plät­zen stieg von 1953 bis 1961 von 250 auf schon 377, 1989 bestan­den schließ­lich 433. Paral­lel wurde das vorhan­dene Netz von Gemein­de­schwes­tern­sta­tio­nen vergrö­ßert. Schon 1953 gab es 3.571 solcher Statio­nen, auch um den Ärzte­man­gel etwas abzu­fan­gen. Ihre Zahl entwi­ckelte sich von 4.585 im Jahr 1961 über 5.061 in 1975 auf schließ­lich 5.585 bis zum Ende der DDR 1989.

„Von Anfang an gab es in der Arbeit der Gemein­de­schwes­tern keine Tren­nung von Kran­ken­pflege und Sozi­al­ar­beit. Als 1958 das Sozi­al­we­sen dem Gesund­heits­we­sen ange­schlos­sen wurde, war das für die Gemein­de­schwes­tern völlig logisch. … In Dörfern, in denen es keinen Arzt gab, war die Gemein­de­schwes­ter für alles verant­wort­lich, was Gesund­heit, Sozia­les und Hygiene betraf. Manche wurden in den Rat der Gemeinde aufge­nom­men, einige auch stell­ver­tre­tende Bürgermeisterinnen.“

Nach 1989/90 wurde rigo­ros die Über­stül­pung des Modells der alten Bundes­re­pu­blik auf die DDR betrie­ben. Die von Dr. Hein­rich Niemann als Gutach­ter im Gesund­heits­aus­schuss des Deut­schen Bundes­ta­ges im Jahre 1991 getrof­fene Fest­stel­lung: „Die Liqui­die­rung der Poli­kli­ni­ken ist der gesund­heits­po­li­ti­sche Sünden­fall der Verei­ni­gung“, ist ein auch heute noch zutref­fen­des Urteil. Zwar voll­zog sich in der Bundes­re­pu­blik in den späten 1990er Jahren ein Wandel im ambu­lan­ten Bereich: Es wurde recht­lich möglich, im ambu­lan­ten Bereich als ange­stell­ter Arzt und ange­stellte Ärztin tätig zu sein, jedoch in den meis­ten Fällen als Beschäf­tigte einer priva­ten Einrich­tung wie etwa in den seit­dem in größe­rer Zahl entstan­de­nen soge­nann­ten Medi­zi­ni­schen Versor­gungs­zen­tren (MVZ). Die MVZ sind aber einge­bun­den in Gesund­heits- und Kran­ken­kas­sen­sys­teme, die weiter­hin wesent­lich von einer gewerb­li­chen Ausrich­tung geprägt sind. Damit werden solchen Struk­tu­ren enge Gren­zen und feste Abhän­gig­kei­ten gesetzt, die eine tatsäch­li­che Annä­he­rung an das System der Poli­kli­ni­ken verhin­dern. Statt ein einheit­li­ches und koope­ra­ti­ves System zu gewähr­leis­ten, arbei­ten die MVZ auto­nom und unter dem Druck der Profitabilität.

6. Gesundheitsschutz in den Betrieben

Die Bedin­gun­gen des Gesund­heits­schut­zes im wirt­schaft­li­chen Bereich zeugen neben der Poli­kli­nik wohl mit am deut­lichs­ten von der verän­der­ten gesell­schaft­li­chen Umgangs­weise mit Fragen der Gesund­heit. Welches Gewicht in der DDR die Frage hatte, wie aus medi­zi­ni­scher Sicht der Schutz der Beschäf­tig­ten in den Betrie­ben orga­ni­siert werden sollte, zeigt sich schon darin, dass der entspre­chende SMAD-Befehl 234 von 1947 einige Wochen vor dem Befehl 272 zur ambu­lan­ten medi­zi­ni­schen Betreu­ung erfolgte: In allen Betrie­ben ab 200 Beschäf­tig­ten waren Sani­täts­stel­len, in den Betrie­ben mit über 5.000 Beschäf­tig­ten Betriebs­po­li­kli­ni­ken einzu­rich­ten. Für die Räume, Einrich­tung und Betriebs­kos­ten waren die Betriebe verant­wort­lich, für die ärzt­li­che Versor­gung und medi­zi­ni­sche Ausstat­tung die Sozialversicherung.

Schon hier wurde ein entschei­den­des Prin­zip ange­legt, das den Gesund­heits­schutz in den Betrie­ben in der DDR prägen sollte: Das Betriebs­ge­sund­heits­we­sen und damit die arbeits­hy­gie­ni­sche und arbeits­me­di­zi­ni­sche Über­wa­chung in den Betrie­ben war struk­tu­rell dem staat­li­chen Gesund­heits­we­sen zuge­ord­net und unter­stellt und sollte und konnte so unab­hän­gig von den Betrie­ben wirken. Das Ziel war, alle Betriebe und damit alle Beschäf­tig­ten zu erfas­sen, um so einen umfas­sen­den betrieb­li­chen Arbeits- und Gesund­heits­schutz zu errei­chen. Der entschei­dende Unter­schied zur heuti­gen Praxis betriebs­ärzt­li­cher Arbeit in kapi­ta­lis­ti­schen Ländern ist, dass mit ihr die Unter­neh­mens­in­ter­es­sen, nicht die der Beschäf­tig­ten durch­ge­setzt werden. Nicht zuletzt die umfas­sende gesetz­li­che Absi­che­rung der Beschäf­tig­ten in Fragen der Gesund­heit, die von den Gewerk­schaf­ten umge­setzt und konti­nu­ier­lich geprüft wurde, zeigt, dass die Inter­es­sen der Werk­tä­ti­gen den Bereich der Wirt­schaft bestimmten.

§2 (4) Das Arbeits­recht ist darauf gerich­tet, die Arbeits- und Lebens­be­din­gun­gen der Werk­tä­ti­gen in den Betrie­ben plan­mä­ßig zu verbes­sern, insbe­son­dere den Schutz der Gesund­heit und Arbeits­kraft zu erhö­hen, die soziale und gesund­heit­li­che sowie geis­tig kultu­relle Betreu­ung auszu­bauen und die Voraus­set­zun­gen für die sinn­volle Frei­zeit­ge­stal­tung und Erho­lung der Werk­tä­ti­gen zu erwei­tern. Es garan­tiert den Werk­tä­ti­gen die mate­ri­elle Versor­gung bei Krank­heit, Inva­li­di­tät und im Alter.

 

§74 (3) Der Betrieb hat plan­mä­ßig gesund­heits­ge­fähr­dende Arbeits­be­din­gun­gen an den Arbeits­plät­zen zu vermin­dern und die Anzahl der Arbeits­plätze mit körper­lich schwe­ren sowie einsei­tig belas­ten­den Arbei­ten einzuschränken.

 

§201. (1) Der Betrieb ist verpflich­tet, den Schutz der Gesund­heit und Arbeits­kraft der Werk­tä­ti­gen vor allem durch die Gestal­tung und Erhal­tung siche­rer, erschwer­nis­freier sowie die Gesund­heit und Leis­tungs­fä­hig­keit fördern­der Arbeits­be­din­gun­gen zu gewährleisten.

