Wir kämpfen mit unseren Augen. Wir säen mit unseren Händen. Wir werden zusehen, wie der Weizen das Tal bedeckt.
Der fünfzigste Newsletter (2023)
Liebe Freund*innen,
Grüße aus dem Büro von Tricontinental: Institute for Social Research.
In den alten Zeiten der nationalen Befreiung, als die Partisan*innen in ländlichen Weilern oder kleinen Städten unter das Volk gingen, trugen sie ihre Botschaft in den Händen, das Gewehr über der Schulter, Zeitungen und Flugblätter in der Tasche. Angesichts des weit verbreiteten Analphabetismus in der kolonisierten Welt versammelten die Partisan*innen die Menschen oft um kleine Feuer und lasen diese Texte laut vor (passenderweise heißt das lateinische Wort für «Feuer» focus). Diese nationale Befreiungsliteratur vermittelte Theorien über Ausbeutung und Unterdrückung, die für die Menschen verständlich waren und sie ermutigten, sich auf ihre Weise am Kampf zu beteiligen.
Die Zeitungen und Flugblätter enthielten nicht nur Informationen, sondern auch wichtige Analysen laufender Kämpfe, in die originelle Gedichte, Theaterstücke, Geschichten und Zeichnungen eingewoben waren. Solche fantasievollen Werke wurden neben didaktischen Texten in Zeitschriften wie El Moudjahid («Die Kämpfer»), der Zeitung der Nationalen Befreiungsfront Algeriens, Cờ Giải Phóng («Befreiungsfahne»), der Zeitung der Nationalen Befreiungsfront Vietnams, und Al Hadaf («Das Ziel»), der Zeitschrift der Volksfront zur Befreiung Palästinas, veröffentlicht.
In Al Hadaf und in seinem Roman Umm Sa’ad über eine palästinensische Frau, die ihren Sohn ermutigt, sich den Fedayeen («Guerillas») anzuschließen, zeigte Ghassan Kanafani (1936–1972), dass es keinen Kopf ohne Herz geben kann. Es gibt keine Vision der revolutionären Zukunft ohne die Freisetzung von Fantasie, mit der Reise beginnt. Kultur ist nicht nur der Raum, in dem die Botschaft vermittelt, sondern auch die Zukunft visualisiert werden kann.
Die Kultur ist ein wichtiges Zentrum des Kampfes. Hier sehen die Menschen, wer sie sind, lernen, wozu sie fähig sind, und wagen es, sich vorzustellen, was sie in dieser Welt aufbauen möchten. Die Kunst selbst verändert die Welt nicht, aber ohne die Belebung der Phantasie durch die Kunst würden wir uns mit der Gegenwart abfinden. Radikale Künstler*innen spielen auf die Realität an und versuchen, das Bewusstsein von Menschen zu wecken, die diesen oder jenen Aspekt ihrer Beziehung zu anderen sonst vielleicht nicht in Betracht gezogen hätten. Es ist die Aufgabe der Kunst, die Aufmerksamkeit der Menschen zu lenken und ihr Selbstvertrauen zu stärken, damit sie gegen das Elend kämpfen können, das der globalen Mehrheit zugefügt wird. Der Aufbau dieser Aufmerksamkeit und dieses Selbstbewusstseins ebnet den Weg für die Organisationen der Menschen, um dieses neue Bewusstsein weiterzutragen und eine bessere Welt zu schaffen. Der Slogan des neunzehnten Jahrhunderts «Kunst um der Kunst willen» ist ein verzweifelter Schrei gegen den eigentlichen Zweck der Kunst in unserer Gesellschaft: die Hässlichkeit, die uns umgibt, einzuatmen und die Schönheit auszuatmen, die uns inspiriert, diese Schrecklichkeit zu verändern.
Das neueste Dossier von Tricontinental: Institute for Social Research, Culture as a Weapon of Struggle: The Medu Art Ensemble and Southern African Liberation («Kultur als Waffe im Kampf: Das Medu-Kunstensemble und die südafrikanische Befreiung»)nimmt diese Haltung gegenüber Kunst und Kultur ein. Medu (was auf Sesotho «Wurzeln» bedeutet) war ein von Künstler*innen gegründetes Kollektiv, das von 1979 bis 1985 an den Befreiungskämpfen im südlichen Afrika beteiligt war. Zu den rund sechzig Künstler*innen es Medu-Kollektivs gehörten die einflussreichen Dichter Keorapetse William Kgositsile (Südafrikas erster Poet Laureate) und Mongane Wally Serote (Südafrikas aktueller Poet Laureate), der Schriftsteller Mandla Langa, die Musiker Jonas Gwangwa und Dennis Mpale sowie die bildenden Künstler*innen Thamsanqa «Thami» Mnyele und Judy Seidman. Das Dossier verwebt Originalinterviews mit vielen der überlebenden Künstler*innen und Recherchen, die auch die Stimmen derjenigen einbeziehen, die die Brutalität des Apartheidregimes nicht überlebt haben. Die in Gaborone (Botsuana) ansässigen Künstler*innen stammten aus verschiedenen politischen Traditionen wie der Black Consciousness Movement, dem African National Congress und der South African Communist Party und ließen sich von der breiten Tradition der nationalen Befreiungsbewegungen von Vietnam bis Chile inspirieren. Gemeinsam baute das Medu-Kollektiv auf Frantz Fanons Idee auf, dass «sich das internationale Bewusstsein im Herzen des nationalen Bewusstseins ausbildet und gedeiht». Und dieses doppelte Entstehen ist in der Tat der einzigartige Fokus aller Kultur.
