Der Schwerpunkt der Weltwirtschaft verschiebt sich wieder nach Asien.
Der zweiundfünfzigste Newsletter (2023)
Liebe Freund*innen,
Grüße aus dem Büro von Tricontinental: Institute for Social Research.
Im Oktober 2023 veröffentlichte die Konferenz der Vereinten Nationen für Handel und Entwicklung (UNCTAD) ihren jährlichen Trade and Development Report. Dieser Bericht brachte keine großen Überraschungen. Das Wachstum des weltweiten Bruttoinlandsprodukts (BIP) ist weiterhin rückläufig, Anzeichen für einen Aufschwung gibt es nicht. Nach einer bescheidenen Erholung von 6,1 % im Jahr 2021 sank das Wirtschaftswachstum im Jahr 2023 auf 2,4 % und liegt damit unter dem Niveau vor der Pandemie; für das Jahr 2024 wird ein Wert von 2,5 % erwartet. Die Weltwirtschaft, so die UNCTAD, «bewegt sich im Schneckentempo», und alle konventionellen Indikatoren zeigen, dass der größte Teil der Welt in einer Rezession steckt.
Das neueste Notebook von Tricontinental: Institute for Social Research, The World in Depression: A Marxist Analysis of Crisis («Die Welt in der Depression: Eine marxistische Krisenanalyse»), stellt die Verwendung des Begriffs «Rezession» zur Beschreibung der gegenwärtigen Situation in Frage und argumentiert, dass dieser Begriff als «Nebelkerze dient, um die wahre Natur der Krise zu verbergen». Stattdessen erklärt das Notebook, dass «die anhaltende und tiefgreifende Krise, die wir heute erleben, eine große Depression ist». Die meisten Regierungen der Welt haben mit konventionellen Mitteln versucht, aus der großen Depression herauszuwachsen, aber diese Ansätze haben die ohnehin durch die hohe Inflation stark getroffenen Haushaltsbudgets enorm belastet und die zur Verbesserung der Beschäftigungsaussichten erforderlichen Investitionen gebremst. Wie die UNCTAD feststellt, geben die Zentralbanken «der kurzfristigen Geldwertstabilität Vorrang vor der langfristigen finanziellen Nachhaltigkeit. Dieser Trend, zusammen mit der unzureichenden Regulierung der Rohstoffmärkte und der ständigen Vernachlässigung der zunehmenden Ungleichheit, führt zu einer Zersplitterung der Weltwirtschaft». Unser Team in Brasilien untersucht diese Fragen in der kürzlich erschienenen Financeirização do capital e a luta de classes («Finanzialisierung des Kapitals und der Klassenkampf»), der vierten Ausgabe unserer portugiesischsprachigen Zeitschrift Revista Estudos do Sul Global («Zeitschrift für Studien des Globalen Südens»).
Allerdings gibt es einige Ausnahmen von dieser Regel. Die UNCTAD geht davon aus, dass fünf der G20-Länder im Jahr 2024 bessere Wachstumsraten aufweisen werden: Brasilien, China, Japan, Mexiko und Russland. Es gibt verschiedene Gründe, warum diese Länder Ausnahmen sind: In Brasilien zum Beispiel «treiben boomende Rohstoffexporte und Rekordernten das Wachstum an», wie die UNCTAD schreibt, während Mexiko von «einer weniger aggressiven geldpolitischen Straffung und einem Zustrom neuer Investitionen zum Aufbau neuer Produktionskapazitäten profitiert, ausgelöst durch die Engpässe, die in Ostasien in den Jahren 2021 und 2022 entstanden sind». Diese Länder scheint zu vereinen, dass sie die Geldpolitik nicht angezogen und verschiedene Formen staatlicher Interventionen genutzt haben, um sicherzustellen, dass die notwendigen Investitionen in das verarbeitende Gewerbe und die Infrastruktur getätigt werden.
