Manchmal dient Marx‘ Kapital als Kopfkissen, manchmal spornt es uns an in unseren Kämpfen.
Der siebte Newsletter (2021).
Liebe Freund*innen,
Grüße vom Schreibtisch des Tricontinental: Institute for Social Research.
Im Jahr 1911 kam der junge Ho Chi Minh (1890–1969) in Frankreich an, das sein Heimatland Vietnam kolonisiert hatte. Obwohl er in einem patriotischen, dem Antikolonialismus verpflichteten Geist aufgewachsen war, erlaubte es Ho Chi Minhs Temperament nicht, sich in eine rückwärtsgewandte Romantik zurückzuziehen. Er verstand, dass das vietnamesische Volk sowohl aus seiner eigenen Geschichte und Tradition als auch aus den demokratischen Strömungen schöpfen musste, die von den revolutionären Bewegungen in der ganzen Welt freigesetzt wurden. In Frankreich engagierte er sich in der sozialistischen Bewegung, die ihn über die Kämpfe der Arbeiterklasse in Europa unterrichtete, obwohl die französischen Sozialisten sich nicht dazu durchringen konnten, mit der Kolonialpolitik ihres Landes zu brechen. Dies frustrierte Ho Chi Minh. Als der Sozialist Jean Longuet ihn aufforderte,’ Das Kapital von Karl Marx zu lesen, tat sich Ho Chi Minh schwer damit und sagte später, er habe es hauptsächlich als Kopfkissen benutzt.
Die Oktoberrevolution von 1917, die die Sowjetrepublik aus der Taufe hob, beflügelte Ho Chi Minhs Denken. Nicht nur übernahmen die Arbeiterklasse und die Bauernschaft den Staat und versuchten, ihn neu zu gestalten, sondern die Führung des neuen Staates bot den antikolonialen Bewegungen eine starke Verteidigung. Mit großer Freude las Ho Chi Minh die Thesen zur nationalen und kolonialen Frage von W. I. Lenin, die dieser für die Tagung der Kommunistischen Internationale 1920 geschrieben hatte. Der junge vietnamesische Radikale, dessen Land seit 1887 in Knechtschaft gehalten wurde, fand in diesem und anderen Texten die theoretische und praktische Grundlage für den Aufbau seiner eigenen Bewegung. Ho Chi Minh ging nach Moskau, dann nach China und kehrte schließlich nach Vietnam zurück, um sein Land aus der kolonialen Unterdrückung und aus einem Krieg zu führen, der Vietnam von Frankreich und den Vereinigten Staaten aufgezwungen wurde (ein Krieg, der mit dem Sieg Vietnams sechs Jahre nach Ho Chi Minhs Tod endete).
Im Jahr 1929 sagte Ho Chi Minh, dass «der Klassenkampf sich nicht so manifestiert wie im Westen». Er meinte damit nicht, dass die Kluft zwischen dem Westen und dem Osten kulturell bedingt sei; er meinte, dass die Kämpfe an Orten wie dem ehemaligen Russischen Reich und Indochina eine Reihe von Faktoren berücksichtigen mussten, die einzigartig in diesen Teilen der Welt waren: die Struktur der kolonialen Herrschaft, die absichtlich unterentwickelten Produktivkräfte, die hohe Anzahl an Bauern und besitzlosen Landarbeiter*innen und die ererbten und reproduzierten elenden Hierarchien der feudalen Vergangenheit (wie Kaste und Patriarchat). Kreativität war notwendig, was die Marxisten in den kolonisierten Zonen dazu veranlasste, ihre Theorie des Kampfes aus der konkreten Auseinandersetzung mit ihren eigenen komplexen Realitäten heraus zu entwickeln. Die Texte, die Leute wie Ho Chi Minh schrieben, sahen lediglich wie Kommentare zur aktuellen Situation aus, dabei haben diese Marxisten in Wirklichkeit ihre Theorien des Kampfes aus spezifischen Kontexten heraus aufgebaut, die für Marx und seine Hauptnachfolger*innen in Europa (wie Karl Kautsky und Eduard Bernstein) nicht erkennbar waren.
