Deine Privilegien sind nicht universell.
Der achte Newsletter (2021).
Liebe Freund*innen
Grüße vom Schreibtisch des Tricontinental: Institute for Social Research.
Mit roter Farbe steht an den Hauswänden von Santiago, Chile, die Worte geschrieben: «Eure Privilegien sind nicht universell» (tus privilegios no son universales). Sie benennen die Tatsache, dass die Privilegien von Macht und Eigentum nicht über die klaffende Klassenkluft hinweg reichen. Man denke nur daran, dass vor dem Ausbruch der Pandemie im letzten Jahr über 3 Milliarden Menschen – also die Hälfte der Weltbevölkerung – keinen Zugang zu medizinischer Versorgung hatten. Diese Daten tauchen in einem Bericht der Weltgesundheitsorganisation (WHO) aus dem Jahr 2017 auf, der wichtige Dinge erfasst wie den Zugang zu grundlegenden sanitären Einrichtungen im Haushalt (der 2,3 Milliarden Menschen fehlte) und die medizinische Versorgung bei unkontrolliertem Bluthochdruck (unter dem 1 Milliarde Menschen litten).
Der Oxfam-Bericht The Inequality Virus («Der Ungleichheitsvirus») vom 25. Januar 2021 verweist darauf, dass «die Pandemie den größten Anstieg der Ungleichheit seit Beginn der Messungen verursachen könnte, da sie einen zeitgleichen sowie erheblichen Anstieg in vielen Ländern auslöst». Vor der Pandemie berechnete die Weltbank, dass etwa 2 Milliarden Menschen «in Armut leben, d.h. unter den Standards, die ihre eigene Gesellschaft für ein würdiges Leben festgelegt hat». Aufgrund der durch die Pandemie ausgelösten Beschäftigungskrise ist es wahrscheinlich – so die Vereinten Nationen –, dass bis zum Ende des Jahrzehnts eine halbe Milliarde mehr Menschen in die Armut abrutschen werden; die Zahlen der Weltbank stimmen zu
«Und in der Pandemie», schreiben die Analyst*innen der Weltbank, «leben die Neuarmen mit größerer Wahrscheinlichkeit in überfüllten städtischen Gebieten und arbeiten in den Sektoren, die am stärksten von Lockdowns und Mobilitätseinschränkungen betroffen sind; viele sind in informellen Dienstleistungen tätig und werden von den bestehenden sozialen Sicherheitsnetzen nicht erreicht». Das sind die Milliarden, die immer tiefer in die Verschuldung und Verzweiflung abrutschen werden, wobei ihnen Bildung und Gesundheitsversorgung entzogen werden, während die Hungerraten steigen.
Nichts von dem, was hier steht, ist übertrieben. Es stammt alles von Forscher*innen und Analyst*innen bei Mainstream-Organisationen wie der Weltgesundheitsorganisation und der Weltbank, die beide nicht dafür bekannt sind, die negativen Auswirkungen der kapitalistischen Politik hochzuspielen. Wenn überhaupt, dann neigen diese Organisationen dazu, die Gefahren der Privatisierung und der konzernbasierten Politik zu minimieren und auf weitere Kürzungen der öffentlichen Systeme zu drängen. Während der Amtszeit von Gro Harlem Brundtland an der Spitze der WHO (1998–2003) förderte die Organisation die Schaffung von öffentlich-privaten Partnerschaften (PPPs) und Produktentwicklungspartnerschaften (PDPs). Die Ausrichtung der WHO auf den privaten Sektor – gekoppelt mit dem Druck des Internationalen Währungsfonds, die Mittel für den öffentlichen Sektor zu kürzen – beschleunigte das Ausbluten der öffentlichen Gesundheitssysteme in vielen der ärmeren Länder.
