
Die drei Apartheiden unserer Zeit (Geld, Medizin, Lebensmittel).
Der sechste Newsletter (2021).
Liebe Freund*innen,
Grüße vom Schreibtisch des Tricontinental: Institute for Social Research.
In den ersten Monaten nachdem die Weltgesundheitsorganisation die Verbreitung des Coronavirus als Pandemie klassifiziert hatte, schrieb die indische Schriftstellerin Arundhati Roy von ihrer Hoffnung, dass die Pandemie ein «Portal, ein Tor zwischen einer Welt und der nächsten» sein würde. Sie hoffte, mit anderen Worten, dass die Welt ihre schwerwiegenden Probleme, die durch die Pandemie noch verschärft wurden, erkennen und dass es eine Öffnung hin zu einer Neuordnung der sozialen Strukturen geben würde. Nichts dergleichen ist möglich, solange der Klassencharakter der Staaten in der Mehrheit der Welt nicht verändert wird.
Die bloße Anerkennung des Problems wird an Orten wie den Vereinigten Staaten, Europa und den größeren Schwellenländern wie Brasilien und Indien zu keiner Einsicht führen. Tatsächlich hat sich im Laufe des letzten Jahres das Gegenteil gezeigt: Die herrschenden Klassen in diesen Ländern ziehen es vor, öffentliche Gelder zu verwenden, um das krisengeschüttelte und volksfeindliche kapitalistische System zu retten, statt es zu transformieren, um die Interessen der Mehrheit der Bevölkerung vor die Profite der Minderheit zu stellen.

Ein aktueller Bericht von Oxfam zeigt uns, dass «die zehn reichsten Männer der Welt ihr gemeinsames Vermögen seit Beginn der Pandemie um eine halbe Billion Dollar gesteigert haben — mehr als genug, um einen COVID-19-Impfstoff für alle zu bezahlen und sicherzustellen, dass niemand durch die Pandemie in die Armut getrieben wird». Anstatt dieses Geld für den Impfstoff und die Armutsbekämpfung zu verwenden, fließt das Geld in illegale Steueroasen und auf aufgeblähte Bankkonten. Impfstoff-Nationalismus und wachsende Hungersnot bestimmen die kapitalistische Gesellschaft.
Zur gleichen Zeit hat das sozialistische Projekt in China die absolute Armut während der Pandemie abgeschafft. Im November 2020 gaben die Behörden in der Provinz Guizhou im Südwesten Chinas bekannt, dass die letzten neun verarmten Landkreise von der Armutsliste gestrichen wurden, was bedeutet, dass nun alle 832 armen Landkreise des Landes aus der Armut gehoben wurden. In sieben Jahren ermöglichte die Politik in China 80 Millionen Menschen (etwa die gesamte Bevölkerung Deutschlands) den Weg aus der Armut; insgesamt haben sich in den Jahrzehnten seit der Revolution von 1949 rund 850 Millionen Chinesen aus der Armut befreit. Es gab drei Zielwerte für diese Transformation: Erstens, dass keine chinesische Familie mehr unterhalb der ländlichen Armutsgrenze leben würde; zweitens, dass das kommunistische Projekt die «zwei Sorgen» von Hunger und Kleidung beenden würde; drittens, dass der chinesische Staat die «drei Garantien» von Bildung, Gesundheitsversorgung und Unterkunft sicherstellen würde. All dies geschah auch während der Pandemie.

Keine Frage, dass das sozialistische Projekt, das vor allem in den armen Ländern entwickelt wurde, dem kapitalistischen, welches trotz des Reichtums dieser Länder krisenhaft geblieben ist, weit überlegen ist. Um nur eine Zahl zur Veranschaulichung des katastrophalen Charakters dieses Systems zu nennen: Die Internationale Arbeitsorganisation (ILO) hat berechnet, dass der Gesamtverlust an Arbeitseinkommen in den ersten drei Quartalen des Jahres 2020 durchschnittlich 10,7 % betrug, was 3,5 Billionen Dollar an verlorenem Arbeitseinkommen entspricht (etwa 5,5 % der weltweiten Produktion im Jahr 2019). Das bedeutet, dass die Arbeiterklasse in den kapitalistischen Staaten ihre Fähigkeit verloren hat, sich um die zwei Sorgen (Lebensmittel und Kleidung) und die drei Garantien (Bildung, Gesundheit und Unterkunft) zu kümmern, die alle typischerweise privatisiert sind.
Aufgrund der Schwäche der sozialistischen Staaten und der globalen sozialistischen Bewegung werden die Vorteile des sozialistischen Projekts in einem verschärften Informationskrieg verunglimpft. Und es ist nicht gelungen, die Logik, den Menschen vor den Profit zu stellen, als globale politische Orientierung voranzutreiben. Stattdessen charakterisiert sich der gegenwärtige Moment durch drei Arten der Apartheid.

