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Revolutionäre, wenn sie sich erheben, kümmert nur die Liebe.

Der einundfünfzigste Newsletter (2020).

El Zeft (Ägyp­ten), Nefer­titi in a Gas Mask, (Nofre­tete mit Gasmaske), 2012.

Liebe Freund*innen,

 

Grüße vom Schreib­tisch des Tricon­ti­nen­tal: Insti­tute for Social Rese­arch.

 

Ein Jahr­zehnt ist vergan­gen, seit sich ein Mann namens Moha­med Boua­zizi am 17. Dezem­ber 2010 in der tune­si­schen Stadt Sidi Bouzid selber in Brand setzte. Boua­zizi, ein Stra­ßen­ver­käu­fer, griff zu diesem extre­men Schritt, nach­dem Poli­zis­ten ihn schi­ka­niert hatten, obwohl er nur versuchte, zu über­le­ben. Wenig später versam­mel­ten sich Tausende von Menschen auf den Stra­ßen der tune­si­schen Klein­stadt, um ihrem Ärger Luft zu machen. Ihr Aufstand schwappte bis in die Haupt­stadt Tunis, wo Gewerk­schaf­ten, soziale Orga­ni­sa­tio­nen, poli­ti­sche Parteien und zivil­ge­sell­schaft­li­che Grup­pen auf die Stra­ßen marschier­ten, um die Regie­rung von Zine El Abidine Ben Ali zu stür­zen. Die Demons­tra­tio­nen in Tune­sien inspi­rier­ten ähnli­che Aufstände rund um das Mittel­meer, von Ägyp­ten bis Spanien, und die Gesänge auf dem Kairoer Tahrir-Platz – ash-sha’b yurid isqat an-nizam («das Volk will das Regime stür­zen») – drück­ten die Emotio­nen von Hunder­ten von Millio­nen aus.

 

Die Stim­mung der auf die Stras­sen strö­men­den Menschen kann mit dem spani­schen Begriff indi­gna­dos beschrie­ben werden: entrüs­tet oder empört.

Sie waren da, um klar­zu­ma­chen, dass ihre Hoff­nun­gen von sicht­ba­ren und unsicht­ba­ren Kräf­ten zerschla­gen wurden. Die Milliardär*innen ihrer eige­nen Gesell­schaft und deren trau­tes Verhält­nis zum Staat – trotz des globa­len Abschwungs, der durch die Kredit­krise von 2007-08 ausge­löst wurde – waren offen­kun­dig. Die Kräfte des Finanz­ka­pi­tals, die die Fähig­keit der Regie­run­gen (sofern sie dem Volk wohl­ge­son­nen waren), eine humane Poli­tik zu betrei­ben, ausge­höhlt hatten, waren schwe­rer auszu­ma­chen, aber nicht weni­ger verhee­rend in ihren Folgen.

Stelios Faitakis (Greece), Elegy of May, 2016.
Stelios Faita­kis (Grie­chen­land), Elegy of May (Mai-Elegie), 2016.

Die Stim­mung, die den Slogan «Stürzt das Regime» befeu­erte, wurde von einer großen Mehr­heit der Menschen geteilt, alle­samt abge­stumpft durch die Sinn­lo­sig­keit des Wählens zwischen größe­ren und klei­ne­ren Übeln; diese Menschen such­ten nun nach etwas, das über den Hori­zont solcher Wahl­spiele hinaus­ging, die so wenig Verän­de­rung zu brin­gen schie­nen. Politiker*innen traten zu Wahlen an, indem sie das eine sagten, und dann das genaue Gegen­teil taten, sobald sie an die Macht kamen.

 

In Groß­bri­tan­nien zum Beispiel rich­te­ten sich die Studie­ren­den­pro­teste, die im Novem­ber-Dezem­ber 2010 ausbra­chen, gegen den Verrat der Libe­ral­de­mo­kra­ti­schen Partei was ihr Verspre­chen, die Studi­en­ge­büh­ren nicht weiter zu erhö­hen, anbe­langte; egal, wen sie wähl­ten, das Ergeb­nis war, dass die Menschen litten. Greece, France: now here too! («Grie­chen­land, Frank­reich, und jetzt auch hier!»), skan­dier­ten die Student*innen in Groß­bri­tan­nien. Sie hätten Chile hinzu­fü­gen können, wo die Student*innen (bekannt als los pingüi­nos, oder «die Pinguine») gegen Kürzun­gen im Bildungs­be­reich auf die Straße gingen; ihre Proteste würden im Mai 2011 wieder aufflam­men, fast zwei Jahre lang andau­ern und als el invierno estu­di­an­til chileno (der chile­ni­sche Studie­ren­den­win­ter) bekannt werden. Im Septem­ber 2011 schloss sich die Occupy-Bewe­gung in den Verei­nig­ten Staa­ten dieser Welle der welt­wei­ten Empö­rung an. Das war die Reak­tion auf das Versa­gen der US-Regie­rung, die massen­wei­sen Zwangs­räu­mun­gen zu verhin­dern, die durch die Kredit­krise von 2007-08 ausge­löste Hypo­the­ken­ka­ta­stro­phe entstand. «Der einzige Weg, den ameri­ka­ni­schen Traum zu leben», schrieb jemand an die Wände der Wall Street, «ist im Schlaf».


