Wir kämpfen mit unseren Augen. Wir säen mit unseren Händen. Wir werden zusehen, wie der Weizen das Tal bedeckt.

Der fünfzigste Newsletter (2023)

Medu Art Ensem­ble (Botsu­ana), Shades of Change, 1982. Dieses Zwei-Perso­nen-Stück, das in einer Gefäng­nis­zelle spielt, wurde von dem Monganen Wally Serote geschrie­ben. Bild: Medu Art Ensem­ble via Free­dom Park

Liebe Freund*innen,

 

Grüße aus dem Büro von Tricon­ti­nen­tal: Insti­tute for Social Rese­arch.

 

In den alten Zeiten der natio­na­len Befrei­ung, als die Partisan*innen in länd­li­chen Weilern oder klei­nen Städ­ten unter das Volk gingen, trugen sie ihre Botschaft in den Händen, das Gewehr über der Schul­ter, Zeitun­gen und Flug­blät­ter in der Tasche. Ange­sichts des weit verbrei­te­ten Analpha­be­tis­mus in der kolo­ni­sier­ten Welt versam­mel­ten die Partisan*innen die Menschen oft um kleine Feuer und lasen diese Texte laut vor (passen­der­weise heißt das latei­ni­sche Wort für «Feuer» focus). Diese natio­nale Befrei­ungs­li­te­ra­tur vermit­telte Theo­rien über Ausbeu­tung und Unter­drü­ckung, die für die Menschen verständ­lich waren und sie ermu­tig­ten, sich auf ihre Weise am Kampf zu beteiligen.

 

Die Zeitun­gen und Flug­blät­ter enthiel­ten nicht nur Infor­ma­tio­nen, sondern auch wich­tige Analy­sen  laufen­der Kämpfe, in die origi­nelle Gedichte, Thea­ter­stü­cke, Geschich­ten und Zeich­nun­gen einge­wo­ben waren. Solche fanta­sie­vol­len Werke wurden neben didak­ti­schen Texten in Zeit­schrif­ten wie El Moud­ja­hid («Die Kämp­fer»), der Zeitung der Natio­na­len Befrei­ungs­front Alge­ri­ens, Cờ Giải Phóng («Befrei­ungs­fahne»), der Zeitung der Natio­na­len Befrei­ungs­front Viet­nams, und Al Hadaf («Das Ziel»), der Zeit­schrift der Volks­front zur Befrei­ung Paläs­ti­nas, veröffentlicht.

 

In Al Hadaf und in seinem Roman Umm Sa’ad über eine paläs­ti­nen­si­sche Frau, die ihren Sohn ermu­tigt, sich den Fedayeen («Gueril­las») anzu­schlie­ßen, zeigte Ghassan Kanafani (1936–1972), dass es keinen Kopf ohne Herz geben kann. Es gibt keine Vision der revo­lu­tio­nä­ren Zukunft ohne die Frei­set­zung von Fanta­sie, mit der Reise beginnt. Kultur ist nicht nur der Raum, in dem die Botschaft vermit­telt, sondern auch die Zukunft visua­li­siert werden kann.

Medu-Mitglie­der Lulu Emmig und Thami Mnyele (vorne am Tisch sitzend, von links nach rechts) nehmen an einer Veran­stal­tung zum Frau­en­tag in der schwe­di­schen Botschaft in Gabo­rone, Botsu­ana, 1981, teil. Bild: Sergio-Albio Gonza­lez via Free­dom Park

