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Wir tanzen in das neue Jahr, schlagen unsere Hämmer und schwingen unsere Sicheln.

Der zweiundfünfzigste Newsletter (2021).

P.S. Jalaja (Indien), We Surely Can Change the World , 2021.

Liebe Freund*innen,

 

Grüße aus dem Büro von Tricon­ti­nen­tal: Insti­tute for Social Rese­arch.

 

Dieses Jahr ist ein bitter­sü­ßes Jahr. Es gab einige große Siege und einige kata­stro­phale Nieder­la­gen, von denen die schreck­lichste das Versa­gen der Länder des Globa­len Nordens war, sich im Kampf gegen die COVID-19-Pande­mie soli­da­risch zu verhal­ten und einen gerech­ten Zugang zu wich­ti­gen Ressour­cen zu schaf­fen, von lebens­ret­ten­den medi­zi­ni­schen Gerä­ten bis hin zu Impf­stof­fen. Tragi­scher­weise werden wir bis zum Ende dieser Pande­mie das grie­chi­sche Alpha­bet aus den nach seinen Buch­sta­ben benann­ten Vari­an­ten (Delta, Omic­ron) gelernt haben, die weiter­hin auftauchen.

 

Kuba ist welt­weit führend bei den Impf­quo­ten und nutzt einhei­mi­sche Impf­stoffe, um seine Bevöl­ke­rung zu schüt­zen, ebenso wie die ande­rer Länder von Vene­zuela bis Viet­nam, treu einer langen Geschichte medi­zi­ni­scher Soli­da­ri­tät. Die Länder mit den nied­rigs­ten Impf­ra­ten – derzeit ange­führt von Burundi, der Demo­kra­ti­schen Repu­blik Kongo, Haiti, dem Südsu­dan, dem Tschad und dem Jemen – gehö­ren zu den ärms­ten der Welt und sind auf auslän­di­sche Hilfe ange­wie­sen, da ihnen ihre Ressour­cen im Grunde genom­men gestoh­len werden, indem sie beispiels­weise von multi­na­tio­na­len Unter­neh­men zu unver­schämt nied­ri­gen Prei­sen aufge­kauft werden. Am 15. Dezem­ber 2021 waren 0,04 % der 12 Millio­nen Einwoh­ner Burun­dis geimpft. Bei der derzei­ti­gen Impf­quote würde das Land bis Januar 2111 nur eine Durch­imp­fungs­rate von 70 % erreichen.


Im Mai 2021 erklärte Dr. Tedros Adha­nom Ghebrey­e­sus, Leiter der Welt­ge­sund­heits­or­ga­ni­sa­tion, dass sich die Welt in einer «Impf­stoff-Apart­heid» befinde. Seit­dem hat sich wenig geän­dert. Ende Novem­ber sagte der Ko-Vorsit­zende der Afri­ka­ni­schen Union für die Bereit­stel­lung von Impf­stof­fen, Dr. Ayoade Alakija, zum Aufkom­men von Omic­ron im südli­chen Afrika: «Was jetzt geschieht, ist unver­meid­lich. Es ist das Ergeb­nis des Versa­gens der Welt, gerecht, drin­gend und schnell zu impfen. Es ist das Ergeb­nis des Hortens [von Impf­stof­fen] durch Länder mit hohem Einkom­men, und das ist offen gesagt inak­zep­ta­bel». Mitte Dezem­ber wurde Alakija von Ghebrey­e­sus zur WHO-Sonder­be­auf­trag­ten für die Beschleu­ni­gung des Zugangs zu COVID-19-Tools ernannt. Ihre Aufgabe ist nicht einfach, und sie wird ihr Ziel nur errei­chen, wenn, wie sie es formu­lierte, «ein Leben in Mumbai genauso wich­tig ist wie eins in Brüs­sel, wenn ein Leben in São Paulo genauso wich­tig ist wie ein Leben in Genf, und wenn ein Leben in Harare genauso wich­tig ist wie eins in Washing­ton DC».