Wie andere Künstler*innenkollektive, die in der nationalen Befreiung verwurzelt sind, schöpfte Medu seine Inspiration aus den Kämpfen des Volkes, wie dem Kampf um die Kontrolle des Landes, der Schaffung eines internationalen antikolonialen Projekts (der panafrikanischen Bewegung) und dem Aufbau eines nationalen Befreiungsprojekts (wie es in der südafrikanischen Freiheitscharta von 1955 formuliert wurde). Dies waren die Ressourcen, die den Medu-Künstler*innen Zuversicht gaben, als sie inmitten der Menschen malten und sangen, die an den Streiks von Durban 1973 und dem Aufstand von Soweto 1976 teilnahmen.
Aus dieser Energie und ihrer eigenen Praxis schöpfte Medu eine Kunsttheorie, die sich auf drei Schlüsselprinzipien stützt: Kunst ist eine notwendige Waffe im Kampf; Kunst muss in Kollektiven produziert werden, die in Gemeinschaft mit dem Volk arbeiten; Kunst muss gemacht werden, um vom Volk verstanden zu werden. Diese drei Grundsätze wurden in internen Debatten und auf Veranstaltungen wie dem Symposium für Kultur und Widerstand und dem Festival der Künste (im Juli 1982 in Gaborone) formuliert, die Hunderte bis Tausende von Kulturschaffenden aus dem In- und Ausland zusammenbrachten, um den kulturellen Kampf gegen die südafrikanische Apartheid voranzutreiben. Gemeinsam erarbeitete Medu ein ausgeprägtes Gedankengut und eine Theorie der sozialistischen Kunst.
In der Nacht des 13. Juni 1985 überquerte ein Militärkommando des südafrikanischen Apartheidstaates die Grenze nach Botswana und stürmte die Häuser vieler südafrikanischer Künstler*innen und Aktivist*innen im Exil. Zwei der zwölf Personen, die in dieser Nacht ermordet wurden, waren Medu-Mitglieder, darunter der bedeutende Bild- und Plakatkünstler Thami Mnyele. Das Kollektiv war danach nicht mehr in der Lage, ihre Arbeit fortzusetzen und ihr Denken weiterzuentwickeln.
Apartheidregime fürchten die inspirierende Kraft der Kunst und der Phantasie. Sie reagieren darauf mit Gewalt.
Achtunddreißig Jahre später geht dieser Krieg gegen Kunst und Kultur weiter, wie wir am Beispiel des völkermörderischen Amoklaufs des Apartheidregimes Israel gegen die palästinensische Bevölkerung sehen können.
Zu den zahlreichen Maler*innen und Künstler*innen, die bei diesem Bombardement getötet wurden, gehören die Malerin Heba Zagout (1984–2023), der Wandmaler Mohammed Sami Qariqa (1999–2023), die Dichterin und Schriftstellerin Hiba Abu Nada (1991–2023) und der Dichter Refaat Alareer (1979–2023). Alareers Gedicht «If I Must Die», das er während des Krieges schrieb, hat seit seiner Ermordung durch die israelischen Besatzungstruppen am 7. Dezember bei Menschen in aller Welt einen tiefen Eindruck hinterlassen.
Wenn ich sterben muss
soll es Hoffnung bringen
soll es ein Märchen sein.
Die Israelis kennen die Macht der Worte. General Moshe Dayan sagte einmal, die Lektüre eines Gedichts von Fadwa Tuqan (1917–2003) sei so, als ob man «zwanzig feindlichen Kommandos gegenübersteht». In ihrem Gedicht «Martyrs of the Intifada» schrieb Tuqan über palästinensische Steinewerfer*innen. Das Gedicht selbst ist ein Stein, der auf Israel geworfen wird:
Sie zeichneten die Karte der Straße zum Leben
sie pflasterten sie mit kostbaren Steinen und mit ihren jungen Herzen
sie hoben ihre Herzen als Steine auf ihre Handflächen
Glut und Flamme
und damit bewarfen sie das Monster auf der Straße,
Jetzt ist es an der Zeit, Mut und Stärke zu zeigen,
ihre Stimme wurde überall deutlich gehört
sie hallte überall wider
und gab Mut und Kraft
sie starben stehend
glühend auf der Straße
leuchtend wie Sterne
ihre Lippen an die Lippen des Lebens gepresst.
Herzlichst,
Vijay