Die Zukunft bringt nur das, was wir heute anlegen.
Der dreiundfünfzigste Newsletter (2020).
Liebe Freund*innen
Grüsse vom Schreibtisch des Tricontinental: Institute for Social Research.
Ende November sprach der Generalsekretär der Vereinten Nationen, António Guterres, vor dem Deutschen Bundestag anlässlich des 75-jährigen Bestehens der Vereinten Nationen (UNO). Das Herzstück der UNO ist ihre Charta, jener Vertrag, der die Nationen in einem globalen Projekt zusammenbindet und der inzwischen von allen 193 Mitgliedsstaaten der UNO ratifiziert worden ist. Es lohnt sich, die vier Hauptziele der UN-Charta in Erinnerung zu rufen, da die meisten von ihnen mittlerweile im öffentlichen Bewusstsein nur noch wenig präsent sind:
- die kommenden Generationen vor der «Geißel des Krieges» zu bewahren;
- den «Glauben an die Grundrechte des Menschen, an Würde und Wert der menschlichen Persönlichkeit … erneut zu bekräftigen»;
- die Achtung des Völkerrechts gewährleisten;
- den «sozialen Fortschritt und einen besseren Lebensstandard» bei größerer Freiheit zu fördern.
Guterres wies darauf hin, dass der Weg zur Verwirklichung der Ziele der Charta nicht nur von Neofaschisten versperrt wird, die er euphemistisch als «populistische Strömungen» bezeichnet, sondern auch von den übelsten Ausprägungen des Imperialismus, wie sie zum Beispiel im «Impfnationalismus» von Ländern wie den Vereinigten Staaten von Amerika zum Ausdruck kommen. «Es ist klar», so Guterres, «dass die Zukunft nur durch Weltoffenheit gewonnen werden kann» und nicht durch eine «Abschottung des Geistes».
Am Tricontinental: Institute for Social Research begreifen wir die UN-Charta als Grundlage für unsere Arbeit. Ihre Ziele voranzutreiben ist ein wesentlicher Bestandteil für die Erschaffung der Menschlichkeit. Menschlichkeit – ein Begriff, der eher ein Wunschbild als einen Tatbestand beschreibt; wir sind noch keine Menschen, aber wir streben danach, Menschen zu werden. Stellen Sie sich vor, wir würden in einer Welt ohne Krieg und mit Respekt vor dem Völkerrecht leben, in einer Welt, in der grundlegende Menschenrechte geachtet werden und in der das Bestreben ist, den größtmöglichen sozialen Fortschritt voranzutreiben? In dieser Welt, würden Produktionsmittel nicht mehr für die Herstellung militärischer Hardware missbraucht, sondern zur Abschaffung des Hungers, des Analphabetismus, der Armut und der Obdachlosigkeit, – mit anderen Worten – zur Abschaffung aller strukturellen Merkmale der Entwürdigung eingesetzt.
Im Jahr 2019 gaben die Staaten dieser Welt fast 2 Billionen US-Dollar für Waffen aus, und die reichsten Menschen der Welt 36 Billionen US-Dollar in illegalen Steuerparadiesen versteckten. Man bräuchte nur einen Bruchteil dieses Geldes, um Hunger zu beseitigen, mit Schätzwerten, die von 7 Milliarden bis 265 Milliarden Dollar pro Jahr reichen. Vergleichbare Summen werden benötigt, um ein umfassendes öffentliches Bildungswesen und eine universelle medizinische Grundversorgung zu finanzieren. Die Reichen bedienen sich der Produktionsmittel, und nutzen dann ihre Geldmacht, um sicherzustellen, dass die Zentralbanken die Inflation niedrig halten, anstatt Strategien zur Vollbeschäftigung zu verfolgen. Bei genauem Hinsehen ist das eine reine Gaunerei.
Zwei neue Studien der Weltbank zeigen, dass aufgrund des Mangels an Ressourcen und Einfallsreichtum während dieser Pandemie zusätzlich 72 Millionen Kinder im Grundschulalter in «Lernarmut» abrutschen werden, ein Begriff, der die Unfähigkeit beschreibt, bis zum Alter von zehn Jahren einfache Texte zu lesen und zu verstehen. Eine UNICEF-Studie zeigt, dass in Subsahara-Afrika im Verlauf der Pandemie zusätzlich 50 Millionen Menschen in extreme Armut abgerutscht sind, davon die Mehrheit Kinder; 280 Millionen der 550 Millionen Kinder in Subsahara-Afrika haben mit Ernährungsunsicherheit zu kämpfen, und für Millionen von Kindern, «die wahrscheinlich nie wieder in das Klassenzimmer zurückkehren werden», ist jegliches Lernen völlig zum Erliegen gekommen.