Addis Geze­hagn (Äthio­pien), Floa­ting City XVIII, 2020.

Die Impf­stoff-Apart­heid ist Teil eines umfas­sen­de­ren Problems der medi­zi­ni­schen Apart­heid, einer der vier Apart­hei­den unse­rer Zeit, zu denen auch die Nahrungs­mit­tel-Apart­heid, die Geld-Apart­heid und die Bildungs-Apart­heid gehö­ren. Einem neuen Bericht der Ernäh­rungs- und Land­wirt­schafts­or­ga­ni­sa­tion der Verein­ten Natio­nen zufolge ist die Zahl der unter­ernähr­ten Menschen in Afrika seit 2014 um 89,1 Millio­nen gestie­gen und wird im Jahr 2020 281,6 Millio­nen errei­chen. Es lohnt sich, über Dr. Alaki­jas Frage nach der Mensch­lich­keit, nach dem Wert, der verschie­de­nen Menschen zuge­wie­sen wird, nach­zu­den­ken: Kann ein Leben in Harare genauso viel wert sein wie ein Leben in Washing­ton DC? Können wir als Volk diese Apart­heid über­win­den und die elemen­ta­ren Probleme lösen, mit denen die Menschen auf unse­rem Plane­ten konfron­tiert sind, und die barba­ri­sche Art und Weise been­den, mit der das derzei­tige wirt­schaft­li­che und poli­ti­sche System die Menschen und die Natur quält?

 

Eine solche Frage klingt naiv für dieje­ni­gen, die verges­sen haben, was es heißt, an etwas zu glau­ben – wenn schon nicht an die Idee der Mensch­lich­keit selbst, so doch zumin­dest an die verbind­li­che Charta der Verein­ten Natio­nen (1945) und die teil­weise verbind­li­che UN-Menschen­rechts­er­klä­rung (1948). Die Erklä­rung fordert uns als Mensch­heit auf, uns zu verpflich­ten, die «ange­bo­rene Würde» des ande­ren zu achten – ein Stan­dard, der in den Jahren, seit die Regie­rungs­chefs den endgül­ti­gen Text unter­zeich­net haben, zusam­men­ge­bro­chen ist.

Nougat, The Sniper of Kaya, 2021, mit freund­li­cher Geneh­mi­gung von BreakTh­rough News.

 

Trotz dieser Apart­heid gibt es einige Fort­schritte für die Menschheit:

 

