Ich will unser Recht von den Amerikanern, die uns verletzt haben.
Der einundfünfzigste Newsletter (2021).
Liebe Freund*innen,
Grüße aus dem Büro des Tricontinental: Institute for Social Research.
Am 12. Juli 2007 feuerten zwei US-amerikanische AH-64-Apache-Hubschrauber 30-Millimeter-Kanonen auf eine Gruppe irakischer Zivilist*innen in New Baghdad. Die Kanoniere der US-Armee töteten mindestens ein Dutzend Menschen, darunter den Reuters-Fotografen Namir Noor-Eldeen und seinen Fahrer Saeed Chmagh. Reuters forderte die USA umgehend auf, die Tötung zu untersuchen. Sie wurden von der US-Regierung mit der offiziellen Stellungnahme abgespeist, dass Soldat*innen der Bravo Company, 2–16 Infanterie, im Rahmen ihrer Operation Ilaaj im Viertel al-Amin al-Thaniyah mit Handfeuerwaffen angegriffen worden seien. Die Soldat*innen forderten Luftangriffe an, die ausgeführt wurden und die Straßen von Aufständischen säuberten. Da Reuters Informationen vorlagen, wonach die Hubschrauber den Angriff gefilmt hatten, forderte das Medienhaus das Video beim US-Militär an. Die Vereinigten Staaten weigerten sich mit der Begründung, dass es kein solches Video gebe.
Zwei Jahre später veröffentlichte ein Reporter der Washington Post, David Finkel, das Buch The Good Soldiers, das auf seiner Zeit im Bataillon 2–16 basiert. Finkel war während dem Einsatz des Apache-Hubschraubers bei den Soldat*innen im Viertel al-Amin al-Thaniyah. Er verteidigte das US-Militär und schrieb, die Apache-Besatzung habe sich an die Einsatzregeln gehalten und «alle hätten sich angemessen verhalten». Die Soldat*innen, so Finkel, seien «gute Soldaten, und die Zeit fürs Abendessen war gekommen». In seinem Bericht machte Finkel deutlich, dass er ein Video des Vorfalls gesehen hatte, obwohl die US-Regierung dessen Existenz gegenüber Reuters und Menschenrechtsorganisationen bestritt.
Am 5. Januar 2010 lud Chelsea Manning, eine US-Soldatin im Irak, eine Reihe von Dokumenten und Videos über den Krieg auf Compact Discs herunter und nahm sie mit in die Vereinigten Staaten. Am 21. Februar 2010 übermittelte Manning das Material über den Irak an die Organisation WikiLeaks, die 2006 von einer Gruppe engagierter Personen unter der Leitung des Australiers Julian Assange gegründet worden war. WikiLeaks und Assange sichteten das Material und veröffentlichten am 5. April 2010 das vollständige Video der Apache-Hubschrauber auf ihrer Website unter dem Titel «Collateral Murder».
Das Video ist abscheulich. Es zeigt die entsetzliche Unmenschlichkeit der Piloten. Die Menschen am Boden haben auf niemanden geschossen, aber die Piloten feuern wahllos. «Schaut euch diese toten Bastarde an», sagt einer von ihnen; «nice», sagt ein anderer, nachdem sie auf die Zivilist*innen geschossen haben. Saleh Mutashar Tuman, Fahrer eines Lieferwagens, fährt auf den Tatort zu, hält an und steigt aus, um den Verletzten, darunter Saeed Chmagh, zu helfen. Die Piloten bitten um Erlaubnis, auf den Lieferwagen zu schießen; die Genehmigung wird ihnen schnell erteilt, und sie eröffnen das Feuer. Minuten später überblickt der Armeespezialist Ethan McCord, der dem Bataillon 2–16 angehört, in das Finkel eingegliedert war, die Szene vom Boden aus. Im Jahr 2010 erzählte McCord Kim Zetter von Wired, was er erlebt hatte: «Ich hatte noch nie zuvor gesehen, wie jemand von einem 30-Millimeter-Geschoss getroffen wird. Es wirkte nicht real, sie sahen nicht wie Menschen aus. Sie waren zerstört worden».