 

§207. Werk­tä­tige, die eine körper­lich schwere oder gesund­heits­ge­fähr­dende Arbeit über­neh­men sollen, sind vor Aufnahme der Tätig­keit und in regel­mä­ßi­gen Abstän­den entspre­chend den Rechts­vor­schrif­ten ärzt­lich zu unter­su­chen. Das glei­che gilt für Werk­tä­tige, die eine Tätig­keit ausüben, für die die stän­dige gesund­heit­li­che Über­wa­chung in Rechts­vor­schrif­ten fest­ge­legt ist. Die Unter­su­chun­gen sind für die Werk­tä­ti­gen kostenlos.

 

§293. (1) Die Kontrolle über den Gesund­heits- und Arbeits­schutz in den Betrie­ben wird vom Freien Deut­schen Gewerk­schafts­bund durch die Arbeits­schutz­in­spek­tio­nen ausgeübt. 

Eigens dafür zustän­dige Einrich­tun­gen, die Betriebs­po­li­kli­ni­ken und
-ambu­la­to­rien und Betriebs­sa­ni­täts­stel­len, mit insge­samt 19.000 Beschäf­tig­ten waren 1989 für den medi­zi­ni­schen Arbeits­schutz von etwa 7,5 Mio. Werk­tä­ti­gen in 21.550 Betrie­ben tätig. Das waren 87,4 % aller Berufs­tä­ti­gen der DDR. Etwa jeder siebente ambu­lante Arzt arbei­tete hier. Zudem waren in diesem Bereich etwa 1.000 Fach­ärzte und ‑ärztin­nen für Arbeitshygiene/Arbeitsmedizin sowie 1.200 für den medi­zi­ni­schen Arbeits­schutz weiter­ge­bil­dete Natur­wis­sen­schaft­le­rin­nen und ‑wissen­schaft­ler und Inge­nieure tätig, so in den arbeits­me­di­zi­ni­schen Spezi­al­ab­tei­lun­gen größe­rer Poli­kli­ni­ken, in den ärzt­lich gelei­te­ten Arbeits­hy­gie­neinspek­tio­nen oder in Insti­tu­ten. Zum Vergleich: in der BRD gab es bei gut vier­mal höhe­rer Ärzte­zahl nur 1.169 Arbeits­me­di­zi­ne­rin­nen und ‑medi­zi­ner.

Neben allge­mei­nen medi­zi­ni­schen Leis­tun­gen und den Tauglichkeits‑, Einstel­lungs- und Über­wa­chungs­un­ter­su­chun­gen erfolgte eine gezielte Dispen­saire­be­treu­ung für die Beschäf­tig­ten an expo­nier­ten Arbeits­plät­zen, also an Arbeits­or­ten, die einer erhöh­ten Umwelt­be­las­tung ausge­setzt sind. Die Zurück­drän­gung von Berufs­krank­hei­ten und damit auch der Inva­li­di­sie­rung war ein Schwer­punkt. Die Eingren­zung von Arbeits­be­las­tun­gen wurde vorran­gige Aufgabe. Dem diente auch die seit 1981 verschärfte Bericht­erstat­tungs­pflicht der Betriebe über Stand und Redu­zie­rung expo­nier­ter Arbeits­plätze. Die große Beschäf­tig­ten­gruppe im Verkehrs­we­sen von etwa 500.000 Menschen wurde vom Verkehrs­me­di­zi­ni­schen Dienst als eigen­stän­dige staat­li­che Struk­tur betriebs­ärzt­lich betreut.

Ein dem Minis­te­rium unter­stell­tes Zentral­in­sti­tut für Arbeits­me­di­zin mit einer Klinik und Poli­kli­nik für Berufs­krank­hei­ten, das aus dem Zentral­in­sti­tut für Sozial- und Gewer­be­hy­giene hervor­ge­gan­gen war, erforschte Fragen des medi­zi­ni­schen Arbeits­schut­zes und fungierte als eine Leit­ein­rich­tung. Nach 1990 wurde nur ein Bruch­teil dieser Struk­tur erhal­ten trotz der Zusage des Bundes­prä­si­den­ten Richard von Weiz­sä­cker im Jahr 1990, dass das Insti­tut „in einem geein­ten Deutsch­land als leis­tungs­fä­hige Einrich­tung erhal­ten werden“ soll.

Paral­lel zum Zentral­in­sti­tut bestan­den in den Bezir­ken und meis­ten Krei­sen staat­li­che und fach­ärzt­lich gelei­tete Arbeits­hy­gie­neinspek­tio­nen, die die im Verant­wor­tungs­be­reich liegen­den Betriebe auf die Einhal­tung der Normen und fest­ge­leg­ten Grenz­werte bei Schad­stof­fen oder ande­ren Belas­tun­gen zu kontrol­lie­ren hatten. Von den 7,5 Mio. betreu­ten Arbei­tern und Ange­stell­ten befan­den sich etwa 3,34 Mio. in arbeits­me­di­zi­ni­scher Dispen­saire­be­treu­ung. Etwa ein Fünf­tel (1,69 Mio.) arbei­te­ten noch an Arbeits­plät­zen, die durch Schad­stoffe und Belas­tun­gen beein­träch­tigt waren. Diese Fakto­ren reich­ten vom Lärm, schwe­rer körper­li­cher Arbeit, Vibra­tio­nen, chemi­schen Schad­stof­fen, Stäu­ben bis hin zu Hitze­be­las­tung und wurden exakt fach­lich aufgegliedert.

Eine Arbeits­hy­gie­neinspek­tion misst Lärm‑, Temperatur‑, Feuch­tig­keits- und Licht­ver­hält­nisse. Mit der seit 1981 einge­führ­ten umfas­sen­den Berichts­pflicht über die gesund­heit­lich expo­nier­ten Arbeits­plätze und ihren Abbau entstand eine solide Daten­grund­lage für die Kontrolle, den Schutz und die gezielte Betreu­ung der betrof­fe­nen Beschäf­tig­ten und zugleich für eine stär­kere Einfluss­nahme auf Poli­tik und Betriebe, diese schäd­li­chen Wirkun­gen abzu­bauen und möglichst zu vermeiden.

Gerade weil durch tech­no­lo­gi­sche Rück­stände mancher Betriebe oder durch die auf Braun­koh­len­ba­sis erfol­gende Ener­gie­ver­sor­gung mit der Staub­be­las­tung die Expo­si­tion in der DDR nicht den tech­nisch erreich­ba­ren Stand hatte, war das Vorge­hen der arbeits­hy­gie­ni­schen Über­wa­chung sehr wich­tig und konflikt­reich. Beson­ders galt es, soge­nannte Ausnah­me­ge­neh­mi­gun­gen für Grenz­wert­über­schrei­tun­gen zu redu­zie­ren. Der lang­jäh­rige Gesund­heits­mi­nis­ter der DDR Ludwig Meck­lin­ger beschreibt an diesem Sach­ver­halt ein Dilemma von Gesund­heits­po­li­tik, der durch äußere Fakto­ren, Abhän­gig­kei­ten und wirt­schaft­li­che Anfor­de­run­gen Gren­zen gesetzt werden.