    1. Das chine­si­sche Volk hat die extreme Armut ausge­rot­tet, und in den letz­ten acht Jahren konn­ten sich fast 100 Millio­nen Menschen aus dem abso­lu­ten Elend befreien. Unsere erste Studie in der Reihe «Studien zum sozia­lis­ti­schen Aufbau» mit dem Titel Serve the People: The Eradi­ca­tion of Extreme Poverty in China beschreibt detail­liert, wie diese bemer­kens­werte Leis­tung erreicht wurde.
    2. Indi­sche Landarbeiter*innen kämpf­ten tapfer für die Aufhe­bung von drei Geset­zen, die ihre Arbeits­be­din­gun­gen zu verschlech­tern droh­ten, und setz­ten sich nach einem Jahr Kampf durch. Dies ist der bedeu­tendste Arbeits­sieg seit vielen Jahren. In unse­rem Juni-Dossier, The Farmers’ Revolt in India, haben wir den Kampf um Land in Indien und den Wider­stand der Bäuer*innen in den letz­ten zehn Jahren beschrieben.
    3. In Boli­vien, Chile und Hondu­ras kamen linke Regie­run­gen an die Macht und been­de­ten damit eine Folge von Putschen und Regime­wech­seln in diesen Ländern, die von 1973 (Chile) über 2009 (Hondu­ras) bis 2019 (Boli­vien) reicht. Vor einem Jahr befass­ten wir uns in unse­rem Januar-Dossier, Twilight, mit der Erosion der US-ameri­ka­ni­schen Kontrolle über globale Ange­le­gen­hei­ten und dem Entste­hen einer multi­po­la­ren Welt. Die Tatsa­che, dass es den USA nicht gelun­gen ist, ihre Ziele in diesen Ländern zu errei­chen und die kuba­ni­sche Revo­lu­tion und den vene­zo­la­ni­schen revo­lu­tio­nä­ren Prozess durch hybride Kriege zu stür­zen, bedeu­tet eine große Chance für die Menschen in der ameri­ka­ni­schen Hemi­sphäre. Die Trends zeigen, dass Lula da Silva im Jahr 2022 den Kandi­da­ten der Rech­ten in Brasi­lien besie­gen und die Gräu­el­ta­ten der Regie­rung von Jair Bolso­n­aro been­den wird. In unse­rem Mai-Dossier, The Chal­lenges Facing Brazil’s Left, können Sie sich über die poli­ti­schen Dilem­mata in Latein­ame­ri­kas größ­tem Land informieren.
    4. Die wach­sende Wut auf dem afri­ka­ni­schen Konti­nent gegen die zuneh­mende Mili­tär­prä­senz der Verei­nig­ten Staa­ten und Frank­reichs fand ihren Ausdruck in der Stadt Kaya im Westen von Burkina Faso. Als im Novem­ber ein fran­zö­si­scher Mili­tär­kon­voi in die Nähe der Stadt fuhr, wurde er von einer Gruppe von Demonstrant*innen gestoppt. Darauf­hin ließen die Fran­zo­sen eine Über­wa­chungs­drohne star­ten, um die Menge zu beob­ach­ten. Aliou Sawa­dogo (13 Jahre) schoss die Drohne mit seiner Stein­schleu­der ab, «ein burkina­bi­scher David gegen den fran­zö­si­schen Goli­ath», schrieb Jeune Afri­que. Unser Dossier vom Juli, Defen­ding Our Souve­reig­nty: US Mili­tary Bases in Africa and the Future of Afri­can Unit, wurde gemein­sam mit der Forschungs­gruppe des Socia­list Move­ment of Ghana heraus­ge­ge­ben und beschreibt die wach­sende west­li­che Mili­tär­prä­senz auf dem Kontinent.

Über­all auf der Welt haben wir Streiks von Pfle­ge­kräf­ten aller Art erlebt, vom Gesund­heits­per­so­nal bis zu Haus­an­ge­stell­ten. Diese Arbeiter*innen sind von der Grau­sam­keit des Neoli­be­ra­lis­mus und von dem, was wir Corona-Schock nennen, hart getrof­fen worden. Aber diese Arbeitnehmer*innen haben sich gewei­gert, zu kuschen und ihre Würde aufzu­ge­ben. Unser März-Dossier, Unco­ve­ring the Crisis: Care Work in the Time of Coro­na­vi­rus, gibt einen Über­blick über den Druck, der auf diesen Beschäf­tig­ten lastet, und öffnet ein Fens­ter zu ihren Kämpfen.

 

Harri­son Forman (US), Afgha­ni­stan, Männer umrin­gen den Geschich­ten­er­zäh­ler auf dem Markt von Kabul, 1953.

 

