newsletter 51

Ich will unser Recht von den Amerikanern, die uns verletzt haben.

Der einundfünfzigste Newsletter (2021).

Latif al-Ani (Irak), Eid festi­vi­ties in Bagh­dad, 1959

Liebe Freund*innen,

 

Grüße aus dem Büro des Tricon­ti­nen­tal: Insti­tute for Social Rese­arch.

 

Am 12. Juli 2007 feuer­ten zwei US-ameri­ka­ni­sche AH-64-Apache-Hubschrau­ber 30-Milli­me­ter-Kano­nen auf eine Gruppe iraki­scher Zivilist*innen in New Bagh­dad. Die Kano­niere der US-Armee töte­ten mindes­tens ein Dutzend Menschen, darun­ter den Reuters-Foto­gra­fen Namir Noor-Eldeen und seinen Fahrer Saeed Chmagh. Reuters forderte die USA umge­hend auf, die Tötung zu unter­su­chen. Sie wurden von der US-Regie­rung mit der offi­zi­el­len Stel­lung­nahme abge­speist, dass Soldat*innen der Bravo Company, 2–16 Infan­te­rie, im Rahmen ihrer Opera­tion Ilaaj im Vier­tel al-Amin al-Thani­yah mit Hand­feu­er­waf­fen ange­grif­fen worden seien. Die Soldat*innen forder­ten Luft­an­griffe an, die ausge­führt wurden und die Stra­ßen von Aufstän­di­schen säuber­ten. Da Reuters Infor­ma­tio­nen vorla­gen, wonach die Hubschrau­ber den Angriff gefilmt hatten, forderte das Medi­en­haus das Video beim US-Mili­tär an. Die Verei­nig­ten Staa­ten weiger­ten sich mit der Begrün­dung, dass es kein solches Video gebe.

Hanaa Malal­lah (Irak), She/He Has No Picture (Detail), 2019.

 

Zwei Jahre später veröf­fent­lichte ein Repor­ter der Washing­ton Post, David Finkel, das Buch The Good Soldiers, das auf seiner Zeit im Batail­lon 2–16 basiert. Finkel war während dem Einsatz des Apache-Hubschrau­bers bei den Soldat*innen im Vier­tel al-Amin al-Thani­yah. Er vertei­digte das US-Mili­tär und schrieb, die Apache-Besat­zung habe sich an die Einsatz­re­geln gehal­ten und «alle hätten sich ange­mes­sen verhal­ten». Die Soldat*innen, so Finkel, seien «gute Solda­ten, und die Zeit fürs Abend­essen war gekom­men». In seinem Bericht machte Finkel deut­lich, dass er ein Video des Vorfalls gese­hen hatte, obwohl die US-Regie­rung dessen Exis­tenz gegen­über Reuters und Menschen­rechts­or­ga­ni­sa­tio­nen bestritt.


Am 5. Januar 2010 lud Chel­sea Manning, eine US-Solda­tin im Irak, eine Reihe von Doku­men­ten und Videos über den Krieg auf Compact Discs herun­ter und nahm sie mit in die Verei­nig­ten Staa­ten. Am 21. Februar 2010 über­mit­telte Manning das Mate­rial über den Irak an die Orga­ni­sa­tion Wiki­Leaks, die 2006 von einer Gruppe enga­gier­ter Perso­nen unter der Leitung des Austra­li­ers Julian Assange gegrün­det worden war. Wiki­Leaks und Assange sich­te­ten das Mate­rial und veröf­fent­lich­ten am 5. April 2010 das voll­stän­dige Video der Apache-Hubschrau­ber auf ihrer Website unter dem Titel «Colla­te­ral Murder».

