Transnationale Konzerne lösen einen gewaltigen Schreckensschrei aus, der die Welt bis ins Mark erschüttert. 

Der einundfünfzigste Newsletter (2023)

Quen­tin Matsys (Nieder­lande), The Tax Coll­ec­tors, c. 1525–1530.

Liebe Freund*innen,

 

Grüße aus dem Büro von Tricon­ti­nen­tal: Insti­tute for Social Rese­arch.

 

Inner­halb der Verein­ten Natio­nen gibt es eine wenig bekannte Debatte über den Status der globa­len Steu­er­re­gu­lie­rung. Im August 2023 veröf­fent­lichte UN-Gene­ral­se­kre­tär Antó­nio Guter­res den Entwurf eines Doku­ments mit dem Titel «Promo­tion of Inclu­sive and Effec­tive Inter­na­tio­nal Tax Coope­ra­tion at the United Nati­ons». Dieses Doku­ment ist das Ergeb­nis einer langen, vom Globa­len Süden geführ­ten Debatte über  unre­gu­lierte Prak­ti­ken trans­na­tio­na­ler Unter­neh­men (insbe­son­dere die Art und Weise, wie sie Steu­ern vermei­den) und über die Tatsa­che, dass die Diskus­sio­nen über Regu­lie­run­gen von den Ländern des Globa­len Nordens domi­niert werden (insbe­son­dere von den Mitglied­staa­ten der Orga­ni­sa­tion für wirt­schaft­li­che Zusam­men­ar­beit und Entwick­lung, kurz OECD, einer zwischen­staat­li­chen Platt­form, die haupt­säch­lich aus den reichs­ten Ländern der Welt besteht). Im Okto­ber letz­ten Jahres hat die nige­ria­ni­sche Regie­rung in der UN-Gene­ral­ver­samm­lung eine Reso­lu­tion einge­bracht, in der sie sich für ein inter­na­tio­na­les Abkom­men zur steu­er­li­chen Zusam­men­ar­beit ausspricht und vorschlägt, dass die UNO die Zustän­dig­keit für die Debatte über die Steu­er­ge­setz­ge­bung über­nimmt. Im Dezem­ber 2022 verab­schie­dete die UN-Gene­ral­ver­samm­lung die Reso­lu­tion, in der Guter­res aufge­for­dert wurde, einen Bericht zu diesem Thema zu erstel­len und eine neue inter­na­tio­nale Steu­er­agenda zu entwickeln.

 

Guter­res’ Bericht vom August 2023 bekräf­tigt die Notwen­dig­keit eines «inte­gra­ti­ven und effek­ti­ven» Steu­er­ab­kom­mens und argu­men­tiert, dass die Zwei-Säulen-Lösung, die im Inclu­sive Frame­work on Base Erosion and Profit Shif­ting der OECD und der G20 darge­legt ist, unzu­rei­chend ist. In der zwei­ten Säule dieser Lösung wird die Entwick­lung einer globa­len effek­ti­ven Mindest­steuer auf «Über­schuss­ge­winne» disku­tiert. Diese Steuer würde jedoch auf den indi­vi­du­el­len Recht­spre­chun­gen basie­rend von Land zu Land erho­ben werden, was den gesam­ten Prozess ins Chaos stür­zen würde. Auch wenn die OECD-G20-Poli­tik von einer Minder­heit von Ländern entwi­ckelt wurde, soll sie zur globa­len Norm für alle Länder werden. Selbst wenn die OECD und die G20 andere Länder um Beiträge bitten, so Guter­res, «stel­len viele dieser Länder fest, dass es erheb­li­che Hinder­nisse für eine sinn­volle Betei­li­gung an der Fest­le­gung der Agenda und der Entschei­dungs­fin­dung gibt». Dies, so Guter­res, sei unge­recht. Die UNO sollte der Ort sein, an dem ein neues inter­na­tio­na­les Steu­er­ab­kom­men geschaf­fen wird – und nicht ein Ort, an dem will­kür­li­che Gremien wie die OECD und die G20 ihre Agenda durchsetzen.

Arturo Rivera (Mexiko), El Encuen­tro, 2016.