Natür­lich ist diese Liste nicht umfas­send. Dies sind nur einige wenige Meilen­steine des Fort­schritts. Nicht jeder Fort­schritt ist eindeu­tig. Nach zwan­zig Jahren waren die Verei­nig­ten Staa­ten gezwun­gen, sich endgül­tig aus Afgha­ni­stan zurück­zu­zie­hen, da sie den Krieg gegen die Tali­ban verlo­ren hatten. Keines der Kriegs­ziele der Verei­nig­ten Staa­ten scheint erreicht worden zu sein, und dennoch bedro­hen sie dieses Land mit seinen fast 39 Millio­nen Einwoh­nern weiter­hin mit dem Hunger­tod. Die Verei­nig­ten Staa­ten hindern Afgha­ni­stan daran, auf seine Auslands­re­ser­ven in Höhe von 9,5 Milli­ar­den Dollar zuzu­grei­fen, die in US-Banken lagern, und sie verhin­dern, dass die afgha­ni­sche Regie­rung ihren Platz im UN-System einneh­men kann. Als Folge des Zusam­men­bruchs der Auslands­hilfe, die im vergan­ge­nen Jahr 43 % des afgha­ni­schen BIP ausmachte, rech­net das UN-Entwick­lungs­pro­gramm damit, dass das BIP des Landes in diesem Jahr um 20 % und in den Folge­jah­ren um 30 % sinken wird. Gleich­zei­tig schätzt der UN-Bericht, dass das Pro-Kopf-Einkom­men des Landes bis 2022 auf fast die Hälfte des Niveaus von 2012 sinken könnte. Schät­zun­gen zufolge werden 97 % der afgha­ni­schen Bevöl­ke­rung unter die Armuts­grenze fallen, so dass in diesem Winter mit einem Massen­ver­hun­gern zu rech­nen ist. Ein Leben im Wakhan-Korri­dor wird nicht gleich geschätzt wie ein Leben in London. Die «dem Menschen inne­woh­nen­den Würde» – wie es in der UN-Erklä­rung heißt – wird nicht geachtet.

 

Dies betrifft nicht nur Afgha­ni­stan. Der kürz­lich veröf­fent­lichte World Inequa­lity Report 2022 zeigt, dass die ärmste Hälfte der Welt­be­völ­ke­rung nur 2 % des gesam­ten Privat­ver­mö­gens (Geschäfts- und Finanz­ver­mö­gen, ohne Schul­den, Immo­bi­lien) besitzt, während die reichs­ten zehn Prozent 76 % des gesam­ten Privat­ver­mö­gens besit­zen. Die Ungleich­heit zwischen den Geschlech­tern prägt diese Zahlen, da Frauen nur knapp 35 % des Arbeits­ein­kom­mens erhiel­ten, während der Anteil der Männer bei 65 % lag (eine leichte Verbes­se­rung gegen­über den Zahlen von 1990, als der Anteil der Frauen 31 % betrug). Diese Ungleich­heit ist ein weite­res Maß für die unglei­che Würde, die den Menschen entlang der Klas­sen­gren­zen und der Hier­ar­chien von Geschlecht und Natio­na­li­tät gewährt wird.

 

 

1959 schrieb der kommu­nis­ti­sche irani­sche Dich­ter Siavash Kasra’i eine seiner Elegien, Arash‑e Kaman­gir («Arash der Bogen­schütze»). Anhand der volks­tüm­li­chen Mytho­lo­gie der anti­ken Schlacht, die der helden­hafte Bogen­schütze Arash zur Befrei­ung seines Landes führte, schil­dert Kasra’i die anti­im­pe­ria­lis­ti­schen Kämpfe seiner Zeit. Aber das Gedicht handelt nicht nur von Kämp­fen, denn wir fragen uns auch nach den Möglichkeiten:

 

Ich sagte dir, das Leben ist schön.

Erzähl­tes und Uner­zähl­tes, es gibt hier viel.

Der klare Himmel;

Die goldene Sonne;

Die Blumen­gär­ten;

Die unend­li­chen Ebenen;

 

Die Blumen, die durch den Schnee hervorlugen;

Das zarte Schwin­gen der Fische, die im kris­tall­kla­ren Wasser tanzen;

Der Duft des vom Regen aufge­wir­bel­ten Staubs an den Berghängen;

Der Schlaf der Weizen­fel­der im Früh­ling im Mondlicht;

Zu kommen, zu gehen, zu laufen;

Zu lieben;

Um die Mensch­heit zu trauern;

Und Arm in Arm mit den Freu­den der Menge zu schwelgen.

 

Die herz­lichs­ten Wünsche für ein revo­lu­tio­nä­res 2022,

 

Vijay

Aus dem Engli­schen von Claire Louise Blaser.