Neben Unter­su­chun­gen zu den Auswir­kun­gen körper­li­cher Arbeit auf die physi­sche Gesund­heit wurde dem Gebiet der Arbeits­psy­cho­lo­gie beson­dere Aufmerk­sam­keit geschenkt. Bedeu­tende Ergeb­nisse lieferte hier der Arbeits­psy­cho­loge Winfried Hacker. Haupt­ge­gen­stand seiner Forschung war die psychi­sche Regu­la­tion der Arbeits­tä­tig­keit vor dem Hinter­grund der Notwen­dig­keit der Produk­ti­vi­täts­stei­ge­rung zur besse­ren Bedürf­nis­be­frie­di­gung im Sozia­lis­mus. Arbeit sollte nach ihm so gestal­tet werden, dass die Gesund­heit der Arbei­ten­den nicht nur erhal­ten bleibt, sondern eine Persön­lich­keits­ent­wick­lung im Sinne eigen­stän­di­ger Hand­lungs­re­gu­la­tion (Einfluss, Entschei­dun­gen etc.) ermög­licht. Von Hacker und seinem Team wurden daher Verfah­ren entwi­ckelt, um poten­ti­ell gesund­heits- und entwick­lungs­för­dernde objek­tive Tätig­keits­merk­male heraus­zu­stel­len und die subjek­tiv wahr­ge­nom­mene Auswir­kung zu messen. Wenn­gleich Hackers Vorschläge noch nicht in größe­rem Maße in der Praxis umge­setzt werden konn­ten, setzte seine Forschung Maßstäbe in der Arbeits­psy­cho­lo­gie, die auch außer­halb der DDR rezi­piert wurde und wird – wobei unter kapi­ta­lis­ti­schen Bedin­gun­gen die Stei­ge­rung der Effek­ti­vi­tät der Arbeits­ab­läufe und nicht die Persön­lich­keits­ent­wick­lung der Beschäf­tig­ten entschei­den­des Motiv ist.

In Anbe­tracht der heuti­gen unre­gu­lier­ten Verschär­fun­gen von Arbeits­be­din­gun­gen hat eine komplette arbeits­hy­gie­ni­sche Über­wa­chung ebenso wie eine gezielte und fach­lich unab­hän­gige betriebs­ärzt­li­che Versor­gung – trotz vieler Fort­schritte in den Produk­ti­ons­pro­zes­sen selbst – ihre Bedeu­tung nicht verlo­ren. Neue Expo­si­tio­nen und neue Gesund­heits­be­las­tun­gen, so im Zusam­men­hang mit digi­ta­len Arbeits­plät­zen, in der Land­wirt­schaft oder der Lebens­mit­tel­in­dus­trie treten eben­falls hervor. Die Erfah­run­gen der DDR blei­ben dafür nicht nur gültig. Sie zeigen auch auf, dass es die Möglich­keit eines völlig ande­ren Umgangs mit dem Gesund­heits­schutz am Arbeits­platz geben kann.

7. Konzept und Praxis des Kinder- und Jugendgesundheitsschutzes

In der DDR wurde ein Konzept und ein funk­tio­nie­ren­des Netz­werk einer alle Kinder und Jugend­li­chen errei­chen­den medi­zi­ni­schen Betreu­ung entwi­ckelt. Dazu gehör­ten neben den über 3.400 in Poli­kli­ni­ken, Ambu­la­to­rien, Arzt­pra­xen und Kinder­kli­ni­ken täti­gen Kinder­ärz­tin­nen und ‑ärzten, deren Zahl sich seit 1972 mehr als verdop­pelt hatte, auch etwa 2.300 Kinder­zahn­ärz­tin­nen und ‑ärzte sowie 858 Schwan­ge­ren­be­ra­tungs­stel­len und 9.700 Mütter­be­ra­tungs­stel­len. Etwa 400 Jugend­ärz­tin­nen und ‑ärzte leis­te­ten in geson­der­ten Abtei­lun­gen vorbeu­gende Arbeit in Kinder­gär­ten und Schu­len bis hin zur Berufs­aus­bil­dung. Der Anteil dieser Berufs­grup­pen war deut­lich größer als in der BRD. Damit bestimmte die DDR das inter­na­tio­nale Niveau mit.

Kinder­ärzt­li­che Unter­su­chung im Land­am­bu­la­to­rium: Neben dem recht­zei­ti­gen Erken­nen von gesund­heit­li­chen Auffäl­lig­kei­ten war auch die Fest­stel­lung der Schul­fä­hig­keit Teil der Vorsorge- und Reihen­un­ter­su­chun­gen. Eine Doku­men­ta­tion all dieser Befunde und Daten zur Gesund­heit und Entwick­lung beglei­tete ein Kind von der Geburt bis zur Schul­ent­las­sung. Die Doku­men­ta­tion befand sich vertrau­lich in ärzt­li­cher Hand.

Der Kinder- und Jugend­ge­sund­heits­schutz konnte sich auf starke recht­li­che Grund­la­gen in der Verfas­sung und einschlä­gige Gesetze stüt­zen, etwa dem Gesetz über den Mutter- und Kinder­schutz und die Rechte der Frau von 1950, dem Fami­li­en­ge­setz­buch der DDR und dem Gesetz über das einheit­li­che sozia­lis­ti­sche Bildungs­sys­tem von 1965 sowie das Gesetz über die Unter­bre­chung der Schwan­ger­schaft als Beitrag zur Selbst­be­stim­mung der Frau und einer selbst­be­stimm­ten Fami­li­en­pla­nung von 1972. Die zügige Durch­set­zung und verläss­li­che Kontrolle der Umset­zung dieser gesetz­li­chen Bestim­mun­gen wurde durch die in allen Betrie­ben und Insti­tu­tio­nen tätige gewerk­schaft­li­che Orga­ni­sa­tion des Freien Deut­schen Gewerk­schafts­bun­des (FDGB) gewähr­leis­tet, etwa in Form von Verträ­gen zwischen Gewerk­schaft und Betriebs­lei­tung. Zudem regel­ten spezi­elle Rechts­ver­ord­nun­gen sehr genau die Aufga­ben im Bereich des Kinder- und Jugendgesundheitsschutzes.

Das 1966 zunächst als Zentral­stelle gegrün­dete und bis 1973 ausge­baute Zentral­in­sti­tut für Hygiene des Kindes- und Jugend­al­ters konnte eine auch inter­na­tio­nal beach­tete eigen­stän­dige wissen­schaft­li­che Forschung zur Gesund­heit, Entwick­lung und Erzie­hung im frühen Kindes­al­ter entwi­ckeln und eine fach­li­che Leit­funk­tion ausüben. Es konnte erreicht werden, dass in der DDR, begon­nen bei der Schwan­ger­schaft, prak­tisch jedes Kind regel­mä­ßig nicht nur ärzt­lich unter­sucht wurde, sondern bei Bedarf unmit­tel­bar eine Behand­lung oder spezi­elle Betreu­ung vermit­telt bekam. Dies wurde ermög­licht durch eine Reihe von aufein­an­der abge­stimm­ten Maßnah­men, darun­ter etwa regel­mä­ßige Vorsorge- und Reihen­un­ter­su­chun­gen aller Kinder von der Geburt bis ins Erwach­se­nen­al­ter, denen eine ebenso umfas­sende Arbeit in der Schwan­ge­ren­be­ra­tung vorausging.

