Die für das Leben sterben – wie Hugo Chávez – kann man nicht tot nennen
Der neunte Newsletter (2023)
Liebe Freund*innen,
Grüße aus dem Büro von Tricontinental: Institute for Social Research.
Am 28. Oktober 2005 fand in der Nationalversammlung der Bolivarischen Republik Venezuela in Caracas eine besondere Veranstaltung statt. Bei dieser Veranstaltung am Geburtstag von Simón Rodríguez (dem Lehrer von Simón Bolívar) gab die venezolanische Regierung bekannt, dass fast 1,5 Millionen Erwachsene im Rahmen der Mission Robinson, einem zwei Jahre zuvor gestarteten Massenalphabetisierungsprogramm, lesen gelernt haben. Die Mission wurde nach Rodríguez benannt (der auch unter dem Pseudonym Samuel Robinson bekannt war).
Eine dieser Erwachsenen, María Eugenia Túa (70 Jahre), stand neben Präsident Hugo Chávez Frías und sagte: «Wir sind nicht mehr arm. Wir sind reich an Wissen». Die venezolanische Regierung baute die Mission Robinson auf der Grundlage einer kubanischen Lehrmethode für die Alphabetisierung von Erwachsenen namens Yo sí puedo («Ja, ich kann») auf, die von Dr. Leonela Relys Díaz vom Pädagogischen Institut für Lateinamerika und die Karibik (IPLAC) in Kuba entwickelt wurde. An diesem Tag erklärte Venezuela vor den Vereinten Nationen, dass sein Volk den Analphabetismus überwunden habe.
Ein Jahr zuvor, im Dezember 2004, sprach Chávez bei der Abschlussfeier von 433 Schüler*innen des Programms Yo sí puedo im Theater Teresa Carreño in Caracas. Die Mission Robinson, so Chávez, wird «eine Armee des Lichts organisieren», die die Alphabetisierung zu den Menschen bringt, wo immer sie leben, so «wie der Prophet zum Berg» geht. Chávez kommentierte den Bildungsweg einer Absolventin und beschrieb die Möglichkeiten, die die Alphabetisierung eröffnet: «Sie hat keine Zeit verschwendet und lernt bereits Mathematik und Geografie, Spanisch und Literatur. Und sie studiert die bolivarischen Ideen, weil sie lesen kann. Sie kann die Verfassung lesen. Sie kann die Schriften Bolívars lesen. Sie kann die Briefe lesen, die Bolívar geschrieben hat».
Der bolivarische Prozess organisierte die Verteilung von Weltliteratur und Sachbüchern an Bibliotheken, die in Arbeitervierteln eingerichtet wurden, um «uns mit Wissen zu wappnen», sagte Chávez. Den kubanischen Nationalhelden José Martí zitierend, reflektierte Chávez die Beziehung zwischen Bildung, Emanzipation und der Geschichte, die das venezolanische Volk schreibt: «Gebildet zu sein, um frei zu sein. Um zu wissen, wer wir sind, um unsere Geschichte genau zu kennen, die Geschichte, aus der wir kommen».
Für Rosa Hernández, eine der Absolventinnen, brachte die Mission «Klarheit, denn vorher herrschte Dunkelheit. Jetzt, wo ich lesen und schreiben kann, sehe ich alles klar». María Gutiérrez, Rosas Klassenkameradin, sagte, sie sei «dank Gott, meines Präsidenten und der Lehrer, die mich unterrichtet haben» in die «Armee des Lichts» gekommen.
Vor zehn Jahren, am 5. März 2013, starb Hugo Chávez in Caracas nach einem langen Kampf gegen den Krebs. Sein Tod erschütterte Venezuela, wo große Teile der verarmten Arbeiter*innen nicht nur um einen Präsidenten, sondern um den Mann trauerten, der ihr Comandante war. Als der Trauerzug mit Chávez den Bolívar-Platz passierte, erschallte in der Menge das Lied Los que mueren por la vida («Die für das Leben sterben») von Alí Primera aus dem Jahr 1976:
Die für das Leben sterben
kann man nicht tot nennen.
Und von diesem Moment an
ist es verboten, um sie zu weinen.