Der im November 2023 veröffentlichte Economic Outlook der OECD stimmt mit der Einschätzung der UNCTAD überein, wonach «das globale Wachstum weiterhin in hohem Maße von den schnell wachsenden asiatischen Volkswirtschaften abhängt». Die OECD schätzt, dass sich dieses Wirtschaftswachstum in den nächsten zwei Jahren auf Indien, China und Indonesien konzentrieren wird, die zusammen fast 40 % der Weltbevölkerung ausmachen. In einer aktuellen Einschätzung des Internationalen Währungsfonds mit dem Titel «China stolpert, wird aber vermutlich nicht fallen», schreibt Eswar Prasad, dass «Chinas Wirtschaftsleistung in den letzten drei Jahrzehnten hervorragend war». Prasad, der frühere Leiter der China-Abteilung des IWF, führt diese Leistung auf die umfangreichen staatlichen Investitionen in die Wirtschaft und in den letzten Jahren auf das Wachstum des privaten Verbrauchs (der mit der Beseitigung der extremen Armut zusammenhängt) zurück. Wie andere im IWF und in der OECD wundert sich Prasad darüber, wie China so schnell wachsen konnte, «trotz fehlender Bedingungen, die Ökonom*innen als entscheidend für das Wachstum identifiziert haben – wie ein gut funktionierendes Finanzsystem, einen starken institutionellen Rahmen, eine marktorientierte Wirtschaft und ein demokratisches und offenes Regierungssystem». Die Beschreibung dieser vier Faktoren durch Prasad ist ideologisch geprägt und irreführend. Es ist zum Beispiel schwer nachvollziehbar, dass er das US-Finanzsystem nach der Immobilienkrise als «gut funktionierend» bezeichnet, nachdem diese eine Bankenkrise in der gesamten atlantischen Welt auslöste, oder angesichts der Tatsache, dass etwa 36 Billionen Dollar – oder ein Fünftel der weltweiten Liquidität – in illegalen Steuerparadiesen ohne Aufsicht oder Regulierung lagern.
Die Daten zeigen uns, dass eine Reihe von asiatischen Ländern sehr schnell wachsen, allen voran Indien und China, wobei letzteres zumindest in den letzten dreißig Jahren die längste anhaltende Phase schnellen Wirtschaftswachstums aufweist. Das ist unbestritten. Umstritten ist jedoch die Erklärung dafür, warum insbesondere China ein so hohes Wirtschaftswachstum verzeichnen konnte, wie es ihm gelungen ist, die extreme Armut zu beseitigen, und warum es sich in letzten Jahrzehnten darum bemüht hat, die Risiken der sozialen Ungleichheit abzuwenden. Der IWF und die OECD sind nicht in der Lage, eine angemessene Bewertung Chinas zu formulieren, weil sie von vornherein ablehnen, dass China einen neuen sozialistischen Weg beschreitet. Dies passt zu dem Unvermögen des Westens, die Gründe für Entwicklung und Unterentwicklung im Globalen Süden im weiteren Sinne zu verstehen.
Im vergangenen Jahr hat das Tricontinental: Institute for Social Research mit chinesischen Wissenschaftler*innen zusammengearbeitet, die untersuchen, wie ihr Land aus dem «Entwicklung der Unterentwicklung»-Kreislauf ausbrechen konnte. Im Rahmen dieses Prozesses arbeiten wir mit der chinesischen Zeitschrift Wenhua Zongheng (文化纵横) zusammen, um eine vierteljährlich erscheinende internationale Ausgabe herauszugeben, die die Arbeiten chinesischer Wissenschaftler*innen, die Expert*innen für die jeweiligen Themen sind, sammelt und Stimmen aus Afrika, Asien und Lateinamerika in den Dialog mit China bringt. Die ersten drei Ausgaben befassten sich mit den sich verändernden geopolitischen Konstellationen in der Welt («On the Threshold of a New International Order», März 2023), Chinas jahrzehntelangem Streben nach sozialistischer Modernisierung («China’s Path from Extreme Poverty to Socialist Modernisation», Juni 2023) und den Beziehungen zwischen China und Afrika («China-Africa Relations in the Belt and Road Era», Oktober 2023).