Tricontinental: Institute for Social Research Dossier Nr. 37, Dawn: Marxism and National Liberation, erforscht diese kreative Interpretation des Marxismus im gesamten Globalen Süden – von José Carlos Mariátegui in Peru bis zu Mahdi Amel im Libanon. Das Dossier ist eine Einladung zu einem Dialog, einem Gespräch über die verschlungene Tradition von Marxismus und nationaler Befreiung, eine Tradition, die aus der Oktoberrevolution von 1917 hervorgegangen ist und ihre Wurzeln tief in die antikolonialen Konflikte des zwanzigsten und einundzwanzigsten Jahrhunderts senkte.
Als die Lehren des Marxismus über die Grenzen der nordatlantischen Region hinaus angewandt werden sollten, mussten sie «ein wenig gedehnt» werden, wie Frantz Fanon in Wretched of the Earth (1961) schrieb, und das Narrativ des historischen Materialismus musste erweitert werden. Diese Kategorien hatten zweifellos universellen Charakter, konnten aber nicht überall in gleicher Weise angewendet werden; jede der Bewegungen, die den Marxismus aufgriffen – wie die von Ho Chi Minh geführte Bewegung zur Befreiung Vietnams – musste ihn erst in ihren eigenen Kontext übersetzen. Das zentrale Problem des Marxismus in den Kolonien war, dass die Produktivkräfte in diesen Teilen der Welt vom Imperialismus systematisch ausgehöhlt und die älteren sozialen Hierarchien nicht von den Strömungen der Demokratie weggespült worden waren. Wie kann man eine Revolution an einem Ort ohne sozialen Reichtum machen?
Lenins Lehren fanden bei Leuten wie Ho Chi Minh Anklang, weil Lenin argumentierte, dass der Imperialismus die Entwicklung der Produktivkräfte an Orten wie Indien und Ägypten nicht zulassen würde – Regionen, deren Rolle im globalen System darin bestand, Rohstoffe zu produzieren und die Fertigprodukte der europäischen Fabriken zu kaufen. In diesen Regionen der Welt bildete sich keine liberale Elite heraus, die sich wirklich dem Antikolonialismus oder der menschlichen Emanzipation verpflichtet fühlte. In den Kolonien war es die Linke, die den Kampf gegen den Kolonialismus und für die soziale Revolution vorantreiben musste. Es war die Linke, die die knappen Ressourcen, die nach der kolonialen Plünderung übrig geblieben waren, und den Enthusiasmus und das Engagement der Menschen nutzen musste, um die Produktion durch den Einsatz von Maschinen und eine bessere Organisation der Arbeit voranzubringen und den Reichtum zu sozialisieren, um die Entwicklung von Bildung, Gesundheit, Ernährung und Kultur zu ermöglichen.
Jede der sozialistischen Revolutionen nach dem Oktober 1917 fand in den verarmten Zonen des Kolonialismus statt, wie in der Mongolei (1921), Vietnam (1945), China (1949), Kuba (1959), Guinea Bissau und Cabo Verde (1975) und Burkina Faso (1983). Dies waren hauptsächlich bäuerliche Gesellschaften, deren Kapital von ihren Kolonialherren gestohlen wurde und deren Produktivkräfte nur so weit entwickelt waren, dass sie den Export von Rohstoffen und den Import von Fertigprodukten ermöglichten. Jeder Revolution wurde von den scheidenden Kolonialherren mit immenser Gewalt begegnet, die sich darauf konzentrierte, den verbliebenen Reichtum der Gesellschaft zu zerstören.
Der Krieg gegen Vietnam ist sinnbildlich für diese Gewalt. Eine Kampagne, Operation Hades, illustriert dies hinreichend: Von 1961 bis 1971 versprühte die US-Regierung 73 Millionen Liter chemische Waffen, um jegliche Vegetation in Vietnam zu vernichten. Agent Orange, die seinerzeit schrecklichste aller chemischen Waffen, wurde auf dem größten Teil des landwirtschaftlichen Gebiets Vietnams eingesetzt. Diese Kriegsführung tötete nicht nur Millionen Menschen, sondern hinterließ dem sozialistischen Vietnam ein schreckliches Erbe: Zehntausende vietnamesischer Kinder wurden mit schweren Behinderungen (Spina bifida, zerebrale Lähmung) geboren und Millionen Hektar gutes Ackerland waren vergiftet. Sowohl die medizinischen als auch die landwirtschaftlichen Folgen haben mindestens fünf Generationen lang angehalten, und alles deutet darauf hin, dass sie noch mehrere Generationen lang andauern werden. Die vietnamesischen Sozialist*innen konnten ihr Land nicht nach einem Lehrbuchmodell des Sozialismus aufbauen, sondern in der Konfrontation mit den Krankheiten, die der Imperialismus ihrem Land zugefügt hatte. Ihr sozialistischer Weg musste durch die schreckliche Realität führen, die aus ihrer eigenen, spezifischen Geschichte und Wirklichkeit entstanden war.