Stürzt das Regime war die Parole, denn der Glaube an das Estab­lish­ment war geschwächt; man verlangte mehr vom Leben als das, was die neoli­be­ra­len Regie­run­gen und die Zentral­ban­ken boten. Aber es ging bei den Protes­ten nicht einfach nur darum, eine Regie­rung zu stür­zen, denn die Erkennt­nis, dass es sich nicht um ein Problem einer einzel­nen Regie­rung handelte, war weit verbrei­tet: Das Problem war tiefer, es ging um die poli­ti­schen Möglich­kei­ten, die der Gesell­schaft offen­stan­den oder eben vorent­hal­ten wurden. Mehr als eine Gene­ra­tion hatte Spar­maß­nah­men verschie­dens­ter Regie­run­gen erlebt, sogar von sozi­al­de­mo­kra­ti­schen Regie­run­gen, von denen sie hörten, dass die Rechte der reichen Anlei­he­gläu­bi­ger – zum Beispiel – viel wich­ti­ger seien als die Rechte der Gesamt­heit der Bürger. Es war die Fassungs­lo­sig­keit darüber, dass schein­bar fort­schritt­li­che Regie­run­gen, wie die spätere Syriza-Koali­tion in Grie­chen­land in 2015, ihr grund­le­gen­des Verspre­chen, nicht mehr zu sparen, nicht einhal­ten konn­ten, die zu einer solchen Haltung führte.

Zeichnung von Suh Yongsun (South Korea), December 2016 in Seoul, 2016.
Suh Yong­sun (Südko­rea), Decem­ber 2016 in Seoul (Dezem­ber 2016 in Seoul), 2016.

Der Aufstand hatte einen wahr­haft globa­len Charak­ter. In Bang­kok gingen am 14. März 2010 eine Million Menschen in Rothem­den gegen einen Staat des Mili­tärs, der Monar­chie und der Gelde­lite auf die Straße; in Spanien marschier­ten am 15. Okto­ber 2011 eine halbe Million Indi­gna­dos in den Stra­ßen von Madrid. Die Finan­cial Times nannte dies in einem einfluss­rei­chen Arti­kel «das Jahr der globa­len Empö­rung», und einer ihrer führen­den Kommen­ta­to­ren schrieb, dass sich in dieser Revolte «eine inter­na­tio­nal vernetzte Elite gegen einfa­che Bürger, die sich von den Gewin­nen des Wirt­schafts­wachs­tums ausge­schlos­sen fühlen und wütend sind über die Korrup­tion», ausspielt.

 

Ein Bericht der Orga­ni­sa­tion für wirt­schaft­li­che Zusam­men­ar­beit und Entwick­lung (OECD) vom Okto­ber 2008 zeigte, dass zwischen den 1980er und den 2000er Jahren die Ungleich­heit in jedem der zwan­zig reichs­ten Länder der Welt, die Mitglied der OECD sind, zuge­nom­men hatte. Die Situa­tion in den Entwick­lungs­län­dern war kata­stro­phal. Ein Bericht der UN-Konfe­renz für Handel und Entwick­lung (UNCTAD) aus dem Jahr 2008 zeigte, dass zwischen 1990 und 2004 der Anteil am natio­na­len Konsum des ärms­ten Fünf­tels der Bevöl­ke­rung in den Entwick­lungs­re­gio­nen von 4,6 % auf 3,9 % gesun­ken war. Am gravie­rends­ten war dies in Latein­ame­rika, der Kari­bik und in Subsa­hara-Afrika, wo das ärmste Fünf­tel der Bevöl­ke­rung ledig­lich 3 % des natio­na­len Konsums bzw. Einkom­mens ausmachte. Was auch immer an Geldern zusam­men­ge­tra­gen wurde, um den Banken zu helfen, eine ernst­hafte Krise im Jahr 2008 abzu­wen­den, führte nicht zu einer Einkom­mens­um­ver­tei­lung für die Milli­ar­den von Menschen, deren Leben immer prekä­rer wurde. Dies war der Haupt­aus­lö­ser für die Revol­ten in dieser Zeit.