Die jüngste Ausgabe, «Chinese Perspectives on Twenty-First Century Socialism» (Dezember 2023), zeichnet die Entwicklung der weltweiten sozialistischen Bewegung nach und versucht, ihre künftige Ausrichtung zu bestimmen. In dieser Ausgabe vertreten Yang Ping, der Herausgeber der chinesischsprachigen Ausgabe von Wenhua Zongheng, und Pan Shiwei, der Ehrenvorsitzende des Instituts für Kulturmarxismus an der Akademie für Sozialwissenschaften in Shanghai, die Auffassung, dass sich derzeit eine neue Periode der sozialistischen Geschichte abzeichnet. Für Yang und Pan begann diese neue «Welle» oder «Form» des Sozialismus, die auf den im 19. Jahrhundert in Europa entstandenen Marxismus und den Aufstieg sozialistischer Staaten und sozialistisch inspirierter nationaler Befreiungsbewegungen im 20. Jahrhundert folgte, mit der Reform- und Öffnungsphase Chinas in den 1970er Jahren. Sie argumentieren, dass China durch einen allmählichen Prozess von Reformen und Experimenten eine ausgeprägte sozialistische Marktwirtschaft entwickelt hat. Die Autoren ordnen ein, wie China sein sozialistisches System stärken kann, um verschiedene nationale und internationale Herausforderungen zu bewältigen, sowie auc, was die globalen Auswirkungen von Chinas Aufstieg sind – das heißt, ob es eine neue Welle der sozialistischen Entwicklung in der Welt fördern kann oder nicht.
In der Einleitung zu dieser Ausgabe schreibt Marco Fernandes, Forscher am Tricontinental: Institute for Social Research, dass sich Chinas Wachstum deutlich von dem des Westens unterscheidet, da es nicht auf kolonialer Plünderung oder räuberischer Ausbeutung natürlicher Ressourcen im Globalen Süden beruht. Fernandes argumentiert, dass China stattdessen seinen eigenen sozialistischen Weg einschlägt, der die öffentliche Kontrolle über die Finanzen, die staatliche Planung der Wirtschaft, umfangreiche Investitionen in Schlüsselbereiche, die nicht nur Wachstum, sondern auch sozialen Fortschritt schaffen, und die Förderung einer Kultur der Wissenschaft und Technologie umfasst. Öffentliche Finanzen, Investitionen und Planung ermöglichten China die Industrialisierung durch Fortschritte in Wissenschaft und Technik und durch die Verbesserung des Humankapitals und des menschlichen Lebens.
China hat viele der Lektionen seiner Entwicklung mit der Welt geteilt, wie etwa die Notwendigkeit, die Finanzen zu kontrollieren, Wissenschaft und Technologie zu nutzen und sich zu industrialisieren. Die «Belt and Road»-Initiative, die jetzt zehn Jahre alt ist, stellt einen Weg für solche Zusammenarbeit zwischen China und dem Globalen Süden dar. Auch wenn der Aufstieg Chinas den Entwicklungsländern mehr Möglichkeiten eröffnet und ihre Entwicklungsaussichten verbessert hat, ist Fernandes vorsichtig, was die Möglichkeit einer neuen «sozialistischen Welle» angeht, und warnt davor, dass die hartnäckigen Probleme des Südens wie Hunger und Arbeitslosigkeit ohne industrielle Entwicklung nicht überwunden werden können. Allerdings, schreibt er,
kann dies nicht allein durch Beziehungen zu China (oder Russland) erreicht werden. Es ist notwendig, nationale Volksprojekte mit breiter Beteiligung fortschrittlicher sozialer Sektoren, insbesondere der Arbeiterklassen, zu stärken, da sonst die Früchte jeglicher Entwicklung nicht von denen geerntet werden können, die sie am meisten brauchen. Angesichts der Tatsache, dass nur wenige Länder des Globalen Südens derzeit einen Aufschwung der Massenbewegungen erleben, bleiben die Aussichten auf eine globale «dritte sozialistische Welle» fraglich; realistischer scheint, dass sich eine neue Entwicklungswelle mit dem Potenzial eines progressiven Charakters abzeichnet.
Genau darauf haben wir in unserem Dossier vom Juli, The World needs a New Socialist Development Theory, hingewiesen. Eine Zukunft, die das Wohlergehen der Menschheit und des Planeten in den Mittelpunkt stellt, wird sich nicht von selbst einstellen, sondern nur aus organisierten sozialen Kämpfen hervorgehen.
Da wir uns dem Ende eines weiteren Jahres nähern, möchte ich euch für all eure Unterstützung danken. Wir sind auf die Spendenbeiträge von Freund*innen wie euch angewiesen. Wenn ihr uns unterstützen möchtet, tut dies bitte hier.
Herzlichst,
Vijay