Das Recht, in Frieden zu leben.
Der neunte Newsletter (2021).
Liebe Freund*innen,
Grüße vom Schreibtisch des Tricontinental: Institute for Social Research.
An einem warmen späten Februartag in Santiago ging ich zum Grab von Víctor Jara, um des Mannes zu gedenken, der am 16. September 1973 brutal ermordet wurde. Jara, ein Theaterregisseur, Liedermacher und Kommunist, wurde nach dem Putsch gegen die sozialistische Regierung von Salvador Allende verhaftet. Er wurde gefoltert und dann ermordet. An der Rückseite des Cementerio General in Recoleta wurde Jara mit anderen Opfern der Militärdiktatur von General Augusto Pinochet begraben. 2009 wurde Jaras Leiche im Rahmen der Ermittlungen zu diesem Mord exhumiert und dann ein Stück weiter weg neu bestattet. Auf dem Originalgrab stehen in einfacher Schrift die Worte el derecho de vivir en paz («das Recht, in Frieden zu leben»).
Diese Worte stammen aus dem Titelsong von Jaras Album aus dem Jahr 1971. Das Lied, das das Album eröffnet, ist eine Hommage an das vietnamesische Volk, das Ho Chi Minh in seinem Kampf gegen den US-Imperialismus anführte. Es ist ein einfaches Lied und hebt an mit dieser Zeile über das Recht, in Frieden zu leben. Es erzählt dann über Ho Chi Minh, den Dichter, der von Vietnam aus für die gesamte Menschheit streitet. 1945, als Jara dreizehn Jahre alt war, erklärte das vietnamesische Volk seine Unabhängigkeit. Bevor die Vietnames*innen ihre sozialistische Agenda vorantreiben konnten, wurde ihnen ein Krieg aufgezwungen, zuerst von Frankreich und dann von den Vereinigten Staaten. Die Vereinigten Staaten setzten ihr gesamtes Arsenal – mit Ausnahme der Atomwaffen – gegen das vietnamesische Volk ein, das mit großer Entschlossenheit für die Befreiung seines Landes kämpfte.
Zwei Dinge machte dieser Krieg den Revolutionär*innen auf der ganzen Welt klar. Erstens, dass die Niederlage des vietnamesischen Volkes einen großen Rückschlag für die nationalen Befreiungsbewegungen auf der ganzen Welt bedeutete, weil sie den Vereinigten Staaten und ihren Verbündeten das Vertrauen gäbe, auch andere Befreiungsbewegungen zu zerschlagen. Zweitens, dass jeder fühlende Mensch, der sich für Dekolonisation und Freiheit einsetzte, «zwei, drei, viele Vietnams schaffen» müsse, wie Che Guevara 1966 in seiner «Botschaft an die Trikontinentale», die «Erste Solidaritätskonferenz der Völker Afrikas, Asiens und Lateinamerikas» in Havanna, schrieb. Che Guevara wurde 1967 im Alter von 39 Jahren ermordet; Víctor Jara war 40, als er ermordet wurde.
Bis 1971 gewannen die Vietnames*innen zunehmend an Selbstvertrauen und hielten den Norden des Landes trotz rücksichtsloser Luftangriffe und des Einsatzes chemischer Waffen. Sie drangen in den Süden vor – unter anderem mit der Tet-Offensive von 1968 – in Richtung Saigon. Ho Chi Minh starb 1969, unerschütterlich bis zum Ende. Jaras Lied ist eine Hommage an Ho Chi Minh und die vietnamesischen Kämpfer; es zeigt die Notwendigkeit einer internationalistischen Einstellung zur Freiheit. Dieses Lied ist das Feuer der reinen Liebe, ein internationales Lied, das das Recht auf ein Leben in Frieden verkündet.