Während die WHO den Kampf für den Ausbau der öffentlichen Gesundheitssysteme und die Schaffung regionaler und nationaler Pharma-Produktionssysteme hätte anführen sollen, schuf sie PPP-Plattformen wie die unterfinanzierte Globale Allianz für Impfstoffe und Immunisierungen (GAVI); wie andere Institutionen auch laboriert GAVI jetzt herum, wenn es darum geht, COVID-19-Impfstoffe für Länder mit niedrigem Einkommen bereitzustellen. Die Leute, die die globale Sparpolitik, eine Einöde der Möglichkeiten, hervorgebracht haben, erkennen erst jetzt die Gefahren des Ungleichheitsvirus.
Es reicht nicht aus, sich Sorgen über die Ungleichheit zu machen. Eine Reihe von machbaren, vernünftigen Reformen werden von Volksorganisationen auf der ganzen Welt gefordert, darunter folgende:
- Kostenlose universelle Gesundheitsversorgung. Dies ist in ärmeren Ländern wie Costa Rica und Thailand sowie in sozialistischen Staaten bereits verwirklicht und sollte das Ziel eines jeden Landes auf dem Planeten sein.
- Ein Volksimpfstoff. Die Bemühungen zur Einführung eines Volksimpfstoffs nehmen zu. Dazu gehört nicht nur der freie Zugang zu allen Patenten für den COVID-19-Impfstoff, sondern auch die Schaffung von Pharma-Produktionsstätten in den Staaten mit niedrigem Einkommen und im öffentlichen Sektor.
Diese beiden grundlegenden Maßnahmen könnten leicht mit dem Geld finanziert werden, das jetzt für den Schuldendienst exportiert wird. Aber solche logischen Lösungen, die den Menschen sofortige Erleichterung verschaffen, werden verworfen. Trotz der scharfen Worte über die Probleme, die durch Sparmaßnahmen aufgeworfen werden, wird noch mehr Sparen gefordert und noch mehr soziale Unordnung erzeugt .
Anstatt die Aufmerksamkeit auf die tatsächlichen Probleme zu lenken, mit denen die Menschen weltweit konfrontiert sind, und die demokratischen Forderungen anzuerkennen, die von den Organisationen und Manifestationen dieser Menschen kommen, flüchtet sich eine Regierung nach der anderen in undemokratisches Vorgehen. So setzen beispielsweise die Bäuer*innen und Landarbeiter*innen in Indien ihren monatelangen Protest gegen drei bauernfeindliche Gesetze fort, die von der rechtsextremen indischen Regierung durchgesetzt wurden. Die Regierung von Premierminister Narendra Modi weiß, dass ihre Verpflichtung gegenüber dem Großkapital – personifiziert in den wohlhabenden Familien Adani und Ambani – jede ernsthafte Verhandlung mit den Bauern und Landarbeitern unmöglich macht. Stattdessen versucht die Regierung, die Landwirt*innen und ‑arbeiter*innen als Terrorist*innen und Staatsfeinde darzustellen.
Als dies nicht funktionierte, ging die Regierung gegen Berichterstatter*innen und Medienhäuser vor, die den Kampf der Landarbeier*innen in der Öffentlichkeit bekannt machten. So wurden viele, die über die Proteste berichteten, daran teilnahmen oder sich mit ihnen solidarisierten, verhaftet – wie etwa der Journalist Mandeep Punia, die Arbeitsrechtsaktivistin Nodeep Kaur und die Aktivistin Disha Ravi, die ein Toolkit zur Unterstützung der Bäuer*innen erstellt und verbreitet hatte. Schließlich führte die Regierung einen Akt der juristischen Kriegsführung durch – eine 113-stündige Razzia gegen NewsClick, eines der wichtigsten Medienhäuser, die über die Proteste berichteten; mit dem Vorwurf der Geldwäscherei wurde versucht, den Namen von NewsClick zu beschmutzen, welches sich das Vertrauen von Millionen von Leser*innen und Zuschauer*innen mit seiner mutigen Berichterstattung verdient hatte, welche die Erfahrungen und die Forderungen der Landwirt*innen unterstrich.