 

Es ist wich­tig, darauf hinzu­wei­sen, dass es in all diesen Statis­ti­ken ein hoff­nungs­vol­les Zeichen gab. Im März 2011 schrieb Alicia Bárcena, die Leite­rin der UN-Wirt­schafts­kom­mis­sion für Latein­ame­rika und die Kari­bik (ECLAC), dass trotz der hohen Einkom­mens­un­gleich­heit die Armuts­ra­ten in der Region aufgrund der Sozi­al­po­li­tik eini­ger Regie­run­gen der Region gesun­ken seien. Bárcena dachte dabei an sozi­al­de­mo­kra­ti­sche Regie­run­gen wie in Brasi­lien unter Präsi­dent Lula da Silva mit Program­men wie der Bolsa Fami­lia oder linke Regie­run­gen wie in Boli­vien unter Präsi­dent Evo Mora­les und Vene­zuela unter Präsi­dent Hugo Chávez. Die Indi­gna­dos in diesen Teilen der Welt waren in der Regie­rung vertre­ten und betrie­ben eine Agenda für die Menschen.

Mahmoud Obaidi (Irak), Morpheus and the Red Poppy 2 (Morpheus und die rote Mohnblume 2), (2013)
Mahmoud Obaidi (Irak), Morpheus and the Red Poppy 2 (Morpheus und die rote Mohn­blume 2), (2013)

Wie schnell verga­ßen die Reichen die «Demo­kra­tie­för­de­rung» zu loben und kehr­ten zur Spra­che von Recht und Ordnung zurück. Sie schick­ten die Poli­zei und die F‑16, um öffent­li­che Plätze zu räumen und Länder mit Bombar­die­run­gen und Staats­strei­chen zu bedrohen.

 

Der Arabi­sche Früh­ling, der seinen Namen von den Revol­ten von 1848 in ganz Europa erhielt, wurde schnell kalt, als der Westen einen heißen Krieg zwischen regio­na­len Mäch­ten (Iran, Saudi-Arabien und Türkei) mit den Epizen­tren in Libyen und Syrien förderte. Die Zerstö­rung des liby­schen Staa­tes durch den NATO-Angriff von 2011 brachte die Afri­ka­ni­sche Union ins Abseits, setzte alle Gesprä­che über den Afri­que als Ersatz­wäh­rung für den fran­zö­si­schen Franc und den US-Dollar aus und zog eine massive fran­zö­si­sche und US-ameri­ka­ni­sche Mili­tär­in­ter­ven­tion entlang der Sahel­zone von Mali bis Niger nach sich.

 

Der innere und äußere Druck auf die Regie­rung in Syrien, begann 2011 und verschärfte sich 2012. Dies zersplit­terte die arabi­sche Einheit, die sich nach dem ille­ga­len US-Krieg gegen den Irak 2003 zu entwi­ckeln begon­nen hatte; machte Syrien zur Front­li­nie eines regio­na­len Krie­ges zwischen dem Iran und seinen Gegnern (Saudi-Arabien, der Türkei und den Verei­nig­ten Arabi­schen Emira­ten); und verrin­gerte die zentrale Bedeu­tung der paläs­ti­nen­si­schen Anlie­gen. In Ägyp­ten sagte Gene­ral Moha­med Ibra­him, Innen­mi­nis­ter in einer neuen Regie­rung von Gene­rä­len, kalt: «Wir leben in einem golde­nen Zeit­al­ter der Einheit zwischen den Rich­tern, der Poli­zei und der Armee». Die nord­at­lan­ti­schen Libe­ra­len stärk­ten den Gene­rä­len rasch den Rücken; im Dezem­ber 2020 ehrte der fran­zö­si­sche Präsi­dent Emma­nuel Macron den ägyp­ti­schen Präsi­den­ten Abdel Fattah el-Sisi – ein ehema­li­ger Gene­ral – mit der Légion d’hon­neur, Frank­reichs höchs­ter Auszeichnung.

 

In Latein­ame­rika stif­tete Washing­ton unter­des­sen eine Reihe von Machen­schaf­ten an, um der so genann­ten «pinken Welle» Einhalt zu gebie­ten: Vom versuch­ten Putsch gegen die vene­zo­la­ni­sche Regie­rung im Jahr 2002, über den Staats­streich in Hondu­ras 2009 bis hin zum hybri­den Krieg, der gegen jede progres­sive Regie­rung in der ameri­ka­ni­schen Hemi­sphäre von Haiti bis nach Argen­ti­nien geführt wurde. Ein Einbruch der Rohstoff­preise – vor allem des Ölprei­ses – brachte die wirt­schaft­li­che Akti­vi­tät in der Hemi­sphäre zum Erlie­gen. Washing­ton nutzte diese Gele­gen­heit, um finan­zi­el­len, diplo­ma­ti­schen und mili­tä­ri­schen Druck auf die linken Regie­run­gen auszu­üben, von denen viele nicht stand­hal­ten konn­ten. Der Putsch gegen die Regie­rung von Fernando Lugo in Para­guay im Jahr 2012 war ein Vorbote für das, was 2016 gegen Präsi­den­tin Brasi­li­ens Dilma kommen sollte.