Im Wagen fanden McCord und die anderen Soldat*innen Sajad Mutashar (10 Jahre) und Doaha Mutashar (5 Jahre) schwer verletzt vor; ihr Vater Saleh lag tot auf dem Boden. Auf dem Video sah der Pilot, dass sich Kinder in dem Wagen befanden. «Nun», sagte er gefühllos, «es ist ihre Schuld, wenn sie Kinder in einen Kampf mitnehmen». Als WikiLeaks das Video veröffentlichte, sagte der damals zwölfjährige Sajad Mutashar: «Ich will unser Recht von den Amerikanern, die uns verletzt haben». Seine Mutter, Ahlam Abdelhussein Tuman, sagte: «Ich möchte, dass das amerikanische Volk und die ganze Welt versteht, was hier im Irak passiert ist. Wir haben unser Land verloren und unsere Leben wurden zerstört». Sie wurden mit Schweigen bedacht. Sajad, der sich teilweise von seinen Verletzungen erholte, wurde im März 2021 durch eine Autobombe in Bagdad getötet.
Robert Gibbs, der Pressesprecher des ehemaligen US-Präsidenten Barack Obama, sagte im April 2010, die in dem Video dargestellten Ereignisse seien «äußerst tragisch». Aber die Katze war aus dem Sack. Dieses Video zeigte der Welt den tatsächlichen Charakter des US-Krieges gegen den Irak, den der Generalsekretär der Vereinten Nationen, Kofi Annan, als illegal bezeichnete. Weder US-Präsident George W. Bush noch der britische Premierminister Tony Blair mussten sich bisher dem Vorwurf der Rechtswidrigkeit ihres Krieges gegen den Irak stellen, obwohl der irakische Journalist Muntadhar al-Zaidi 2008 in Bagdad seine Schuhe nach Bush warf und sagte: «Dies ist ein Abschiedskuss vom irakischen Volk, du Hund», und der Filmemacher David Lawley-Wakelin Blairs Aussage bei der Leveson-Untersuchung 2012 unterbrach, um ihn als Kriegsverbrecher zu bezeichnen.
Als WikiLeaks und Assange dieses Video veröffentlichten, brachten sie die Regierung der Vereinigten Staaten in Bedrängnis. All ihre Behauptungen über humanitäre Kriegsführung verloren an Glaubwürdigkeit. Von diesem Zeitpunkt an versuchte die US-Regierung – ob unter Obama, Trump oder Biden –, Assange zu bestrafen. Assange sollte in die Vereinigten Staaten gebracht und ins Gefängnis geworfen werden. Keiner, der die Wahrheit über die Kriegstreiberei der USA enthüllt, darf ungestraft entkommen.
Im Jahr 2019 warf die Regierung Ecuadors Assange aus seiner Zuflucht in der Londoner Botschaft und übergab ihn den britischen Behörden. Einige Tage später erklärte die britische Regierung, warum der WikiLeaks-Gründer im Belmarsh-Gefängnis sitzt: «Wir können bestätigen, dass Julian Assange im Zusammenhang mit einem vorläufigen Auslieferungsersuchen der Vereinigten Staaten von Amerika festgenommen wurde. Er wird in den Vereinigten Staaten von Amerika wegen computerbezogener Straftaten angeklagt». Das US-Justizministerium erklärte, Assange werde wegen einer «Verschwörung zum Hacken von Computern» gesucht. Assange hat sich jedoch in keinen Computer gehackt. Das Material wurde von Chelsea Manning gesammelt, die es an WikiLeaks weitergab, das es zusammen mit einer Reihe von Medien veröffentlichte. Assange ist ein Journalist und ein Verleger, kein Hacker. Es ist der Journalismus, der hier bestraft wird.
Aus diesem Grund haben sich acht Medienhäuser aus der ganzen Welt zusammengeschlossen und eine Erklärung zur jüngsten Entscheidung des britischen Gerichts veröffentlicht, wonach Assange an die Vereinigten Staaten ausgeliefert werden kann. Diese Erklärung finden Sie hier:
Am 10. Dezember, dem Tag der Menschenrechte, hat ein britisches Gericht ein Urteil gefällt, das den Weg für die Auslieferung des Journalisten und Verlegers Julian Assange an die Vereinigten Staaten frei macht. Wird die Auslieferung bewilligt, wird Assange in den USA strafrechtlich verfolgt, unter anderem auf der Grundlage des berüchtigten Spionagegesetzes, und könnte im Falle einer Verurteilung den Rest seines Lebens im Gefängnis verbringen.