Es ist verboten zu weinen, sangen sie; nicht, weil sie nicht trauerten, sondern weil klar war, dass das Vermächtnis von Chávez nicht in seinem eigenen Leben zu suchen ist, sondern in der schwierigen Arbeit, die er für den Aufbau des Sozialismus geleistet hat.
Sechs Jahre nach Chávez’ Tod spazierte ich mit Mariela Machado durch den Kaikachi-Wohnkomplex, in dem sie lebte, im Viertel La Vega in Caracas. Während der ersten Amtszeit von Chávez bewohnten Mariela, ihre Familie und 91 weitere Familien ein Grundstück, das von einer früheren Regierung an Bauunternehmen vergeben worden war, aber leer stand. Diese Arbeiterfamilien – viele von ihnen waren Afro-Venezolaner*innen – hatten sich direkt an Chávez gewandt und darum gebeten, auf dem Grundstück Häuser bauen zu dürfen. «Könnt ihr das?», fragte Chávez sie. «Ja», sagte Mariela. «Wir haben diese Stadt gebaut. Wir können unsere eigenen Häuser bauen. Alles, was wir brauchen, sind Maschinen und Material». Und so bauten Mariela und ihre Genossen mit den Mitteln der Stadt ihre bescheidenen Wohnhäuser.
Vor dem Gemeindezentrum steht eine Chávez-Büste. Dort gibt es eine Bäckerei, die die Bewohner*innen mit preiswertem, qualitativ hochwertigem Brot versorgt, eine Küche, die 400 Menschen ernährt, einen Gemeindesaal und einen kleinen Raum, in dem Frauen Kleidung für ein von ihnen geführtes Geschäft nähen. «Wir sind Chavistas», sagte mir eine andere Frau mit leuchtenden Augen, ein Kind an der Hüfte haltend. Das Wort «Chavista» hat an Orten wie diesem eine besondere Bedeutung. Nicht selten sie man T‑Shirts mit Chávez darauf, sein Bild und die ikonischen «Chávez-Augen» überall. Als ich Mariela fragte, was mit Kaikachi passieren wird, wenn der bolivarische Prozess scheitert, wies sie auf die benachbarten Wohnhäuser der Wohlhabenden und sagte: «Wenn die Regierung fällt, werden wir vertrieben werden. Wir – Schwarze, Arme, die Arbeiterklasse – werden verlieren, was wir haben».
Mariela, Rosa, María und Millionen anderer Menschen wie sie – «Schwarze, Arme, Arbeiter*innen», wie Mariela sagte, aber auch Indigene und Ausgegrenzte – tragen die neue vitale Energie der Bolivarischen Revolution in sich, die mit dem Wahlsieg von Chávez 1998 begann und bis heute anhält. Dieses Gefühl kommt in dem chavistischen Slogan zum Ausdruck: «Wir sind die Unsichtbaren. Wir sind die Unbezwingbaren. Wir werden siegen».
Beobachter der Bolivarischen Revolution verweisen oft auf diese oder jene Maßnahme, wenn es darum geht, den Prozess zu verstehen oder zu definieren. Was jedoch selten zur Kenntnis genommen wird, ist die Theorie, die Chávez selbst während seiner fünfzehnjährigen Amtszeit als Präsident entwickelt hat. Als ob Chávez Dinge getan, aber nicht darüber nachgedacht hätte, als ob er kein Theoretiker des revolutionären Prozesses wäre. Solche Haltungen gegenüber Anführer*innen und Intellektuellen der Arbeiterklasse sind heimtückisch, denn sie reduzieren die Stärke ihres Intellekts auf eine Welle an gedankenlosen oder spontanen Aktionen. Ein völlig haltloses Vorurteil, wie Chávez (und viele andere) gezeigt haben. Jedes Mal, wenn ich Chávez sah, wollte er über die Bücher sprechen, die er gelesen hatte –- marxistische Klassiker natürlich, aber auch die neuesten Bücher aus Lateinamerika (und immer die neuesten Schriften von Eduardo Galeano, dessen Buch Offene Adern Lateinamerikas er 2009 an US-Präsident Barack Obama übergab). Er beschäftigte sich mit den großen Ideen und Fragen der Zeit, vor allem mit den Herausforderungen des Aufbaus des Sozialismus in einem armen Land mit einer reichen Ressource (im Falle Venezuelas: das Öl). Chávez war ständig am Theoretisieren, Reflektieren und Ausarbeiten der Ideen, die Frauen wie Mariela, Rosa und María mit ihm teilten, und erprobte diese Ideen im praktischen politischen Tun. In bürgerlichen Darstellungen wird die Alphabetisierungskampagne des Landes schnell als nichts Außergewöhnliches abgetan, was jedoch ihre Bedeutung komplett übersieht, sowohl hinsichtlich der ihr zugrunde liegenden Theorie als auch ihrer immensen Wirkung auf die venezolanische Gesellschaft. Bei der Mission Robinson ging es nicht allein darum, den Menschen das Lesen beizubringen, sondern vielmehr darum, dass der Lehrplan Yo sí puedo die politische Alphabetisierung förderte. Wie Chávez 2004 über die Yo sí puedo-Absolventin sagte: «Sie studiert die bolivarischen Ideen, weil sie lesen kann. Sie kann die Verfassung lesen. Sie kann Bolívars Schriften lesen».