 

Das Video ist abscheu­lich. Es zeigt die entsetz­li­che Unmensch­lich­keit der Pilo­ten. Die Menschen am Boden haben auf nieman­den geschos­sen, aber die Pilo­ten feuern wahl­los. «Schaut euch diese toten Bastarde an», sagt einer von ihnen; «nice», sagt ein ande­rer, nach­dem sie auf die Zivilist*innen geschos­sen haben. Saleh Mutas­har Tuman, Fahrer eines Liefer­wa­gens, fährt auf den Tatort zu, hält an und steigt aus, um den Verletz­ten, darun­ter Saeed Chmagh, zu helfen. Die Pilo­ten bitten um Erlaub­nis, auf den Liefer­wa­gen zu schie­ßen; die Geneh­mi­gung wird ihnen schnell erteilt, und sie eröff­nen das Feuer. Minu­ten später über­blickt der Armee­spe­zia­list Ethan McCord, der dem Batail­lon 2–16 ange­hört, in das Finkel einge­glie­dert war, die Szene vom Boden aus. Im Jahr 2010 erzählte McCord Kim Zetter von Wired, was er erlebt hatte: «Ich hatte noch nie zuvor gese­hen, wie jemand von einem 30-Milli­me­ter-Geschoss getrof­fen wird. Es wirkte nicht real, sie sahen nicht wie Menschen aus. Sie waren zerstört worden».

 

Im Wagen fanden McCord und die ande­ren Soldat*innen Sajad Mutas­har (10 Jahre) und Doaha Mutas­har (5 Jahre) schwer verletzt vor; ihr Vater Saleh lag tot auf dem Boden. Auf dem Video sah der Pilot, dass sich Kinder in dem Wagen befan­den. «Nun», sagte er gefühl­los, «es ist ihre Schuld, wenn sie Kinder in einen Kampf mitneh­men». Als Wiki­Leaks das Video veröf­fent­lichte, sagte der damals zwölf­jäh­rige Sajad Mutas­har: «Ich will unser Recht von den Ameri­ka­nern, die uns verletzt haben». Seine Mutter, Ahlam Abdel­hu­s­sein Tuman, sagte: «Ich möchte, dass das ameri­ka­ni­sche Volk und die ganze Welt versteht, was hier im Irak passiert ist. Wir haben unser Land verlo­ren und unsere Leben wurden zerstört». Sie wurden mit Schwei­gen bedacht. Sajad, der sich teil­weise von seinen Verlet­zun­gen erholte, wurde im März 2021 durch eine Auto­bombe in Bagdad getötet.


Robert Gibbs, der Pres­se­spre­cher des ehema­li­gen US-Präsi­den­ten Barack Obama, sagte im April 2010, die in dem Video darge­stell­ten Ereig­nisse seien «äußerst tragisch». Aber die Katze war aus dem Sack. Dieses Video zeigte der Welt den tatsäch­li­chen Charak­ter des US-Krie­ges gegen den Irak, den der Gene­ral­se­kre­tär der Verein­ten Natio­nen, Kofi Annan, als ille­gal bezeich­nete. Weder US-Präsi­dent George W. Bush noch der briti­sche Premier­mi­nis­ter Tony Blair muss­ten sich bisher dem Vorwurf der Rechts­wid­rig­keit ihres Krie­ges gegen den Irak stel­len, obwohl der iraki­sche Jour­na­list Muntad­har al-Zaidi 2008 in Bagdad seine Schuhe nach Bush warf und sagte: «Dies ist ein Abschieds­kuss vom iraki­schen Volk, du Hund», und der Filme­ma­cher David Lawley-Wake­lin Blairs Aussage bei der Leve­son-Unter­su­chung 2012 unter­brach, um ihn als Kriegs­ver­bre­cher zu bezeichnen.

 

Ali Talib (Irak), Meso­po­ta­mia, 2004.