Julian Assange und seine Organisation WikiLeaks haben wichtige Informationen veröffentlicht, die sie von Informant*innen wie Chelsea Manning erhalten haben und die Kriegsverbrechen und Gräueltaten der USA im Irak und in Afghanistan dokumentieren. Dazu gehört auch «Collateral Murder», das grausame Video, das zeigt, wie US-Militärs irakische Zivilist*innen, darunter zwei Journalisten, töten. Die Enthüllungen von WikiLeaks deckten auch Korruption und Menschenrechtsverletzungen durch Regierungen in aller Welt auf, und diese Berichte wurden von Medienorganisationen auf der ganzen Welt übernommen und zitiert.
Wegen dieses journalistischen Verbrechens wird Julian Assange seit über einem Jahrzehnt verfolgt. Er ist der erste Verleger, der unter dem Espionage Act angeklagt wurde. Die US-Regierung und ihre Verbündeten weltweit weigern sich, die Tatsache anzuerkennen, dass Assange ein Journalist ist. Die Verfolgung von Julian Assange ist daher ein grundlegender Angriff auf den Journalismus, die Pressefreiheit und das Recht auf freie Meinungsäußerung.
Wir, die unterzeichnenden Medienorganisationen, weisen diesen Angriff auf Julian Assange und den Journalismus zurück und verurteilen ihn. Pressefreiheit wird eine hohle Phrase bleiben, solange Julian Assange und WikiLeaks weiterhin verfolgt werden.
ARG Medios, Brasil de Fato, BreakThrough News, Madaar, NewsClick, New Frame, Pan African TV, und Peoples Dispatch.
2004 starb die irakische Künstlerin Nuha al-Radi an Leukämie, verursacht durch angereichertes Uran, das die Vereinigten Staaten im Irak einsetzten. Ihr fesselndes Buch Baghdad Diaries: A Woman’s Chronicle of War and Exile (2003) erzählt von dem Leid, das alle Lebewesen in ihrer Heimat Bagdad während der US-Bombardierung des Irak 1991 ertragen mussten: «Die Vögel haben die schlimmsten Schläge von allen eingesteckt. Sie haben empfindliche Seelen, die all diesen schrecklichen Lärm und diese Vibrationen nicht ertragen können. Alle Singvögel in Käfigen sind an dem Schock der Explosionen gestorben, während die Vögel in freier Wildbahn kopfüber fliegen und verrückte Purzelbäume schlagen. Hunderte, wenn nicht Tausende, sind in den Obstgärten gestorben. Die einsamen Überlebenden fliegen verwirrt umher».
Am 28. Januar 2007, wenige Monate bevor er von einem Apache-Hubschrauber der US-Armee getötet wurde, ging Namir Noor-Eldeen zu einer Sekundarschule im Adil-Viertel von Bagdad, wo ein Mörserangriff fünf Schülerinnen getötet hatte. Noor-Eldeen machte ein Foto von einem Jungen, der mit einem Fußball unter dem Arm an einer Blutlache vorbeilief. Neben dem leuchtend roten Blut liegen ein paar zerknitterte Schulbücher. Noor-Eldeens humanem Auge gelang es, mit diesem aussagekräftigen Bild einzufangen, was im Irak zur Normalität geworden war. Das ist es, was der illegale Krieg der USA seinem Land angetan hat.
Assange, der die Berichterstattung zu Noor-Eldeens Tod veröffentlicht hat, sitzt in seiner Zelle und wartet auf seine Auslieferung. Nach dem Urteil des Obersten Gerichtshofs bemerkte der Journalist John Pilger: «Kürzlich kam ich an Tony Blairs 8‑Millionen-Pfund-Villa am Londoner Connaught Square vorbei. Es ist nur eine Stunde Fahrt zum Belmarsh-Gefängnis, wo Julian Assange in einer kleinen Zelle ‹lebt›. Das ist das britische Weihnachtsfest 2021: Der Kriegsverbrecher wird belohnt, der Wahrheitsverkünder bestraft, vielleicht sogar mit dem Tod».
Herzlichst,
Vijay