Jeder Funken Hoff­nung, das wirt­schaft­li­che und poli­ti­sche System zu verän­dern, wurde durch Krieg und Putsch und durch immensen Druck von Orga­ni­sa­tio­nen wie dem IWF ausge­löscht. Die alte Spra­che der «Steuer- und Subven­ti­ons­re­form» und der «Arbeits­markt­re­form» tauchte wieder auf, um die Versu­che der Staa­ten zu ersti­cken, den Arbeits­lo­sen und Hungern­den zu helfen. Lange vor dem Coro­na­vi­rus war die Hoff­nung verkalkt und Fäul­nis zur Norma­li­tät gewor­den, während Migrant*innen in den Meeren ertran­ken und in Konzen­tra­ti­ons­la­gern saßen, während totes Geld über die Gren­zen in Steu­er­oa­sen verschwand (Offshore-Finanz­zen­tren halten über 36 Billio­nen Dollar, eine astro­no­mi­sche Summe).

Ein Blick zurück zu den Aufstän­den vor einem Jahr­zehnt erfor­dert, dass wir an den Türen ägyp­ti­scher Gefäng­nisse inne­hal­ten, wo einige der jungen Menschen, die wegen ihrer Hoff­nungs­lo­sig­keit verhaf­tet wurden, weiter­hin inhaf­tiert sind. Zwei poli­ti­sche Gefan­gene, Alaa Abdel El-Fattah und Ahmed Douma, riefen sich von Zelle zu Zelle zu, ein Gespräch, das als Graf­fiti for Two veröf­fent­licht wurde. Wofür haben sie gekämpft? «Wir kämpf­ten für einen Tag, eines Tages, der ohne die ersti­ckende Gewiss­heit enden würde, dass der morgige Tag eine Wieder­ho­lung werden würde, so wie sich alle Tage zuvor wieder­holt hatten.» Sie such­ten einen Ausweg aus der Gegen­wart; sie such­ten eine Zukunft. «Revo­lu­tio­näre, wenn sie sich erhe­ben», schrie­ben Alaa und Ahmed, «kümmert nur die Liebe».

 

In ihren Gefäng­nis­zel­len in Kairo hören sie Geschich­ten von den indi­schen Bäuer*innen, deren Kämpfe eine ganze Nation inspi­riert haben; sie hören vom strei­ken­den Pfle­ge­per­so­nal aus so weit entfern­ten Ländern wie Papua-Neugui­nea und den Verei­nig­ten Staa­ten; sie hören von strei­ken­den Fabrikarbeiter*innen in Indo­ne­sien und Südko­rea; sie hören, dass der Verrat an den Palästinenser*innen und dem sahr­au­ri­sche Volk Proteste auf der ganzen Welt ausge­löst hat. Für ein paar Monate in den Jahren 2010–2011 geriet die «ersti­ckende Gewiss­heit», dass es keine Zukunft gibt, ins Wanken; ein Jahr­zehnt später suchen die Menschen auf den Stra­ßen nach einer Zukunft, die mit der uner­träg­li­chen Gegen­wart bricht.

 

Herz­lich,

Vijay

Ich bin Tricontinental

Fernando Vicente Prieto

Wissen­schaft­li­cher Mitar­bei­ter, Argentinien-Büro


Im letz­ten Jahr habe ich an den Berich­ten Nr. 5, 6, 7, 8 und 9 im Rahmen einer Beob­ach­tung der Umstände in Latein­ame­rika und der Kari­bik (OBSAL) gear­bei­tet. Diese Analy­sen befas­sen sich mit den Auswir­kun­gen der Pande­mie auf die Region sowie mit dem Fort­be­stehen der impe­ria­lis­ti­schen Offen­sive und ihrer Oppo­si­tion, dem Volks­wi­der­stand, der in den letz­ten Mona­ten wich­tige Siege errun­gen hat. Im Moment sammle ich Infor­ma­tio­nen für den nächs­ten Bericht. Ich arbei­tete auch an der Heraus­gabe der spani­schen Ausga­ben der Bücher Lenin 150, Mariá­te­gui, The Veins of the South Are Still Open, Che, und Washing­ton Bullets: A History of the CIA, Coups, and Assassinations.

Aus dem Engli­schen über­setzt von Claire Louise Blaser.