Lieder wie dieses verschwinden nie. In ihnen liegt das Prinzip der Hoffnung, die Inspiration für den Kampf und die Vorfreude auf eine Welt jenseits der eigenen. Wenn man über die Plaza de la Dignidad in Santiago, Chile, geht, sieht man an den Wänden Bilder von Jara und Zitate aus seinen Liedern. Diese werden von verschiedenen politischen Gruppen und Wandmaler*innen gemalt, die sich der radikalen Vergangenheit verbunden fühlen und die das Gefühl haben, dass Überreste der Diktatur nach wie vor bestehen. Jeden Freitagabend versammelt sich dort eine große Gruppe von Menschen, nicht nur, um gegen die 2018 an die Macht gekommene bösartigen Regierung von Sebastián Piñera zu protestieren, sondern gegen die allgemeine neoliberale Ausrichtung der Regierungen seit 1973. Piñera, ein Konservativer, der sich gegen die Verfolgung von Pinochet stellte, führt eine Sparregierung, die Massenproteste provozierte, zuerst von Schülern und dann von der breiten Öffentlichkeit. Die Antwort der Regierung auf diese Protestwelle waren harte Repressionen sowie illegale Verhaftungen und Polizeigewalt aller Art (einschließlich sexueller Gewalt). Demonstrant*innen und Journalist*innen – wie beispielsweise Gustavo Gatica – wurden mit Gummigeschossen ins Auge getroffen, was mich an Mohamed Sobhi el-Shenawa erinnert, den «Eye-Sniper», der 2011 auf dem Tahrir-Platz in Kairo, Ägypten, auf Demonstrierende schoss.
Trotz eines Gerichtsurteils aus dem Jahr 2018, das acht pensionierte Offiziere wegen des Mordes an Jara zu 15 Jahren Haft verurteilte, erfährt er echte Gerechtigkeit für ihn nur von denen, die seiner Sache verbunden sind. Im Jahr 2019 kehrte Jaras Lied als Hymne dieser neuen Bewegung zurück, gesungen mit viel Gefühl von seinen Altersgenossen der Gruppe Inti-Illimani auf der Plaza. Bei der Demonstration auf der Plaza de la Dignidad an einem typischen Freitagabend im letzten Monat beobachtete ich, wie die Polizei ihre Wasserwerfer abfeuerte und unter dem Schutz der Straflosigkeit gegen die Demonstranten marschierte, die sich mit dieser Routine der sogenannten Demokratie und der Repression der staatlichen Kräfte konfrontiert sehen. Jorge und Marcelo Coulon erzählten mir von den mächtigen Emotionen, die sie empfanden, als sie durch die riesige Menschenmenge auf die Bühne schritten, um das Lied von Jara an Ho Chi Minh zu singen.
Seit 1980 leben Chilen*innen unter einer Verfassung, die während der Diktatur von Pinochet eingeführt wurde. Es war nur logisch, dass die Proteste die Forderung nach einer neuen Verfassung einschlossen. Im Jahr 2020 stimmten 78% des Landes für eine neue Verfassung; im April 2021 werden sie in der verfassungsgebenden Versammlung abstimmen, um sie auszuarbeiten.
Was bedeutet es, dass Jaras Lied als Hymne in unsere Zeit zurückkehrt, sein Aufruf für das Recht, in Frieden zu leben, über Generationen hinweg Bedeutung hat? Es ist ein Lied eines Chilenen für die vietnamesische Revolution, geschrieben mit dem Empfinden, dass sowohl der Kampf in Vietnam als auch das Lied international sind. Nichts an den Kämpfen in Chile ist insular, denn der Druck, der auf der Bevölkerung lastet, geht weder nur von Piñera und seiner Regierung noch der chilenischen Oligarchie aus. Die Sparprogramme sind das Ergebnis eines Steuerstreiks der Eliten, die ihren Reichtum lieber in illegalen Steuerparadiesen verstecken, als ihn produktiv einzusetzen. Sie ignorieren das andauernde Leiden der Arbeiter, die um ihr Überleben kämpfen, während die Pandemie ihre ohnehin schon gefährdete Existenz noch weiter verschlechtert und eine Protestbewegung provoziert, die die chilenische Realität prägt.
Der Anblick jubelnder, gewaltfreier Menschenmengen, die Lieder des Widerstands singen, gehört zum Alltag wie der Anblick von Polizeiwagen, die Hochdruckwasser und Tränengas abfeuern. Kein Wunder, dass Roger Waters’ Version von El derecho de vivir en paz im Jahr 2020 den vollen Klang dieses internationalen Liedes von den Straßen Delhis nach New York trug.
Am 28. Februar versammelten sich eine Million Menschen unter roten Fahnen auf dem Brigade Ground in Kolkata, als im indischen Bundesstaat Westbengalen der Wahlkampf begann. «Wir fordern unser Recht», sagte der Kommunistenführer Mohammed Salim, «das Recht, in Frieden zu leben». Überall erklingt die chilenische Hymne an Ho Chi Minh. Nicht weit von der Stelle, wo Salim sprach, befindet sich ein US-Konsulat an der Ho-Chi-Minh Sarani, der Straße, die während des US-Krieges gegen Vietnam als Akt der Solidarität umbenannt wurde.