Als Wiki­Leaks und Assange dieses Video veröf­fent­lich­ten, brach­ten sie die Regie­rung der Verei­nig­ten Staa­ten in Bedräng­nis. All ihre Behaup­tun­gen über huma­ni­täre Kriegs­füh­rung verlo­ren an Glaub­wür­dig­keit. Von diesem Zeit­punkt an versuchte die US-Regie­rung – ob unter Obama, Trump oder Biden –, Assange zu bestra­fen. Assange sollte in die Verei­nig­ten Staa­ten gebracht und ins Gefäng­nis gewor­fen werden. Keiner, der die Wahr­heit über die Kriegs­trei­be­rei der USA enthüllt, darf unge­straft entkommen.

 

Im Jahr 2019 warf die Regie­rung Ecua­dors Assange aus seiner Zuflucht in der Londo­ner Botschaft und über­gab ihn den briti­schen Behör­den. Einige Tage später erklärte die briti­sche Regie­rung, warum der Wiki­Leaks-Grün­der im Belmarsh-Gefäng­nis sitzt: «Wir können bestä­ti­gen, dass Julian Assange im Zusam­men­hang mit einem vorläu­fi­gen Auslie­fe­rungs­er­su­chen der Verei­nig­ten Staa­ten von Amerika fest­ge­nom­men wurde. Er wird in den Verei­nig­ten Staa­ten von Amerika wegen compu­ter­be­zo­ge­ner Straf­ta­ten ange­klagt». Das US-Justiz­mi­nis­te­rium erklärte, Assange werde wegen einer «Verschwö­rung zum Hacken von Compu­tern» gesucht. Assange hat sich jedoch in keinen Compu­ter gehackt. Das Mate­rial wurde von Chel­sea Manning gesam­melt, die es an Wiki­Leaks weiter­gab, das es zusam­men mit einer Reihe von Medien veröf­fent­lichte. Assange ist ein Jour­na­list und ein Verle­ger, kein Hacker. Es ist der Jour­na­lis­mus, der hier bestraft wird.

 

Aus diesem Grund haben sich acht Medi­en­häu­ser aus der ganzen Welt zusam­men­ge­schlos­sen und eine Erklä­rung zur jüngs­ten Entschei­dung des briti­schen Gerichts veröf­fent­licht, wonach Assange an die Verei­nig­ten Staa­ten ausge­lie­fert werden kann. Diese Erklä­rung finden Sie hier:

 

Am 10. Dezem­ber, dem Tag der Menschen­rechte, hat ein briti­sches Gericht ein Urteil gefällt, das den Weg für die Auslie­fe­rung des Jour­na­lis­ten und Verle­gers Julian Assange an die Verei­nig­ten Staa­ten frei macht. Wird die Auslie­fe­rung bewil­ligt, wird Assange in den USA straf­recht­lich verfolgt, unter ande­rem auf der Grund­lage des berüch­tig­ten Spio­na­ge­ge­set­zes, und könnte im Falle einer Verur­tei­lung den Rest seines Lebens im Gefäng­nis verbringen.

 

Julian Assange und seine Orga­ni­sa­tion Wiki­Leaks haben wich­tige Infor­ma­tio­nen veröf­fent­licht, die sie von Informant*innen wie Chel­sea Manning erhal­ten haben und die Kriegs­ver­bre­chen und Gräu­el­ta­ten der USA im Irak und in Afgha­ni­stan doku­men­tie­ren. Dazu gehört auch «Colla­te­ral Murder», das grau­same Video, das zeigt, wie US-Mili­tärs iraki­sche Zivilist*innen, darun­ter zwei Jour­na­lis­ten, töten. Die Enthül­lun­gen von Wiki­Leaks deck­ten auch Korrup­tion und Menschen­rechts­ver­let­zun­gen durch Regie­run­gen in aller Welt auf, und diese Berichte wurden von Medi­en­or­ga­ni­sa­tio­nen auf der ganzen Welt über­nom­men und zitiert.