Auch die Entwick­lung von Dispen­saire-Program­men für all dieje­ni­gen Kinder, bei denen gesund­heit­li­che Probleme oder Beein­träch­ti­gun­gen fest­ge­stellt wurden, war eine dieser Maßnah­men und nicht zuletzt ein Programm für die Impfun­gen gegen Tuber­ku­lose, Teta­nus und die soge­nann­ten Kinder­krank­hei­ten wie Polio­mye­li­tis, Masern oder Keuch­hus­ten. Teil dieser Maßnah­men waren auch die Einbe­zie­hung der gesund­heit­li­chen, sozia­len und gesell­schaft­li­chen Anfor­de­run­gen an die Kinder­ein­rich­tun­gen, vor allem an die Kinder­krip­pen, und die Erfor­schung der früh­kind­li­chen Entwick­lung, insbe­son­dere der Adapt­a­ti­ons­pro­zesse des Kindes an seine fami­liäre und soziale Umwelt und ihre prak­ti­sche Berück­sich­ti­gung im Alltag der Arbeit mit den Eltern und in den Kinderkrippen.

Wie ernst diese Fragen genom­men wurden, zeigen die Einrich­tung und die Arbeits­weise der auch inter­na­tio­nal heraus­ra­gen­den Kommis­sio­nen für Säug­lings- und Kinder­sterb­lich­keit. Sie wurden schon 1957 ins Leben geru­fen, um jeden Ster­be­fall kritisch auszu­wer­ten und Lehren für die prak­ti­sche Arbeit zu erken­nen. Dieser Kommis­sion gehör­ten verant­wort­li­che Ärztin­nen und Ärzte (Kinder­ärzte, Frau­en­ärzte, Jugend­ärzte, Fürsor­ger) und andere Fach­ex­per­tin­nen und ‑exper­ten an. Es wurde rück­halt­los der Frage nach­ge­gan­gen, ob jeder einzelne Todes­fall nach Prüfung aller Unter­la­gen vermeid­bar, bedingt vermeid­bar und nicht vermeid­bar war. Das verlangte eine fach­lich konse­quente, offene, möglichst umge­hende Arbeits­weise. So konn­ten auch Schwach­punkte erkannt, prak­ti­sche Verän­de­run­gen umge­setzt und Fragen an die Forschung gestellt werden. Diese bewährte Art von fall­be­zo­ge­ner wissen­schaft­li­cher Kommis­si­ons­ar­beit wurde nach 1990 nicht weiter­ge­führt. Der paral­lele Aufbau eines inter­dis­zi­pli­nä­ren, ergeb­nis­rei­chen Forschungs­pro­jekts zur Neuge­bo­re­nen­heil­kunde (Neona­to­lo­gie) und die Einrich­tung des ersten Lehr­stuhls für Neona­to­lo­gie in Europa unter­streicht den Rang dieser Aufga­ben in der DDR.

Doch der Kinder- und Jugend­schutz beschränkte sich eben nicht nur auf medi­zi­ni­sche Behand­lun­gen, sondern wurde weiter gefasst. So wurden in der DDR aus histo­ri­schen und medi­zi­ni­schen Grün­den Kinder­krip­pen der Zustän­dig­keit des Gesund­heits- und nicht des Volks­bil­dungs­mi­nis­te­ri­ums unter­stellt und betraf auch Kinder­gär­ten und Schu­len, denen Kinder- und Jugend­ärz­tin­nen und ‑ärzte fest zuge­teilt waren, um Unter­su­chun­gen und Impfun­gen vorzu­neh­men. Als Kinder­krippe wurden und werden die Einrich­tun­gen zur Betreu­ung von Kindern im Alter bis zu drei Jahren bezeich­net. In der DDR besuch­ten 1990 etwa 80 % der in Frage kommen­den Kinder eine Krippe, bei den Kinder­gär­ten war dieser Grad noch höher. Dieses hohe Platz­an­ge­bot war inter­na­tio­nal einma­lig. 1956 gab es für etwa 10 % der Kinder einen solchen Platz. Schritt­weise wurden die Einrich­tun­gen geschaf­fen. Sie ermög­lich­ten den Frauen, einer Arbeit nach­zu­ge­hen und sich auch ökono­misch selb­stän­dig zu entwickeln.

Der psycho­lo­gisch und pädago­gisch rich­tige Umgang mit den Kindern gehörte zu den Schwer­punk­ten der beruf­li­chen Bildung der Krip­pen­er­zie­he­rin­nen. Jede Kinder­krippe und entspre­chend jeder Kinder­gar­ten wurde regel­mä­ßig einmal in der Woche von der zustän­di­gen Kinder­ärz­tin oder dem zustän­di­gen Kinder­arzt besucht, fällige Impfun­gen durch­ge­führt, auffäl­lige Kinder ange­se­hen, mit der Krip­pen­lei­te­rin gege­be­nen­falls Rück­spra­chen mit den Eltern verab­re­det, sodass es einen stets aktu­el­len Kennt­nis­stand über die Einrich­tung gab.

In der DDR wurden strenge Norma­tive für den Betreu­ungs­ab­lauf, den Bau und die dazu­ge­hö­ren­den Frei­flä­chen von Kinder­ein­rich­tun­gen entwi­ckelt und durch­ge­setzt. So verfüg­ten z.B. die neuge­bau­ten Einrich­tun­gen in den großen Wohnungs­neu­bau­ge­bie­ten wie hier in Rostock über große Freiflächen.

Mit den Kinder­krip­pen befasste sich regel­mä­ßig eine der inter­dis­zi­pli­när zusam­men­ge­setz­ten Arbeits­ge­mein­schaf­ten inner­halb der Medi­zi­ni­schen Fach­ge­sell­schaft für Pädia­trie. Sie umfasste bis zu 150 Teil­neh­mer (Krip­pen­er­zie­he­rin­nen, Ärztin­nen und Ärzte) und setzte sich mit wissen­schaft­li­chen und prak­ti­schen Themen der Kinder­krip­pen ausein­an­der, erar­bei­tete Vorschläge an die poli­ti­schen Gremien, so für aktua­li­sierte Rechts­vor­schrif­ten, und regte Modell­pro­jekte an.

Die heut­zu­tage zumeist den Eltern und dem Geld­beu­tel über­las­sene Kinder­zahn­pflege und Entwick­lung eines gesun­den Gebis­ses war durch regel­mä­ßige Betreu­un­gen in den Kinder­gär­ten und Schu­len eben­falls in den Kinder- und Jugend­ge­sund­heits­schutz inte­griert und erreichte mit fahr­ba­ren Zahn­arz­tam­bu­lan­zen auch Kinder in länd­li­chen Gebie­ten. Die umfas­sende einheit­li­che gesund­heit­li­che Versor­gung war, neben ande­ren Fakto­ren des Bildungs- und Erzie­hungs­we­sens der DDR, ein wich­ti­ger Baustein dafür, die Entwick­lung der Kinder unab­hän­gig vom sozia­len Status der Eltern zu ermöglichen.