Heute existiert in der Linken nicht mehr dieselbe Klarheit über die Art unserer Kämpfe und die Notwendigkeit der internationalen Solidarität. Die scharfen Angriffe des US-Imperialismus gegen Kuba und Venezuela gehen weiter, während US-Präsident Joe Biden – sich absurderweise auf «Selbstverteidigung» berufend – die Bombardierung Syriens genehmigt hat. Wo es das Recht des Volkes geben sollte, seine eigene Agenda zu bestimmen, herrscht stattdessen eine Politik des hybriden Krieges, die ganze Bevölkerungen erstickt und delegitimiert.
Ich fragte Marcelo Coulon von der legendären Band Inti-Illimani, die Jaras Lied vor einer der mächtigen Demonstrationen in Santiago sang, was es bedeutet, Jaras antiimperialistische, internationalistische Hymnen in unserem Kontext zu singen:
«Heute zu Ho Chi Minh zu singen, ist ein ganz besonderer Moment für mich, weil es mich in die Zeiten zurückversetzt, in denen wir mit der Welt verbunden waren, der solidarischen Welt, dem antiimperialistischen Kampf. Und das zeigt mir den schrecklichen Schaden, den der Neoliberalismus angerichtet hat, indem er die Menschen in zutiefst individualistische Wesen verwandelt, die nicht über ihren eigenen Tellerrand, ihre eigenen Interessen hinaus denken. Ich meine, dass die Menschen bei dem sozialen Aufbruch dieses Lied nicht nur für das Recht gesungen haben, in Frieden zu leben, sondern für das Recht, in einem umfassenden Frieden mit Würde und Solidarität zu leben. Ich will nicht erklären, warum Jara über Ho Chi Minh schrieb, aber ich denke, jeder kann diese Geste der Solidarität verstehen … Ich habe Blut für Vietnam gegeben, aber jetzt passiert nichts.»
Die Pattsituation zwischen der indischen Bauernschaft und der Regierung von Premierminister Narendra Modi geht in ihren vierten Monat. Sowohl Modi als auch Piñera stehen wegen ihrer Loyalität gegenüber ihren Konzernverbündeten unter Druck. Beide haben weder das Temperament noch die Fähigkeit, von ihren verheerenden Positionen der Privatisierung, Vetternwirtschaft und staatlichen Repression abzurücken. Die Landwirt*innen und Landarbeiter*innen erleben die gleiche Art von Druck, den die Menschen in Venezuela und Kuba erlebt haben. Entgegen ihrer liberalen Schönfärberei der Menschenrechte bleiben sie den Interessen Weniger und nicht dem Leben der Vielen verpflichtet. Die Notwendigkeit von «zwei, drei, vielen Venezuelas» oder «zwei, drei, vielen Bauernaufständen» war noch nie so offensichtlich, und die Solidarität war noch nie so wichtig.
Das Recht, in Frieden zu leben, ist keine leere Phrase; es ist eine tatsächliche Herausforderung des Systems, das gegenwärtig von Leuten wie Biden, Modi, Piñera und anderen geführt wird. Es ist die Forderung nach einem einfachen Recht, die allerdings Krieg provoziert, weil sie die Fähigkeit der Wenigen angreift, sich den größeren Teil des gesellschaftlichen Reichtums anzueignen.
Wie man in Chile sagt, Fuera Piñera, oder «Raus mit Piñera!», ein Slogan, der sich sowohl gegen ihn wendet als auch gegen das System, das er – und solche wie er – aufrechterhalten.
Herzlichst,
Vijay
Ich bin Tricontinental
Daniel Tirado, Leiter der Informationstechnologie im Interregionalen Büro
Ich arbeite täglich mit dem Webteam in Indien zusammen, um unsere Website zu verbessern und zu erweitern, bald wird es regionale Seiten für Südafrika und Indien geben. Wir arbeiten mit einem internationalen Team von Populärpadog*innen und Aktivist*innen zusammen, um audiovisuelles Material für einen Online-Kurs über Karl Marx’ Kapital zu erstellen. Wie sollen wir Inhalte in mehreren Sprachen für ein breites Publikum zu einem so wichtigen Thema wie dem Kapital strukturieren? Wir arbeiten zusammen, um diese Herausforderungen zu meistern. Ich erforsche auch Open-Source-Alternativen für Online-Veranstaltungen, die es uns ermöglichen sollen, ohne Mainstream-Plattformen auszukommen.
Aus dem Englischen von Claire Louise Blaser.