 

Wegen dieses jour­na­lis­ti­schen Verbre­chens wird Julian Assange seit über einem Jahr­zehnt verfolgt. Er ist der erste Verle­ger, der unter dem Espio­nage Act ange­klagt wurde. Die US-Regie­rung und ihre Verbün­de­ten welt­weit weigern sich, die Tatsa­che anzu­er­ken­nen, dass Assange ein Jour­na­list ist. Die Verfol­gung von Julian Assange ist daher ein grund­le­gen­der Angriff auf den Jour­na­lis­mus, die Pres­se­frei­heit und das Recht auf freie Meinungsäußerung.

 

Wir, die unter­zeich­nen­den Medi­en­or­ga­ni­sa­tio­nen, weisen diesen Angriff auf Julian Assange und den Jour­na­lis­mus zurück und verur­tei­len ihn. Pres­se­frei­heit wird eine hohle Phrase blei­ben, solange Julian Assange und Wiki­Leaks weiter­hin verfolgt werden.

 

ARG Medios, Brasil de Fato, BreakTh­rough News, Madaar, News­Click, New Frame, Pan Afri­can TV, und Peop­les Dispatch.

Der anti­kom­mu­nis­ti­sche Retter

2004 starb die iraki­sche Künst­le­rin Nuha al-Radi an Leuk­ämie, verur­sacht durch ange­rei­cher­tes Uran, das die Verei­nig­ten Staa­ten im Irak einsetz­ten. Ihr fesseln­des Buch Bagh­dad Diaries: A Woman’s Chro­nicle of War and Exile (2003) erzählt von dem Leid, das alle Lebe­we­sen in ihrer Heimat Bagdad während der US-Bombar­die­rung des Irak 1991 ertra­gen muss­ten: «Die Vögel haben die schlimms­ten Schläge von allen einge­steckt. Sie haben empfind­li­che Seelen, die all diesen schreck­li­chen Lärm und diese Vibra­tio­nen nicht ertra­gen können. Alle Sing­vö­gel in Käfi­gen sind an dem Schock der Explo­sio­nen gestor­ben, während die Vögel in freier Wild­bahn kopf­über flie­gen und verrückte Purzel­bäume schla­gen. Hunderte, wenn nicht Tausende, sind in den Obst­gär­ten gestor­ben. Die einsa­men Über­le­ben­den flie­gen verwirrt umher».

 

Am 28. Januar 2007, wenige Monate bevor er von einem Apache-Hubschrau­ber der US-Armee getö­tet wurde, ging Namir Noor-Eldeen zu einer Sekun­dar­schule im Adil-Vier­tel von Bagdad, wo ein Mörser­an­griff fünf Schü­le­rin­nen getö­tet hatte. Noor-Eldeen machte ein Foto von einem Jungen, der mit einem Fußball unter dem Arm an einer Blut­la­che vorbei­lief. Neben dem leuch­tend roten Blut liegen ein paar zerknit­terte Schul­bü­cher. Noor-Eldeens huma­nem Auge gelang es, mit diesem aussa­ge­kräf­ti­gen Bild einzu­fan­gen, was im Irak zur Norma­li­tät gewor­den war. Das ist es, was der ille­gale Krieg der USA seinem Land ange­tan hat.

 

Assange, der die Bericht­erstat­tung zu Noor-Eldeens Tod veröf­fent­licht hat, sitzt in seiner Zelle und wartet auf seine Auslie­fe­rung. Nach dem Urteil des Obers­ten Gerichts­hofs bemerkte der Jour­na­list John Pilger: «Kürz­lich kam ich an Tony Blairs 8‑Mil­lio­nen-Pfund-Villa am Londo­ner Conn­aught Square vorbei. Es ist nur eine Stunde Fahrt zum Belmarsh-Gefäng­nis, wo Julian Assange in einer klei­nen Zelle ‹lebt›. Das ist das briti­sche Weih­nachts­fest 2021: Der Kriegs­ver­bre­cher wird belohnt, der Wahr­heits­ver­kün­der bestraft, viel­leicht sogar mit dem Tod».

 

Herz­lichst,

 

Vijay

Aus dem Engli­schen von Claire Louise Blaser.