Diese Absolventin wurde zu einer der vielen weiblichen Anführerinnen in ihrer Gemeinde. Eine andere, Alessandra Trespalacios, beteiligte sich an Sozialprogrammen in einer sehr armen Gegend und wurde eine führende Persönlichkeit im Gemeinderat und in der Krankenstation der Gemeinde Altos de Lidice. Es sind Frauen wie Alessandra, die im Rahmen ihrer Armutsbekämpfungspolitik begannen, Kinder und ältere Menschen in ihrem Viertel zu wiegen und den Untergewichtigen zusätzliche Lebensmittel aus ihren Vorräten zu geben. «Uns motiviert die Liebe», sagt sie, aber auch die revolutionären Ideen, die sie und ihre Kommiliton*innen in der Mission Robinson gelernt haben.
Anlässlich des zehnten Todestages von Hugo Chávez legen Tricontinental: Institute for Social Research und das Simón Bolívar Institut für Frieden und Solidarität (Venezuela) unser Dossier Nr. 61 vor, The Strategic Revolutionary Thought and Legacy of Hugo Chávez Ten Years After His Death («Das strategisch-revolutionäre Denken und Vermächtnis von Hugo Chávez zehn Jahre nach seinem Tod», Februar 2023). Dieser Text ist eine vorläufige Darstellung der revolutionären Theorie von Hugo Chávez, die aus der Notwendigkeit heraus entstand, das tägliche Leben des venezolanischen Volkes zu verbessern, Wohnraum, Gesundheitsversorgung und Alphabetisierungsprogramme zu schaffen, dann aber weiter ging und sich der Frage zuwandte, wie die Produktionsbeziehungen des Landes umgestaltet und die Souveränität Venezuelas und Lateinamerikas gegenüber dem US-Imperialismus verteidigt werden können. Es ist, wie wir schreiben, eine Theorie, die «lebendig und umfassend revolutionär» und «weder ein Rezept noch eine Reihe trockener akademischer Überlegungen» ist .
Das Denken von Chávez geht vom Lebenslauf einer indigenen Frau im Herzen der venezolanischen Tiefebene aus, einer Frau, deren Lektüre der Verfassung von 1999 – die mit 72 % Zustimmung ratifiziert wurde – sie motivierte, in ihrer Stadt, vielleicht in Sabaneta (im Bundesstaat Barinas), wo Chávez am 28. Juli 1954 geboren wurde, eine führende Rolle zu übernehmen. Das ist immer der Anfangspunkt seiner Theorie.
Wir hoffen, dass ihr unser Dossier lest, teilt und diskutieren werdet, um die Praxis der Bolivarischen Revolution besser zu verstehen. Vor einigen Jahren sagte mir Anacaona Marin, die Leiterin der Kommune El Panal im Viertel 23 de Enero in Caracas: «Es wird oft eine Verknüpfung von Sozialismus und Elend hergestellt. Mit unserer Arbeit, mit der Chávez-Methode, werden wir diese Verknüpfung durchbrechen. Sie wird nicht durch Worte allein, sondern durch Taten durchbrochen werden. Das ist der Chavismo».
Herzlichst,
Vijay