7.1. Impfprophylaxe

Unbe­strit­ten sind die Erfolge der DDR bei der Impf­pro­phy­laxe. Aufbau­end auf der 1874 im Deut­schen Reich als Pflicht einge­führ­ten Pocken­schutz­imp­fung, wurde nach 1945 das Impfen in der DDR und der BRD recht­lich und prak­tisch unter­schied­lich gehand­habt. In der DDR gab es, wie auch in ande­ren sozia­lis­ti­schen und west­li­chen Ländern, seit Beginn der 1950er Jahre Pflicht­imp­fun­gen für Kinder. In der Bundes­re­pu­blik wurden Impf­emp­feh­lun­gen der Stän­di­gen Impf­kom­mis­sion ohne recht­li­che Verbind­lich­keit für die Bevöl­ke­rung ausge­spro­chen, die jedoch Ärztin­nen und Ärzte durch­zu­füh­ren hatten und bezahlt wurden. Der Einfüh­rung als Pflicht­imp­fung gingen sorg­fäl­tige Unter­su­chun­gen und Abwä­gun­gen voraus, einschließ­lich der Orien­tie­run­gen der WHO. Der vom Gesund­heits­mi­nis­te­rium fest­ge­legte Impf­ka­len­der wurde ange­passt. Wich­tige Impfun­gen, so gegen die Virus­grippe, blie­ben frei­wil­lig. Es gab wie üblich Impf­an­for­de­run­gen und ‑verpflich­tun­gen für bestimmte Berufe oder auch für Auslands­auf­ent­halte (Tropen­me­di­zin).

Das Impfen erfolgte als selbst­ver­ständ­li­cher Teil der regel­mä­ßi­gen Reihen­un­ter­su­chun­gen von der Geburt bis ins Erwach­se­nen­al­ter sowie der medi­zi­ni­schen Betreu­ung der Kinder in den Krip­pen, Kinder­gär­ten, Schu­len und Feri­en­la­gern bis hin zur Lehr­aus­bil­dung oder zum Studium. Hier wird erst­ma­lig ein neuer Impf­stoff gegen Kinder­läh­mung in Form von Trop­fen eingesetzt.

Das Impfen der Kinder war in der DDR einge­bet­tet in ihr Konzept des Kinder- und Jugend­ge­sund­heits­schut­zes. Eltern, die ihre Kinder nicht impfen lassen woll­ten, vorran­gig aus reli­giö­sen Grün­den, hatten nach inten­si­ven Gesprä­chen eine Unter­schrift zu leis­ten, mit welcher die Weige­rung akzep­tiert wurde. Die einheit­li­che Orien­tie­rung der Ärztin­nen und Ärzte auf das Impfen in einem in der gesam­ten Gesell­schaft veran­ker­ten Gesund­heits­sys­tem war gemein­sam mit dem ausführ­li­chen aufklä­ren­den Gespräch des Arztes oder der Ärztin der entschei­dende Schlüs­sel für eine hohe Impf­be­reit­schaft. Die Kontrolle und möglichst voll­stän­dige Errei­chung des erfor­der­li­chen Durch­imp­fungs­gra­des gehörte zu den beruf­li­chen und gesetz­li­chen Pflich­ten im Gesund­heits­be­reich, beson­ders der Kreisärz­tin­nen und ‑ärzte und der jewei­li­gen Gesundheitsverwaltungen.

Die heutige Fokus­sie­rung der poli­ti­schen Diskus­sion auf die recht­li­che Frage des Für und Wider einer Impf­pflicht verkennt und unter­schätzt die damit verbun­dene entschei­dende prak­ti­sche Frage, ob und wie der Staat selbst seine Pflicht erfüllt, das Impfen für alle Bürge­rin­nen und Bürger gut und sicher zu ermög­li­chen und zu orga­ni­sie­ren. Darin bestand auch der wesent­li­che Unter­schied zwischen der DDR und der BRD. Trotz zeit­wei­li­ger Schwie­rig­kei­ten bei der Herstel­lung oder auch dem Import von Impf­stof­fen – so waren inter­na­tio­nal neue Mehr­fach­imp­fun­gen entwi­ckelt worden – wurde in der DDR bis 1990 der Impf­schutz der Kinder auf dem auch inter­na­tio­nal gefor­der­tem medi­zi­ni­schen Niveau gewähr­leis­tet. Die Einfüh­rung der Schutz­imp­fung gegen Tuber­ku­lose für schließ­lich alle Neuge­bo­re­nen, die Impfun­gen gegen Diph­the­rie, Teta­nus, Masern, Keuch­hus­ten und Polio verbun­den mit dem erfor­der­li­chen hohen Durch­imp­fungs­grad trugen dazu bei, dass in der DDR die Tuber­ku­lose 1990 prak­tisch keine Rolle mehr spielte, der letzte Polio­fall 1962 regis­triert wurde, die Diph­te­rie entschei­dend zurück­ge­gan­gen war, bei Masern der Impf­erfolg nach zeit­wei­li­gen Rück­schlä­gen mit den Erkennt­nis­sen zur geziel­ten Nach- und Wieder­ho­lungs­imp­fun­gen gefes­tigt wurde. Die Bereit­schaft, sich gegen Grippe impfen zu lassen, ist bis heute im Osten Deutsch­lands deut­lich höher als im Westen.

8. Internationalismus auf dem Gebiet der Gesundheit

Am 8. Mai 1973 konnte die DDR neben 145 ande­ren Staa­ten geach­te­tes, gleich­be­rech­tig­tes und akti­ves Mitglied der WHO werden, dabei war für die Mitglied­schaft in der WHO eine UNO-Mitglied­schaft gar nicht erfor­der­lich. Beson­ders die Bundes­re­pu­blik Deutsch­land (selbst seit 1951 in der WHO) verwehrte jedoch mit ihrem Allein­ver­tre­tungs­an­spruch dem Gesund­heits­we­sen der DDR eine frucht­brin­gende Zusam­men­ar­beit und einen gleich­be­rech­tig­ten Zugang zu inter­na­tio­na­len Gesundheitsressourcen.

Nach einer Welle der inter­na­tio­na­len Aner­ken­nung insbe­son­dere durch die Länder des Globa­len Südens wurde die DDR 1973 in die UNO aufge­nom­men und wirkte konstruk­tiv in deren Gremien und in Orga­ni­sa­tio­nen wie der UNESCO und WHO mit.

Die DDR wurde schließ­lich gewähl­tes Mitglied des Exeku­tiv­ra­tes bzw. des Forschungs­bei­ra­tes Europa der WHO, Gast­ge­be­rin der WHO-Regio­nal­ta­gung für Europa 1981 und mehre­rer WHO-Work­shops. Sie arbei­tete aktiv mit an den Stra­te­gien „Gesund­heit für alle bis 2000“, beson­ders zum „Primary Health Care“ Konzept der Welt­kon­fe­renz 1978 in Alma-Ata. So orga­ni­sierte sie einen Lehr­gang im glei­chen Jahr zur „Medi­zi­ni­schen Grund­be­treu­ung, insbe­son­dere der Land­be­völ­ke­rung“. Sie dele­gierte Exper­ten an die WHO und bildete „WHO-Stipen­dia­ten“ aus. 15 Medi­zi­ni­sche Einrich­tun­gen und Projekte waren als „WHO-Colla­bo­ra­ting Center“ für den wissen­schaft­li­chen und prak­ti­schen Erfah­rungs­aus­tausch zerti­fi­ziert. Dazu gehör­ten das Zentral­in­sti­tut für Arbeits­me­di­zin, Forschungs­in­sti­tute für Krebs, für Herz­kreis­lauf­krank­hei­ten oder das inter­na­tio­nal einma­lige Zentrum für diabe­tes­kranke Schwan­gere und Mütter Karls­burg, das WHO-Konsul­ta­ti­ons­zen­trum für Influ­enza, das Insti­tut für Wissen­schafts­in­for­ma­tion in der Medi­zin (IWIM) u.a. Schon 1983 gab es eine Veran­stal­tung mit der WHO an der neuge­grün­de­ten Sektion Stoma­to­lo­gie der Medi­zi­ni­schen Akade­mie in Erfurt über “Kommu­nale Dienste der Oralen Gesundheit“.