Die Kluft zwischen der Not der Milliarden, die ums Überleben kämpfen, und den Exzessen einiger ganz Weniger ist eklatant. Der Wohlstandsbericht der UBS hat einen unangenehmen Titel: Riding the storm: Market turbulence accelerates diverging fortunes («Auf den Wellen reiten: Marktturbulenzen beschleunigen das Auseinanderdriften der Vermögen»). Die 2.189 Milliardäre dieser Welt scheinen diese Welle der Pandemie zu ihrem großen Vorteil geritten zu sein, denn ihr Vermögen erreichte im Juli 2020 ein Rekordhoch von 10,2 Billionen Dollar (im Vergleich zu 8,0 Billionen Dollar im April). Besonders obszön ist die Tatsache, dass ihr Reichtum während des Großen Lockdowns von April bis Juli um mehr als ein Viertel (27,5%) gestiegen ist. Dies geschah zu einem Zeitpunkt, als Milliarden von Menschen in der kapitalistischen Welt arbeitslos wurden und mit äußerst bescheidenen staatlichen Unterstützungsleistungen auskommen mussten, während ihr Leben auf den Kopf gestellt wurde.
Unsere jüngste Studie, CoronaShock and Patriarchy («Coronoa-Schock und Patriarchie»), sollte zur Pflichtlektüre werden; sie liefert eine scharfsinnige Einschätzung der sozialen – und geschlechterspezifischen – Auswirkungen des Corona-Schocks. Unser Team wurde durch den akuten Zustand der Bedürftigkeit angetrieben, in dem sich Milliarden von Menschen befinden. Diese Bedürftigkeit wandelt grundlegende soziale Bindungen in Richtung einer extremen Ausbeutung und Unterdrückung von spezifischen Teilen der Bevölkerung. Der Bericht schließt mit einem achtzehn Punkte umfassenden Forderungskatalog, der eine Orientierung für unsere zukünftigen Kämpfe darstellt. Wir machen deutlich, dass die kapitalistischen Staaten von Eliten kontrolliert werden, die nicht in der Lage sind, die grundlegenden Probleme unserer Zeit wie Arbeitslosigkeit, Hunger, patriarchale Gewalt und die mangelnde Wertschätzung, Prekarität und Unsichtbarkeit der sozialen Reproduktionsarbeit zu lösen.
Die Texte, die wir in diesem Jahr veröffentlicht haben – von unseren Red Alerts zum Coronavirus bis hin zu den Studien zum Corona-Schock – versuchen, eine nüchterne Beurteilung der rasanten Entwicklungen zu ermöglichen, die zudem in der Weltanschauung der Massenbewegungen der Arbeiter*innen, Bäuer*innen und Unterdrückten verwurzelt ist. Wir haben uns die Auffassung der Weltgesundheitsorganisation zu Herzen genommen, unsere Studien auf «Solidarität statt Stigmatisierung» zu gründen. Ausgehend von den verblüffend niedrigen Infektionszahlen und Todesfällen in Ländern mit sozialistischen Regierungen wie Vietnam und Kuba untersuchten wir, warum diese Regierungen besser mit der Pandemie umgehen konnten.
Wir erkannten, dass dies auf die wissenschaftliche Herangehensweise zurückzuführen war, sowie darauf, dass es einen öffentlichen Sektor gab, der die notwendigen Ausrüstungen und Medikamente herstellte, dass die Regierungen sich auf gesellschaftliche Initiativen stützen konnten, die organisierte Bevölkerungsgruppen zusammenbrachten, um sich gegenseitig zu helfen, und dass sie eine internationalistische – und nicht rassistische – Herangehensweise an die durch das Virus ausgelöste Pandemie verfolgten, die den Austausch von Informationen, Gütern und – im Falle Chinas und Kubas – medizinischem Personal beinhaltete. Aus diesem Grund haben wir uns zusammen mit anderen Organisationen der Kampagne zur Verleihung des Friedensnobelpreises an die kubanischen Ärzt*innen angeschlossen.
Wir haben eine beachtliche Sammlung von Material zum Corona-Schock und zur Welt, die er hervorgebracht hat, zusammengestellt. Dazu gehört eine vorläufige Zehn-Punkte-Agenda für eine Post-COVID-Welt. Dieses Positionspapier wurde erstmals auf einer Konferenz über die Post-Pandemie-Wirtschaft vorgetragen, die von der Bolivarischen Allianz für die Völker unseres Amerikas (ALBA) organisiert wurde. In den ersten Monaten des Jahres 2021 werden wir ein ausführlicheres Dokument über die Welt nach Corona veröffentlichen.