Fairer­weise muss man sagen, dass die OECD eine Reihe wich­ti­ger Vorschläge erar­bei­tet hat, darun­ter ein globa­les Steu­er­ab­kom­men für 2021, auf das sich 136 Länder geei­nigt haben. Aufgrund des Drucks trans­na­tio­na­ler Konzerne (und der US-Regie­rung) wurde die Umset­zung dieses Abkom­mens jedoch auf 2026 verscho­ben. Nichts­des­to­trotz brach­ten Enthül­lun­gen über ille­gale Steu­er­oa­sen (wie die Para­dise Papers ab 2017 und die Luxem­burg-Leaks ab 2014) die Frage der Regu­lie­rung von Finanz­strö­men in den Vorder­grund und setz­ten die OECD und die G20 unter Druck, ihre Verspre­chen einzu­lö­sen. Eine Stel­lung­nahme der OECD über bishe­rige Ergeb­nisse vom Juli 2023 brachte das Thema wieder auf den Tisch, denn laut dieser wird das Zwei-Säulen-Steu­er­sys­tem ab 2024 in Kraft treten. Diese Rege­lung sieht eine globale Steuer von mindes­tens 15 % auf die Gewinne trans­na­tio­na­ler Unter­neh­men vor, die in einem Hoheits­be­reich 750 Millio­nen Euro über­stei­gen. Selbst hier bieten die Vorschrif­ten trans­na­tio­na­len Konzer­nen bis Juni 2028 einen siche­ren Hafen durch Prak­ti­ken wie einen verein­fach­ten effek­ti­ven Steu­er­satz, einen Routine-Gewinn­test und einen De-Mini­mis-Test – alles Instru­mente, die eine gewisse Buch­hal­tungs­aus­bil­dung erfor­dern, um sie rich­tig zu verste­hen. Mit ande­ren Worten: Das System zur Regu­lie­rung trans­na­tio­na­ler Konzerne schafft ledig­lich Geschäfts­mög­lich­kei­ten für globale Wirt­schafts­prü­fungs­ge­sell­schaf­ten, die diesen Unter­neh­men helfen, ihre Gewinne weiter­hin zu schüt­zen. Im Jahr 2022 werden die vier größ­ten Wirt­schafts­prü­fungs­ge­sell­schaf­ten jeweils zwischen 34 und 60 Milli­ar­den Dollar Umsatz machen, und Deloitte alleine machte 2023 64,9 Milli­ar­den Dollar Umsatz (ein Anstieg von 9,3 % gegen­über dem Vorjahr).

 

Im Jahres­be­richt des Tax Justice Network, der im Juli 2023 veröf­fent­licht wurde, heißt es, dass die gesamte Steu­er­de­batte «auf eine Zahl hinaus­läuft: 4,8 Billio­nen Dollar. Das ist der Betrag, den wohl­ha­bende Unter­neh­men und Einzel­per­so­nen unse­rer Schät­zung nach in den nächs­ten zehn Jahren unter der derzei­ti­gen Führung der OECD-Steu­er­po­li­tik vermei­den und hinter­zie­hen werden». Die Daten zeigen, dass «Länder mit höhe­rem Einkom­men in abso­lu­ten Zahlen die größ­ten Einnah­me­ver­luste haben und dass sie auch für den größ­ten Teil des Problems welt­weit verant­wort­lich sind». Die zehn Länder, die am meis­ten zur welt­wei­ten Steu­er­un­ter­schla­gung beitra­gen, sind – in abstei­gen­der Reihen­folge – das Verei­nigte König­reich, die Nieder­lande, die Kaiman­in­seln, Saudi-Arabien, Luxem­burg, die Bermu­das, die Verei­nig­ten Staa­ten, Singa­pur, Irland und Hong­kong (wobei anzu­mer­ken ist, dass sowohl die Kaiman­in­seln als auch die Bermu­das briti­sche Terri­to­rien sind). Länder mit nied­ri­ge­rem Einkom­men «erlei­den jedoch die größ­ten Verluste und verlie­ren bei weitem den größ­ten Teil ihrer laufen­den Steu­er­ein­nah­men oder ihres Bedarfs an öffent­li­chen Ausga­ben». Wie aus dem OECD-Bericht Tax Trans­pa­rency in Africa 2023 hervor­geht, verliert der Konti­nent beispiels­weise jedes Jahr bis zu 88 Milli­ar­den Dollar durch ille­gale Finanz­ströme. Das Tax Justice Network hat in seinem Bericht einen klaren Appell formuliert:

 

Die Länder müssen sich entschei­den: Entwe­der geben sie das Geld und damit unsere Zukunft an die reichste Hand­voll Menschen auf der Welt ab, oder sie fordern es ein und fordern damit eine Zukunft, in der die Macht der reichs­ten Unter­neh­men und Milli­ar­däre, wie die eins­ti­gen Könige und Barone, durch den Marsch der Demo­kra­tie zurück­ge­drängt wird. Eine Zukunft, in der Steu­ern unser mäch­tigs­tes Instru­ment zur Bewäl­ti­gung der Heraus­for­de­run­gen sind, vor denen unsere Gesell­schaf­ten stehen, und zum Aufbau einer gerech­te­ren, grüne­ren und inte­gra­ti­ve­ren Welt.

Wifredo Lam (Kuba), El Tercer Mundo, 1965–1966.

1975 grün­de­ten die Verein­ten Natio­nen das Infor­ma­ti­ons- und Forschungs­zen­trum für trans­na­tio­nale Unter­neh­men (UNCTC). Zwei mitein­an­der verbun­dene Ereig­nisse führ­ten zu seiner Grün­dung: erstens die Verab­schie­dung der Neuen Inter­na­tio­na­len Wirt­schafts­ord­nung (NIEO) durch die UN-Gene­ral­ver­samm­lung im Jahr 1974 und zwei­tens der Staats­streich gegen die Regie­rung der Volks­front des chile­ni­schen Präsi­den­ten Salva­dor Allende im Septem­ber 1973. 1972 hatte Allende die Führung im Prozess zur Schaf­fung der NIEO über­nom­men, um Ländern wie Chile die Souve­rä­ni­tät über ihre Rohstoffe zu ermög­li­chen. Allende äußerte sich auf der UNCTAD-III-Tagung in Sant­iago im April 1972 und vor der UN-Gene­ral­ver­samm­lung im Dezem­ber 1972 nach­drück­lich zu diesen Themen (wie wir in unse­rem Dossier The Coup against the Third World: Chile, 1973 näher beleuch­ten). Der Putsch gegen Allende stärkte in der Drit­ten Welt den Willen, trans­na­tio­nale Unter­neh­men wie den ehema­li­gen Tele­kom­mu­ni­ka­ti­ons­rie­sen Inter­na­tio­nal Tele­graph and Tele­phone Company (ITT) und das Kupfer­un­ter­neh­men Anaconda, die beide eine entschei­dende Rolle beim Putsch in Chile spiel­ten, zu beauf­sich­ti­gen und zu regu­lie­ren. Das UNCTC war also eine Folge der NIEO und des Putsches.

 

Die Aufgabe des UNCTC war einfach: Der Aufbau eines Infor­ma­ti­ons­sys­tems über die Akti­vi­tä­ten trans­na­tio­na­ler Unter­neh­men, die Schaf­fung von Program­men zur tech­ni­schen Unter­stüt­zung, die den Regie­run­gen der Drit­ten Welt bei Verhand­lun­gen mit diesen Unter­neh­men helfen, und die Aufstel­lung eines Verhal­tens­ko­de­xes, an den sich diese Unter­neh­men bei ihren inter­na­tio­na­len Akti­vi­tä­ten zu halten haben. Das UNCTC mit seinen drei­und­drei­ßig Mitarbeiter*innen nahm seine Arbeit erst 1977 auf. Von Anfang an stand es unter dem Druck der Inter­na­tio­na­len Handels­kam­mer und verschie­de­ner US-ameri­ka­ni­scher Think Tanks, die bei der US-Regie­rung Lobby­ar­beit betrie­ben, um seine Arbeit zu verhindern.