Unser Dossier weist darauf hin, dass viele Marxisten in der kolonialen Welt nie Marx gelesen hatten. Sie hatten über den Marxismus in verschiedenen Pamphleten gelesen und waren auch Lenin in dieser Form begegnet: Bücher waren zu teuer, und sie waren oft schwer zu bekommen. Menschen wie der Kubaner Carlos Baliño (1848–1926) und die Südafrikanerin Josie Palmer (1903–1979) kamen aus bescheidenen Verhältnissen mit wenig Zugang zu den intellektuellen Traditionen, aus denen die Marxsche Kritik hervorging. Aber sie kannten seine Essenz durch ihre Kämpfe, und durch ihre Lektüre und ihre eigenen Erfahrungen bauten sie Theorien auf, die für ihren Kontext die richtigen waren.
Heute ist das engagierte Studium weiterhin eine Säule für unsere Bewegungen und für unsere Hoffnungen, eine bessere Zukunft aufzubauen. Aus diesem Grund beteiligt sich das Tricontinental: Institute for Social Research jedes Jahr am 21. Februar am Red Books Day. Letztes Jahr gingen über sechzigtausend Menschen auf öffentliche Plätze, um das Kommunistische Manifest am 172. Jahrestag seiner Veröffentlichung (21. Februar 1848) zu lesen. Dieses Jahr werden die Veranstaltungen aufgrund der Pandemie hauptsächlich online stattfinden. Wir möchten euch ermutigen, nach Verlagen und Organisationen in eurer Nähe zu suchen, die eine Veranstaltung zum Red Books Day abhalten, und euch daran zu beteiligen. Wenn es keine Veranstaltungen in eurer Nähe gibt, gestaltet eure eigenen oder nutzt die sozialen Medien, um über eure roten Lieblingsbücher zu sprechen und darüber, was sie für euren Kampf bedeuten. Wir hoffen, dass der Tag des roten Buches so zentral in unserem Kalender wird wie der 1. Mai.
Ho Chi Minh – dessen Name «Streben nach Licht» bedeutet – war fast immer mit einer Schachtel Lucky Strike Zigaretten und einem Buch in der Hand zu sehen. Er liebte es zu lesen und er liebte Gespräche. Beides trug dazu bei, sein Verständnis für die Welt in ihrer Bewegung auszubilden. Welches rote Buch liegt neben dir, während du diesen Newsletter liest? Wirst du dich uns am #RedBooksDay anschließen und unser neues Dossier zu deiner Leseliste für rote Bücher hinzufügen?
Herzlichst,
Vijay
Ich bin Tricontinental
Dafne Melo, Übersetzerin, Interregionales Büro
Ich übersetze verschiedene Publikationen von Tricontinental: Institute for Social Research aus dem Spanischen und Englischen ins brasilianische Portugiesisch. Außerdem gebe ich den wöchentlichen Newsletter Notícias da China (Nachrichten in China) heraus, eine Kuration von Nachrichten über China. Ich setze meine Studien in Psychoanalyse fort und sehe Patienten einzeln und in Gruppen, wegen der Pandemie derzeit online. Ich interessiere mich besonders für die Themen Gruppenpsychoanalyse und kritische soziale Situationen sowie für Debatten über Psychoanalyse und Geschlecht. Im nächsten Jahr werde ich die psychologischen Auswirkungen der Reproduktionsarbeit auf Frauen erforschen. Und schließlich widme ich mich meiner dreijährigen Tochter und eben dem Haushalt – Aufgaben, die ich mit meinem Partner teile, damit ich meine Arbeit und mein Studium fortsetzen kann.
Aus dem Englischen von Claire Louise Blaser.