Persönlich möchte ich dem gesamten Team von Tricontinental: Institute for Social Research meinen Dank aussprechen für ihre Widerstandsfähigkeit während der Pandemie, ihre Fähigkeit, mit deutlich höherem Tempo als zuvor zu arbeiten, und für die Heiterkeit in ihrem Umgang miteinander in dieser Zeit.
Wir treiben in unseren Bewegungen und Organisationen wie im Wasser, sie schützen uns die opportunistische und zynische Ausnutzung der Krise durch die kapitalistischen Regierungen, sie beflügeln uns und machen uns Mut. Letzte Woche wurde in diesem Newsletter die geduldige und engagierte Arbeit der jungen Genoss*innen der Kommunistischen Partei Indiens (Marxistisch) in Kerala gewürdigt, die sich für den Aufbau einer humanen und gerechten Gesellschaft einsetzen. Die gleiche Art von Arbeit ist auch in der Bewegung der Landlosen Arbeiter*innen in Brasilien (MST) zu sehen, und sie ist im Kupfergürtel Sambias zu sehen, wo die Mitglieder der Sozialistischen Partei einen Wahlkampf für die Präsidentschaftswahlen im nächsten Jahr führen, genauso wie in Südafrika, wo die Nationale Metallarbeitergewerkschaft (NUMSA) dafür kämpft, die Arbeiter*innen vor Entlassungen während der Pandemie zu schützen, und wo Abahlali baseMjondolo Vertrauen und Macht unter Slumbewohner*innen aufbaut.
Wir sehen dieses Durchhaltevermögen und die Hingabe bei unseren Genoss*innen der Arbeiterpartei Tunesiens und des Demokratischen Weges Marokkos, die eine Wiederbelebung der Linken im arabischsprachigen Raum anführen, und im grandiosen Einsatz der Völker Boliviens, Kubas und Venezuelas, Chinas, Laos’, Nepals und Vietnams, die sich um den Aufbau des Sozialismus in armen Ländern bemühen, und die permanent Angriffen auf diesen sozialistischen Weg ausgesetzt sind. Wir schöpfen Kraft aus den Beziehungen zu unseren Genoss*innen in Argentinien, die dafür kämpfen, die Kräfte der ausgeschlossenen Arbeiter*innen zu konsolidieren und eine Gesellschaft jenseits des Patriarchats aufzubauen. Wir sind ein von Bewegungen getragenes Forschungsinstitut; wir stützen uns bei allem, was wir tun, auf unsere Bewegungen und Organisationen.
Bei Tricontinental: Institute for Social Research träumen wir von einem besseren Leben. Wir möchten über den Horizont hinausschauen, um zu erkennen, welche Art von Gesellschaft Menschen jetzt aufbauen, die auf die Möglichkeiten eines post-kapitalistischen, nicht-antagonistischen Lebens hinweist. Für uns ist diese neue Gesellschaft nicht etwas, das in einer fertigen Zukunft auf uns wartet; vielmehr entsteht sie in der Gegenwart durch die Kämpfe der Arbeiterschaft und der Bauernschaft gegen die großen materiellen Entbehrungen und durch das Erträumen einer Welt jenseits dieses Lebens der Unwürdigkeit und des Mangels. Die Zukunft, so glauben wir, wird nichts anderes bringen als das, was wir heute anlegen.
Wir freuen uns, wenn ihr über unsere Website für unsere Arbeit spendet.
Happy New Year.
Herzlich,
Vijay
Aijaz Ahmad
Senior Fellow im interregionalen Büro
Ich lebe in extremer Selbstisolation, auf ärztliche Anordnung, und unterrichte meine Klassen über Zoom. Unterdessen schreibe ich einen Aufsatz über die historischen Grundlagen des amerikanischen Nationalismus. Grundlegend für die Entstehung dieses Nationalismus war der messianische Glaube, dass die USA eine gottgegebene, providentielle Mission hätten, die Welt nach ihrem eigenen Bild neu zu gestalten. Dieser Glaube diente zur Rechtfertigung von Kolonisierung, Völkermord, Rassensklaverei, kontinentaler und dann globaler Expansion. Die deutschen Nazis und die südafrikanischen Architekten der Apartheid haben das US-Modell sehr genau studiert und ihre wichtigsten Ideologien und Praktiken auf das vorangegangene US-Beispiel gestützt. Dieser Aufsatz ist Teil einer größeren, auf ein Buch angelegten Studie über die historischen und philosophischen Grundlagen des Rechtsnationalismus in Europa und den Vereinigten Staaten.
Aus dem Englischen übersetzt von Claire Louise Blaser.