 

Dennoch haben die Mitarbeiter*innen des UNCTC in den fünf­zehn Jahren seines Bestehens 265 Doku­mente verfasst, die sich mit Berei­chen wie bila­te­ra­len Inves­ti­ti­ons­ver­trä­gen und den sozia­len Auswir­kun­gen trans­na­tio­na­ler Unter­neh­men befas­sen. Die Arbeit des UNCTC ging lang­sam in Rich­tung eines Verhal­tens­ko­de­xes für trans­na­tio­nale Unter­neh­men, der die Fähig­keit dieser Unter­neh­men, ein System der finan­zi­el­len Ausbeu­tung durch ille­gale Finanz­ströme (einschließ­lich Verrech­nungs­preise und Gewinn­über­wei­sun­gen) zu schaf­fen, behin­dert hätte. 1987 forderte die Gene­ral­ver­samm­lung der Verein­ten Natio­nen das UNCTC auf, den Verhal­tens­ko­dex fertig­zu­stel­len und eine Sonder­sit­zung zur Erör­te­rung dessel­ben abzuhalten.

 

Im selben Jahr behaup­tete die in den USA ansäs­sige Heri­tage Foun­da­tion, dass das UNCTC ein «vorsätz­lich anti­west­li­ches und gegen die freie Wirt­schaft gerich­te­tes Motiv» habe. Im März 1991 sandte das US-Außen­mi­nis­te­rium eine Demar­che an seine Botschaf­ten und sprach sich gegen den Verhal­tens­ko­dex aus, den es als «Relikt einer ande­ren Ära, in der auslän­di­sche Direkt­in­ves­ti­tio­nen mit großer Sorge betrach­tet wurden», betrach­tete. Die Sitzung zur Verab­schie­dung des Verhal­tens­ko­de­xes fand nie statt. Die USA dräng­ten den neuen UN-Gene­ral­se­kre­tär Boutros Boutros-Ghali, das UNCTC abzu­schaf­fen, was er im Rahmen einer brei­te­ren UN-Reform­agenda auch tat. Das war der Unter­gang der Steu­er­ge­setz­ge­bung. Als die OECD diese Aufgabe über­nahm, tat sie dies fast ausschließ­lich, um sicher­zu­stel­len, dass die Patina des Libe­ra­lis­mus erhal­ten blieb, während trans­na­tio­nale Unter­neh­men in einem weit­ge­hend gesetz­lo­sen globa­len Umfeld operierten.

1976 schrieb die radi­kale perua­ni­sche Dich­te­rin Magda Portal (1900–1989) «Ein Gedicht für Ernesto Cardenal» (den nica­ra­gua­ni­schen Dich­ter). Darin räumt sie ein, dass Ungleich­heit und Elend in unse­ren Städ­ten schon seit Jahr­hun­der­ten herr­schen, dass aber das, was die «trans­na­tio­na­len Unter­neh­men und ihre Hand­lan­ger» tun, weit­aus schlim­mer sei. Sie schrieb:

 

Auf dieser Seite Ameri­kas kann man den ekel­er­re­gen­den und gifti­gen Atem derer spüren, die nur unsere Minen, unser Öl, unser Gold und unser Essen wollen.

Niemals wurde mehr Elend über die schlaf­lose Welt verbreitet.

Nie war es abscheu­li­cher, weiter­zu­le­ben, ohne aus vollem Halse zu schreien

den Protest, die Ableh­nung, die Forde­rung nach

Gerech­tig­keit. Wem gegenüber?

 

Wie können wir tagtäg­lich so weiterleben,

über Essen nach­den­ken, das Leben lieben und genie­ßen, wenn

Hundert­tau­sende von verdamm­ten Menschen auf der

Erde in ihrem eige­nen Blut ertrin­ken? Und in Schwarz­afrika, mit seiner Apartheid

und seinen Sowe­tos, und in Nami­bia und Rhode­sien, und in Asien,

im Liba­non und in Nord­ir­land, auf der Folterbank

der Hinge­rich­te­ten? Können wir so weiterleben

wenn ein einzi­ger Schreckensschrei 

die Welt bis ins Mark erschüttert?



Herz­lichst,

 

Vijay

 

 

 

 

 

 

 

 

Aus dem Engli­schen von Claire Louise Blaser.