In der Zwischenzeit gab das indische Bildungsministerium am 15. Januar einen Erlass heraus, der vorschreibt, dass jede Online-Konferenz oder jedes Webinar, das Indiens «innere Angelegenheiten» thematisiert oder von ausländischen Sponsoren unterstützt wird, vorgängig von der Regierung genehmigt werden muss. Analog dazu hat die französische Regierung ein Verfahren eingeleitet, um akademische Forschung zu prüfen, die «islamisch-linksgerichtete» Ideen fördere und dadurch, so der Minister für höhere Bildung, «die Gesellschaft korrumpiert». Im Namen der Ordnung wird die Redefreiheit mühelos beiseitegeschafft und die Zerbrechlichkeit der formellen Gestalt der Demokratie entlarvt. Der Angriff auf NewsClick, nebst den Ermittlungen gegen Akademiker*innen in Frankreich, offenbart die gähnende Kluft zwischen demokratischen Idealen und der Praxis der Staatskunst.
Trotz des 300 Milliarden Euro schweren Programms prêt garanti par l’État (PGE), das die französische Bevölkerung entlasten soll, besteht in Frankreich langfristig ein ernstes Problem der Ungleichheit und der Arbeitslosigkeit. Anstatt sich damit zu befassen, wendet sich die französische Regierung dem Kampf gegen einen imaginären Widersacher zu: die «Islamo-Linke». Auf die gleiche Weise führt die indische Regierung angesichts der Massen-Binnenmigration und des sozialen Leids, das durch die Pandemie verschlimmert wurde, einen Krieg gegen die landwirtschaftlichen Arbeiter*innen und gegen Medienplattformen, die sich für die Belange dieser Bäuern*innen interessieren. Diese beiden formellen Demokratien behalten ihre Verfassungen und ihre Gesetze, ihre Wahlen und ihre öffentlichen Anhörungen – die gesamte Palette der modernen Demokratien. Sie versagen jedoch darin, dem Leiden der Menschen Gehör zu schenken, geschweige denn den Forderungen der Menschen; sie bleiben der Möglichkeit einer lebensfähigeren Zukunft für unsere Gesellschaften gegenüber gleichgültig.
Während der Militärdiktatur in Pakistan sang der kommunistische Dichter Habib Jalib:
Kahin gas ka dhuan hae kahin golian ki baarish
Shab-e-ehd-e-kum nigahi tujhay kis tarah sarahein
Dort breitet sich das Tränengas aus, hier regnen die Kugeln nieder
Nacht der Zeit der Kurzsichtigkeit, wie könnte ich dich rühmen?
Eure Privilegien sind nicht universell, weil sie euch – den Wenigen – den Großteil des gesellschaftlichen Reichtums einbringen; wenn wir Menschen unsere Ansichten kundtun, feuert ihr Tränengas und Kugeln. Ihr glaubt, dass eure Kurzsichtigkeit euch erlaubt, die Nacht auf ewig zu bewahren. Wir rühmen die Hoffnungen und Kämpfe des Volkes, dessen Drang, die Geschichte voranzutreiben, eure Unterdrückung durchbrechen wird.
Herzlichst,
Vijay.
Ich bin Tricontinental
Adrián Pulleiro, Forscher im Argentinien-Büro
Ich leite das Forschungskollektiv für Kommunikation, Medien und Informationstechnologie. Wir analysieren die Entwicklung von Mediensystemen und ihre Beziehung zu sozialen und politischen Prozessen. Ich habe an verschiedenen Publikationen des Kollektivs mitgewirkt, wie z.B. Private Property, Meritocracy, and Anti-Egalitarianism: The Discourse of the Dominant Sectors in the Argentine Crisis und The Internet, Social Media, and Big Data: Culture and Communication under Digital Capitalism. Diese Themen warden wir im 2021 werden wir diese Themen weiter erforschen.
Aus dem Englischen von Claire Louise Blaser.