Die Zusam­men­ar­beit zwischen den sozia­lis­ti­schen Ländern und im RGW war sehr inten­siv, jedoch durch die unter­schied­lich star­ken Poten­tiale auch begrenzt. Die DDR lieferte viele Arznei­mit­tel und medi­zi­ni­sche Geräte in die Sowjet­union und andere Länder. Einige tausend Ärztin­nen und Ärzte aus der DDR erhiel­ten in diesen Ländern ihre Ausbil­dung. Mit west­li­chen Staa­ten wurden Gesund­heits­ab­kom­men zum beider­sei­ti­gen Nutzen abge­schlos­sen wie etwa 1974 mit der Bundes­re­pu­blik Deutsch­land. Die umfang­rei­chen Hilfe­leis­tun­gen der DDR für Länder des Globa­len Südens schlos­sen zahl­rei­che Projekte im Gesund­heits­we­sen ein. Dazu gab es mit über 40 Ländern und auch Befrei­ungs­or­ga­ni­sa­tio­nen wie etwa der SWAPO und dem ANC vertrag­li­che Abkommen.

Was zunächst als Zelt­la­za­rett star­tete, wurde schließ­lich zu einem Kran­ken­haus ausge­baut: In der nika­ra­gua­ni­schen Presse wird über die Fort­schritte bei der Errich­tung des „Hospi­tal Carlos Marx“ berich­tet. Das Kran­ken­haus, dessen Bau und Ausstat­tung mit Tech­nik, Perso­nal und Medi­ka­men­ten durch Spen­den­gel­der von DDR-Bürge­rin­nen und ‑Bürgern finan­ziert wurde, gilt als eines der größ­ten Soli­da­ri­täts­pro­jekte der DDR.

Das Spek­trum reichte von Liefe­run­gen von Arznei­mit­teln und medi­zi­ni­schen Ausrüs­tun­gen, Einsatz von Ärztin­nen und Ärzten sowie Schwes­tern und Pfle­gern bzw. deren Aus- und Weiter­bil­dung bis hin zum Aufbau und Betrieb von Kran­ken­häu­sern. Das Kran­ken­haus „Viet-Duc“ (Deutsch-Viet­na­me­si­sche Freund­schaft) in Hanoi wurde schon seit 1956 von der DDR ausge­stat­tet, das Kran­ken­haus „Carlos Marx“ in Nika­ra­gua in den 1980er Jahren errich­tet und zum größ­ten Teil medi­zi­nisch und tech­nisch durch die DDR betrie­ben. Zuletzt waren dort neben dem Ärzt­li­chen Direk­tor etwa 90 Mitar­bei­tende, darun­ter 25 Ärztin­nen und Ärzte und 23 mitt­lere medi­zi­ni­sche Fach­kräfte aus der DDR tätig. Von 1987 bis 1988 haben 56 Ärztin­nen und Ärzte und andere Fach­kräfte aus der DDR das Tropen­hos­pi­tal Metema in Äthio­pien für Dürre­op­fer komplett aufge­baut und betrie­ben. Angola erhielt 1975 aus Soli­da­ri­täts­spen­den 27 Kran­ken­fahr­zeuge. Ein Reha­bi­li­ta­ti­ons­zen­trum in Luanda versorgte Pati­en­tin­nen und Pati­en­ten mit Prothe­sen, vor Ort wurden neben ande­ren auch Pfle­ge­be­rufe und Ärztin­nen und Ärzte ausge­bil­det. In Kambo­dscha (Kran­ken­haus „17. April“), Mosam­bik (Chimoio und Tete) und Alge­rien (Frenda, Mahdia, Oran) waren Ärztin­nen und Ärzte und Pfle­gende einge­setzt, ebenso in der VDR Jemen (Aden) und in Guinea am Ortho­pä­disch-tech­ni­schen Zentrum in Cona­kry. Kinder­ärz­tin­nen und ‑ärzte waren in Tansa­nia an der Gewerk­schafts­kli­nik der NUTA (Natio­nale Gewerk­schaft der Arbei­ter Tangan­ji­kas) in Daressa­lam tätig.

Ein Schwer­punkt der Ausbil­dung an der medi­zi­ni­schen Fach­schule „Doro­thea Chris­tiane Erxle­ben“ (benannt nach der ersten deut­schen promo­vier­ten Ärztin) bildete die Medi­zin­päd­ago­gik. Durch sie soll­ten die Studie­ren­den befä­higt werden, Wissen an Auszu­bil­dende in ihren Heimat­län­dern zu vermit­teln und so den Aufbau eines eige­nen Gesund­heits­we­sens vor Ort voranbringen.

Aus diesen und weite­ren Ländern Afri­kas, Asiens und Latein­ame­ri­kas wurden Ärztin­nen und Ärzte zu Fach­ärz­ten weiter­ge­bil­det und jedes Jahr etwa 700 Pati­en­tin­nen und Pati­en­ten in der DDR behan­delt. Kran­ken­schwes­tern und andere mitt­lere medi­zi­ni­sche Berufe wurden beson­ders an der medi­zi­ni­schen Fach­schule in Qued­lin­burg ausge­bil­det, an die während der 30 Jahre ihres Bestehens etwa 2.000 Studie­rende aus über 60 Staa­ten und natio­na­len Befrei­ungs­be­we­gun­gen kamen. Unmit­tel­bare Hilfe und lang­fris­tige Selbst­er­mäch­ti­gung zeich­ne­ten die Soli­da­ri­täts­leis­tun­gen der DDR im medi­zi­ni­schen Bereich aus.

„Im Fleisch­kom­bi­nat wurden stets Vertrags­ar­bei­ter aus Polen, Moçam­bi­que, der Mongo­lei und ande­ren Staa­ten beschäf­tigt. Eigent­lich soll­ten nur gesunde, im Heimat­land unter­suchte Menschen in die DDR kommen. Trotz­dem muss­ten wir bei unse­ren Einstel­lungs­un­ter­su­chun­gen oft schwere Erkran­kun­gen der Lunge, Leber, Nieren u. a. fest­stel­len. Diese Pati­en­ten wurden dann nicht nach Hause „abge­scho­ben“, sondern fanden Aufnahme in Spezi­al­kli­ni­ken (Berlin-Buch) und wurden manch­mal mona­te­lang kosten­los behan­delt. Das war die prak­ti­sche Soli­da­ri­tät der DDR. Welch kras­ser Gegen­satz nach der „Wende“, als mich zum Beispiel ein verzwei­fel­ter Vater aus Russ­land mit seinem an einem Tumor erkrank­ten Kinde ansprach! Ärzte aus der Charité bezie­hungs­weise aus Berlin-Buch waren zur Opera­tion bereit, doch fehl­ten die finan­zi­el­len Mittel. Sehr oft wird heute in den Medien um Geld für schwer­kranke auslän­di­sche Kinder gebet­telt – das macht mich immer wieder trau­rig und wütend zugleich. Die „arme“ DDR hatte für diese huma­nis­ti­schen Gesten keine Bette­lei nötig!“