- Apartheid des Geldes. Die Auslandsverschuldung der Entwicklungsländer beträgt mehr als 11 Billionen Dollar, und es wird prognostiziert, dass sich die Zahlungen für den Schuldendienst bis zum Ende dieses Kalenderjahres auf fast 4 Billionen Dollar belaufen werden. Im vergangenen Jahr gaben vierundsechzig Länder mehr für den Schuldendienst aus als für die Gesundheitsversorgung. Es gab bescheidene Gespräche über die Aussetzung des Schuldendienstes, mit der moderaten Unterstützung verschiedener multilateraler Organisationen. Dieses Gerede über die Aussetzung des Schuldendienstes geht einher mit der Aufforderung des IWF an die Staaten, sich mehr Geld zu leihen, da die Zinsen niedrig sind; warum nicht einfach die gesamte Auslandsverschuldung streichen und – gleichzeitig – die mindestens 37 Billionen Dollar beschlagnahmen, die in illegalen Steuerparadiesen liegen? Das Wort, das oft verwendet wird, um Schuldenerlass zu definieren, ist «Vergebung». Es gibt jedoch nichts zu vergeben, da diese Schulden die Folge einer langen Geschichte von kolonialem Diebstahl und Plünderung sind. Die reicheren Länder können sich zu niedrigen bis gar keinen Zinsen verschulden, während die Entwicklungsländer Wucherzinsen zahlen müssen und abscheuliche Schulden mit kostbaren Geldern abbezahlen müssen, die eigentlich in Maßnahmen zur Unterbrechung der Infektionskette von COVID-19 fließen sollten.
- Medizinische Apartheid. Der Generaldirektor der WHO, Tedros Adhanom Ghebreyesus, sagte kürzlich, die Welt stehe am Rande eines «katastrophalen moralischen Versagens». Er bezog sich dabei auf den Impfstoff-Nationalismus und das Horten von Impfstoffen, die das kapitalistische Projekt kennzeichnen. Die Staaten des Nordatlantiks (Kanada, die Vereinigten Staaten, Großbritannien und viele europäische Staaten) haben den Aufruf Indiens und Südafrikas, die geistigen Eigentumsrechte am Impfstoff auszusetzen, achselzuckend ignoriert. Diese Staaten des Nordens haben das COVAX-Projekt unterfinanziert, weshalb dieses mit hoher Wahrscheinlichkeit zum Scheitern verurteilt ist. Deswegen wächst die Befürchtung, dass viele Menschen in Entwicklungsländern nicht vor 2024 einen Impfstoff erhalten werden. Dieselben Staaten haben Impfstoffe gehortet, wobei Kanada Vorräte von fünf Impfdosen pro Kanadier*in angelegt hat und diese Impfstoffe aus dem COVAX-Projekt bezieht. Es gibt eine große Kluft zwischen dieser Art von Impfstoff-Nationalismus und dem sozialistischen Internationalismus, der von kubanischen und chinesischen Ärzten zur Schau gestellt wird. Deshalb ist es unerlässlich, die Kampagne für die Verleihung des Friedensnobelpreises an Kubas Henry Reeve International Medical Brigade im Jahr 2021 zu unterstützen.
- Nahrungsmittel-Apartheid. Der Welthunger, der von 2005 bis 2014 zurückgegangen war, hat seitdem wieder zu steigen begonnen (und das, obwohl China in diesem Zeitraum den Hunger endgültig besiegt hat). Der Welthunger ist jetzt auf dem Niveau von 2010. Der Bericht der Ernährungs- und Landwirtschaftsorganisation der Vereinten Nationen (FAO) über die Ernährungsunsicherheit im Jahr 2020 zeigt, dass die Zahl der Hungernden bis 2030 auf über 840 Millionen steigen wird. Doch diese Prognose ist niedrig. Die Verringerung der Quantität und Qualität der den Menschen zur Verfügung stehenden Lebensmittel betrifft zwei Milliarden Menschen (26 % der Weltbevölkerung); dieser Großteil der Bevölkerung hat «Hunger erfahren» und hatte «2019 keinen regelmäßigen Zugang zu nahrhaften und ausreichenden Lebensmitteln». Diese Daten sind aus dem Jahr 2019, also von vor der Pandemie. Das Welternährungsprogramm der UN geht davon aus, dass sich die Zahl der Hungernden verdoppeln könnte, bevor die Pandemie eingedämmt ist.
Während diese Hunger-Pandemie eskaliert, liegt es nahe zu vermuten, dass die Politik Landwirt*innen und Landarbeiter*innen unterstützen würde, damit sie die Art von qualitativ hochwertigen Nahrungsmitteln produzieren können, die in der Pandemiezeit benötigt werden. Subventionsregelungen hätten gestärkt werden müssen, damit Lebensmittel erschwinglich werden. Der IWF und die anderen multilateralen Agenturen machten keine Anstalten, den Entwicklungsländern Spielraum für die Subventionierung der öffentlichen Lebensmittelverteilungssysteme zu geben. In Indien wollte die Regierung der extremen Rechten das Subventionspreissystem abbauen und provozierte damit einen langanhaltenden Bäuer*innenaufstand, dessen Ausgang eine neue politische Realität in Indien zu schaffen droht. Hinter der harten Politik der Subventionskürzungen in Ländern wie Indien verbirgt sich eine große Heuchelei, die Essenz der Nahrungsmittel-Apartheid: Die Vereinigten Staaten haben in den letzten zwanzig Jahren 1,7 Billionen Dollar ausgegeben, um ihre Landwirt*innen zu subventionieren, die zum größten Teil aus Unternehmen bestehen, während die Europäische Union jährlich 65 Milliarden Dollar ausgibt, um ihre Landwirt*innen zu subventionieren.
Das sind die drei Arten von Apartheid, die das kapitalistische Weltsystem bestimmen. Anders die Länder, die sich einem sozialistischen Projekt verschrieben haben und die inzwischen mit militärischen Angriffen und fortlaufenden hybriden Kriegstechnologien (wie dem Informationskrieg, Wirtschaftskrieg und dem diplomatischen Krieg) bedroht sind. Die Länder des Nordatlantiks verfolgen eher eine Politik der Konfrontation als der Kooperation und treiben eine Weltsicht voran, die eher auf Stigmatisierung als auf Solidarität beruht.
Die Pandemie könnte ein Portal sein, aber nicht, weil ihr Ausgang den Eliten automatisch die Augen öffnen wird. Sie leiten Geld in die Stützung der Banken und sorgen dafür, dass die Nachfrage nicht abflacht. Das ist ihre Motivation. Sie werden weder Schulden streichen, noch einen Impfstoff für die Massen herstellen oder dafür sorgen, dass die Ernährungssysteme robust sind und die Bäuer*innen und Landarbeiter*innen das Sagen haben; sie werden die Apartheid-Strukturen nicht von selbst aufheben.
Die negativen Auswirkungen der Pandemie auf die Arbeiter*innen und Bäuer*innen im Globalen Süden haben vor allem die Tendenz, die Lohndeflation zu verschlimmern, die die Verhandlungsmacht der multinationalen Konzerne stärkt; da die Einkommen und Löhne deflationieren und die Soziallöhne sinken, können die Firmen den Arbeiter*innen noch niedrigere Löhne anbieten. Aber diese Verschlechterung der Lebensbedingungen, die über die Grenzen des Erträglichen hinausgeht, stößt auf erbitterten Widerstand.
Der Aufstand der indischen Landarbeiter*innen und Bäuer*innen, der Streik der kenianischen und peruanischen Gesundheitsarbeiter*innen, die allgemeinen Proteste der Bevölkerung in Haiti und Tunesien, die Kämpfe gegen das völlige Versagen der Regierung bei der Pandemiebekämpfung in Brasilien, die Massendemonstrationen für die Legalisierung der Abtreibung in Argentinien: Das sind die Konturen der Volksaufstände, das, was G.W.F. Hegel in der Phänomenologie des Geistes (1807) «den Ernst, das Leiden, die Geduld und die Arbeit des Negativen» nennt. Es ist diese «Arbeit des Negativen», diese Kämpfe, die von Organisationen getragen werden, diese Bewegungen, die das Vertrauen und die Macht der Arbeiterklasse und der Bauernschaft aufbauen, die in der Lage wären, eine Agenda voranzutreiben. Indem sie gehen, erschaffen sie die Straßen.