9. Warum ist der Sozialismus die beste Prophylaxe?

Eine Ausein­an­der­set­zung mit den gegen­wär­ti­gen Wider­sprü­chen und Proble­men der kapi­ta­lis­ti­schen Gesund­heits­sys­teme führt schnell auf die Grund­la­gen der gesell­schaft­li­chen Ordnung. Die privat­wirt­schaft­li­che Orga­ni­sa­ti­ons­weise des Gesund­heits­we­sens, von den privat nieder­ge­las­se­nen Ärztin­nen und Ärzten bis zur Kran­ken­haus­ge­sell­schaft, und der Zweck der Gewinner­wirt­schaf­tung muss letzt­lich eine umfas­sende Gesund­heits­vor­sorge dauer­haft beschrän­ken. Krank­hei­ten werden zur Ware, Pati­en­ten zu Kunden. Medi­zin- und Gesund­heits­for­schung blei­ben verein­zelt, unter­fi­nan­ziert und werden durch das System inter­na­tio­na­ler Konkur­renz, durch die Schran­ken des geis­ti­gen Eigen­tums begrenzt. Die Viel­zahl unab­hän­gig agie­ren­der, sowohl staat­li­cher wie priva­ter Akteure, die das Gesund­heits­we­sen bilden, wirken nicht effek­tiv inein­an­der, konkur­rie­ren gar gegen­ein­an­der und sind kaum mit den weite­ren Insti­tu­tio­nen der Gesell­schaft (Bildung, Kultur, Arbeit, etc.) verbun­den. Gesund­heits­ver­sor­gung funk­tio­niert vornehm­lich nach einem reak­ti­ven und nicht nach einem prophy­lak­ti­schen Prin­zip, große Teile der Mensch­heit sind allein aus finan­zi­el­len Grün­den fast gänz­lich von einem Gesund­heits­schutz ausgenommen.

„1993 kam die Zeit, als die Ärzte anfin­gen sich nieder­zu­las­sen. Meine Ärztin hatte ihren ersten Lehr­gang zum Selb­stän­dig­ma­chen. Sie sagte: „Ich muss jetzt mal erzäh­len, was ich gelernt habe: Es gibt drei Sachen, um mit der Selb­stän­dig­keit im neuen System zurecht­zu­kom­men. Erstens, wir müssen zu den Pati­en­ten immer lieb und nett sein, dass sie gerne zu uns kommen. Kein Problem, das sind wir doch immer. Das nächste ist aber wich­tig: Was können wir an dem Mann verdie­nen, was bringt er uns ein? Das dritte: Gesund werden darf er nicht.“ Und das ist mein durch­gän­gi­ges Gefühl im Gesund­heits­we­sen heute. Das sagt alles.“

Die Gesund­heits­po­li­tik der DDR weist einen Ausweg aus diesen vom Kapi­ta­lis­mus hervor­ge­ru­fe­nen Wider­sprü­chen auf, die auf der Abhän­gig­keit zu Markt­in­ter­es­sen beru­hen. Durch die Verän­de­rung der Eigen­tums­ver­hält­nisse in der gesam­ten Wirt­schaft konnte das Inter­esse nach Gesund­heit der Bevöl­ke­rung von der Abhän­gig­keit zur Privat­wirt­schaft und ihrem Zwang zur Profit­ori­en­tie­rung entkop­pelt werden und so unab­hän­gig zur Geltung kommen. Maxim Zetkin beschrieb daher den Sozia­lis­mus nicht ohne Grund auch als „radi­kalste und umfas­sendste Prophy­laxe“, denn er isolierte und elimi­nierte das Markt­in­ter­esse und ermög­lichte durch eine zentrale staat­li­che Orga­ni­sie­rung der Wirt­schafts- und Sozi­al­po­li­tik die umfas­sende Verbin­dung der Gesund­heits­po­li­tik mit allen Berei­chen der Gesell­schaft. Dadurch, dass alle Fragen der gesell­schaft­li­chen Aufga­ben in den demo­kra­ti­schen Struk­tu­ren des Staa­tes zusam­men­lie­fen, wurde es möglich, gesund­heits­po­li­ti­sche Ziel­stel­lun­gen in ein Verhält­nis beispiels­weise zu wirt­schaft­li­chen Zielen zu disku­tie­ren und vor allem verbind­lich zu entschei­den. Daraus erga­ben sich durch­aus hand­feste Konflikte und kompli­zierte Entschei­dungs­auf­ga­ben, aber die Möglich­keit zur Abwä­gung und Diskus­sion war erst­mals gegeben.

„Ich habe mein ganzes poli­ti­sches Leben hindurch … die Welt durch die Brille eines Arztes gese­hen, dem Armut, Elend und Krank­heit die Haupt­feinde sind. So bin ich zum Kommu­nis­mus gekom­men und so habe ich das Glück gehabt, in der DDR ein Gesund­heits- und Sozi­al­we­sen zu erle­ben, das ein groß­ar­ti­ges Rahmen­werk schuf, eine soziale und gesund­heit­li­che Vorsorge und Betreu­ung der Bevöl­ke­rung, wie ich sie nie zuvor gese­hen hatte … Ich bin der gewe­se­nen DDR gegen­über nicht kritik­los und verherr­li­che ihre Vergan­gen­heit nicht … Aber eines weiß ich mit Sicher­heit: Es hätte mich nie und nimmer von den Ideen des Sozia­lis­mus abge­drängt, denn zu ihnen bin ich über unaus­lösch­li­che Erfah­run­gen und Erleb­nisse im Kapi­ta­lis­mus gelangt … Die beste mensch­lichste und wissen­schaft­lichste Medi­zin bleibt letzt­lich hilf­los unter Bedin­gun­gen sozia­len Elends. Die heutige Welt liefert dafür die zwin­gends­ten und schreck­lichs­ten Beweise. Aber auch die Umkeh­rung des Satzes stimmt: Selbst das beste soziale Umfeld ist ohne eine wissen­schaft­lich und huma­nis­tisch hoch­ste­hende Medi­zin Krank­hei­ten gegen­über ohnmächtig.“

Der Unter­schied zu den Gesund­heits­sys­te­men des Kapi­ta­lis­mus hinge­gen verdeut­licht sich zuge­spitzt in der Gewich­tung und Ausprä­gung der Sozial- gegen­über der Indi­vi­du­al­me­di­zin, d.h. zwischen der Aufgabe, die gesell­schaft­li­chen Ursa­chen von Krank­hei­ten syste­ma­tisch zu erken­nen und zu bekämp­fen, gegen­über Maßnah­men, die den Blick auf das Indi­vi­duum fokus­sie­ren. Beides sind notwen­dige Perspek­ti­ven auf Krank­hei­ten. Aller­dings führt das Ausblen­den allge­mei­ner gesell­schaft­li­cher Zusam­men­hänge, in Hinblick auf den Gesund­heits­zu­stand der Bevöl­ke­rung, eine Gesell­schaft notwen­dig an eine Grenze zur Verbes­se­rung gesund­heit­li­cher Para­me­ter. Auch in der DDR gewan­nen in den 80er Jahren indi­vi­du­al­me­di­zi­ni­sche Ansätze an Bedeu­tung. Der wesent­li­che Charak­ter­zug der Ursa­chen­be­kämp­fung aber, den die Gesund­heits­po­li­tik u.a. durch das aktive Mitwir­ken von Ärztin­nen und Ärzten struk­tu­rell und konkret entwi­ckeln konnte, prägte das Gesund­heits­we­sen der DDR ihr 40-jähri­ges Bestehen hindurch.

Die sozi­al­hy­gie­ni­schen Grund­la­gen, auf denen dieses Gesund­heits­we­sen aufge­baut wurde, etablier­ten eine Gesund­heits­ver­sor­gung und ‑vorsorge, die wesent­li­che Entwick­lungs­rich­tun­gen fürs Heute aufzei­gen. Die Ausrich­tung auf die Vorbeu­gung von Krank­hei­ten und der Blick auf alle gesell­schaft­li­chen Berei­che ermög­lichte die wach­sende Verbes­se­rung des Lebens­stan­dards der Bevöl­ke­rung und die stetig verbes­serte Absi­che­rung elemen­ta­rer Grund­be­dürf­nisse und half dabei, exis­ten­zi­elle Ängste und ihre nega­ti­ven gesund­heit­li­chen Folgen für die Menschen zu bekämp­fen. Die prophy­lak­ti­sche Arbeit, die durch das umfas­sende Netz der Poli­kli­ni­ken nicht nur die Kinder- und Jugend­li­chen, sondern in zuneh­men­dem Maße alle Bürge­rin­nen und Bürger erfasst hatte, zeigt den gesamt­ge­sell­schaft­li­chen Charak­ter der Gesund­heits­po­li­tik der DDR. Das Bedürf­nis nach Erhal­tung, Förde­rung und Wieder­her­stel­lung der Gesund­heit wurde zu einer eigen­stän­di­gen poli­ti­schen Ziel­größe. Dabei ging es der DDR selbst­ver­ständ­lich auch um die Repro­duk­tion der Arbeits­kraft, einer Prämisse des kapi­ta­lis­ti­schen Gesund­heits­we­sens. Dadurch dass kapi­ta­lis­ti­sches Eigen­tum und somit wirt­schaft­li­che Privat­in­ter­es­sen elimi­niert waren, blieb der Gesund­heits­schutz aller­dings nicht länger auf eine kurz­fris­tige Wieder­her­stel­lung der reinen Arbeits­fä­hig­keit beschränkt. Erst­ma­lig wurde den arbei­ten­den Menschen, und darüber hinaus der gesam­ten Bevöl­ke­rung, eine umfas­sende und nach­hal­tige Gesund­heits­für­sorge ermöglicht.

Der Blick auf die Geschichte des DDR-Gesund­heits­we­sens wirft damit ganz grund­sätz­lich die Frage nach gesell­schaft­li­chen Prio­ri­tä­ten und poli­ti­schen Entwick­lungs­zie­len auf, die eine Gesell­schaft verfol­gen sollte. Selbst bei den infolge des Kalten Krie­ges, des atoma­ren Wett­rüs­tens und der wirt­schaft­li­chen Rück­stände begrenz­ten Möglich­kei­ten konnte die DDR einen unent­gelt­li­chen Zugang zur medi­zi­ni­schen Betreu­ung und wich­tige Elemente der Präven­tion und der Pati­en­ten­be­treu­ung aufbauen und aufrecht­erhal­ten. Ähnli­chen Widrig­kei­ten trotzt bis heute das sozia­lis­ti­sche Kuba nicht nur für die Gesund­heit der eige­nen Bevöl­ke­rung, sondern für Bedürf­tige welt­weit. Obwohl heute die moderne Medi­zin bereits in der Lage ist, seltenste Krank­hei­ten zu behan­deln, wird der Zugang zu Arznei­mit­teln, zu Wissen, Ressour­cen und zu neuen diagnos­ti­schen und thera­peu­ti­schen Wegen, die etwa durch die Digi­ta­li­sie­rung eröff­net werden, durch Eigen­tums­an­sprü­che und Profi­ter­wä­gun­gen verhin­dert. Eigent­lich heil­bare Krank­hei­ten oder Seuchen können in Entwick­lungs­län­dern nicht besiegt werden. „Weil Du arm bist, musst Du früher ster­ben“ erlangt bedrü­ckende Aktua­li­tät – auch in reichen Ländern.

Die Erfah­run­gen der DDR hinge­gen führen uns die Mach­bar­keit einer ande­ren Gesund­heits­po­li­tik vor Augen. Das Gesund­heits­we­sen der DDR war auf der Höhe seiner Zeit und der gesell­schaft­li­chen Möglich­kei­ten. Die Wissen­schaft ist seit­her fort­ge­schrit­ten, die huma­nis­ti­sche Praxis aber hält nicht Schritt. Die Gesund­heits­ver­sor­gung unter­liegt wieder den Geset­zen des Mark­tes und macht einen schar­fen, menschen­ver­ach­ten­den Unter­schied zwischen Arm und Reich. In der Bilanz der DDR steht, was der Dich­ter Peter Hacks über unsere Gegen­wart nicht sagen könnte: „Und keine Krank­heit, wenn sie heil­bar war, / Blieb von der Kunst der Ärzte unge­heilt.“ Das aber ist das hohe Ziel, hinter das wir in den kommen­den Kämp­fen mit unse­ren Forde­run­gen und Wünschen nicht zurück­ge­hen soll­ten. Das Beste für alle – so lautet die Aufgabe des sozia­lis­ti­schen Huma­nis­mus. Die Errun­gen­schaf­ten der DDR können uns dabei leiten.

INTERVIEWS

Irene *1940, ehema­lige Kran­ken­schwes­ter, arbei­tete in einer Poli­kli­nik, in der sport­me­di­zi­ni­schen Prophy­laxe und als Betriebs­schwes­ter in einem Ambulatorium.

Inter­view am 21. Juni 2021 in Berlin-Treptow.

 

Dr. Rüdi­ger Feltz *1958, prak­ti­zie­ren­der Arzt in der DDR und heute in der Bundes­re­pu­blik, Fach­arzt für Neurochirurgie.

Zoom-Inter­view am 25. Mai 2021 in Berlin/Erfurt und zwei­tes Inter­view am 28. Juli 2021 im Büro der IF DDR, Berlin.

 

Dr. Hein­rich Niemann *1944, arbei­tete als Fach­arzt für Sozi­al­hy­giene in der DDR, ab den 1990er Jahren Bezirks­stadt­rat für Gesund­heit in Marzahn-Hellersdorf.

Inter­view am 2. Juni 2021 im Büro der IF DDR, Berlin.

 

Dieser Text wurde in Zusam­men­ar­beit zwischen Dr. Hein­rich Niemann und der IF DDR erstellt. Die Ausfüh­run­gen zur Arbeits­psy­cho­lo­gie in der DDR wurden mit dem Arbeits­psy­cho­lo­gen Dr. Klaus Mucha erarbeitet.

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Verfas­sung der DDR. 9. April 1968.

 

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