Die Elite ist nicht in der Lage, die gewöhnlichen Probleme zu lösen, die durch die alltägliche Krise des Kapitalismus entstanden sind; sie sind sicherlich nicht in der Lage, die außergewöhnlichen Probleme zu lösen, die durch die Pandemie entstanden sind. Hier kommen soziale Bewegungen ins Spiel. Die Anliegen, die sie vorantreiben, sollen einen Weg aus dieser Pandemie schaffen, sicherlich, aber – darüber hinaus – auch aus der Erbärmlichkeit des Kapitalismus.
Herzlichst,
Vijay

Ich bin Tricontinental
Mwelela Cele, Forscher im Südafrika-Büro
Als Forscher für Tricontinental: Institute for Social Research in Südafrika vermisse ich die Möglichkeit, Archivbestände auf der Suche nach alten Bildern und anderem Archivmaterial zu besuchen. Aufgrund von Covid-19 sind die meisten Archive und Spezialsammlungen geschlossen oder nur an bestimmten Tagen für kurze Zeit geöffnet. Ich vermisse auch die aktive Beteiligung an der Einführung von Dossiers und Arbeitsdokumenten vor Ort, durch Panels in der Buchhandlung The Commune und die Beteiligung an der Organisation von Kolloquien in The Forge, wo wir vor Covid-19 Versammlungen organisierten, bei denen wir über Politik und eine breite Palette von Themen diskutierten. Im Moment liegt der Fokus auf Online-Programmen, Forschung und Publikationen: Ich bin an der Organisation von Online-Diskussionen/Webinaren beteiligt sowie daran, Archivmaterial online zu erschließen, Oral-History-Interviews zu führen und Bilder für Dossiers zu recherchieren.
Aus dem Englischen von Claire Louise Blaser.