Die Kultur ist ein wich­ti­ges Zentrum des Kamp­fes. Hier sehen die Menschen, wer sie sind, lernen, wozu sie fähig sind, und wagen es, sich vorzu­stel­len, was sie in dieser Welt aufbauen möch­ten. Die Kunst selbst verän­dert die Welt nicht, aber ohne die Bele­bung der Phan­ta­sie durch die Kunst würden wir uns mit der Gegen­wart abfin­den. Radi­kale Künstler*innen spie­len auf die Reali­tät an und versu­chen, das Bewusst­sein von Menschen zu wecken, die diesen oder jenen Aspekt ihrer Bezie­hung zu ande­ren sonst viel­leicht nicht in Betracht gezo­gen hätten. Es ist die Aufgabe der Kunst, die Aufmerk­sam­keit der Menschen zu lenken und ihr Selbst­ver­trauen zu stär­ken, damit sie gegen das Elend kämp­fen können, das der globa­len Mehr­heit zuge­fügt wird. Der Aufbau dieser Aufmerk­sam­keit und dieses Selbst­be­wusst­seins ebnet den Weg für die Orga­ni­sa­tio­nen der Menschen, um dieses neue Bewusst­sein weiter­zu­tra­gen und eine bessere Welt zu schaf­fen. Der Slogan des neun­zehn­ten Jahr­hun­derts «Kunst um der Kunst willen» ist ein verzwei­fel­ter Schrei gegen den eigent­li­chen Zweck der Kunst in unse­rer Gesell­schaft: die Häss­lich­keit, die uns umgibt, einzu­at­men und die Schön­heit auszu­at­men, die uns inspi­riert, diese Schreck­lich­keit zu verändern.

 

Das neueste Dossier von Tricon­ti­nen­tal: Insti­tute for Social Rese­arch, Culture as a Weapon of Struggle: The Medu Art Ensem­ble and Southern Afri­can Libe­ra­tion («Kultur als Waffe im Kampf: Das Medu-Kunst­en­sem­ble und die südafri­ka­ni­sche Befreiung»)nimmt diese Haltung gegen­über Kunst und Kultur ein. Medu (was auf Seso­tho «Wurzeln» bedeu­tet) war ein von Künstler*innen gegrün­de­tes Kollek­tiv, das von 1979 bis 1985 an den Befrei­ungs­kämp­fen im südli­chen Afrika betei­ligt war. Zu den rund sech­zig Künstler*innen es Medu-Kollek­tivs gehör­ten die einfluss­rei­chen Dich­ter Keora­petse William Kgosit­sile (Südafri­kas erster Poet Laureate) und Mongane Wally Serote (Südafri­kas aktu­el­ler Poet Laureate), der Schrift­stel­ler Mandla Langa, die Musi­ker Jonas Gwangwa und Dennis Mpale sowie die bilden­den Künstler*innen Thamsanqa «Thami» Mnyele und Judy Seid­man. Das Dossier verwebt Origi­nal­in­ter­views mit vielen der über­le­ben­den Künstler*innen und Recher­chen, die auch die Stim­men derje­ni­gen einbe­zie­hen, die die Bruta­li­tät des Apart­heid­re­gimes nicht über­lebt haben. Die in Gabo­rone (Botsu­ana) ansäs­si­gen Künstler*innen stamm­ten aus verschie­de­nen poli­ti­schen Tradi­tio­nen wie der Black Conscious­ness Move­ment, dem Afri­can Natio­nal Congress und der South Afri­can Commu­nist Party und ließen sich von der brei­ten Tradi­tion der natio­na­len Befrei­ungs­be­we­gun­gen von Viet­nam bis Chile inspi­rie­ren. Gemein­sam baute das Medu-Kollek­tiv auf Frantz Fanons Idee auf, dass «sich das inter­na­tio­nale Bewusst­sein im Herzen des natio­na­len Bewusst­seins ausbil­det und gedeiht». Und dieses doppelte Entste­hen ist in der Tat der einzig­ar­tige Fokus aller Kultur.

Medu Art Ensem­ble (Botsu­ana), Decem­ber 16 – Heroes Day, 1983. Bild: Medu Art Ensem­ble via Free­dom Park

Wie andere Künstler*innenkollektive, die in der natio­na­len Befrei­ung verwur­zelt sind, schöpfte Medu seine Inspi­ra­tion aus den Kämp­fen des Volkes, wie dem Kampf um die Kontrolle des Landes, der Schaf­fung eines inter­na­tio­na­len anti­ko­lo­nia­len Projekts (der panafri­ka­ni­schen Bewe­gung) und dem Aufbau eines natio­na­len Befrei­ungs­pro­jekts (wie es in der südafri­ka­ni­schen Frei­heits­charta von 1955 formu­liert wurde). Dies waren die Ressour­cen, die den Medu-Künstler*innen Zuver­sicht gaben, als sie inmit­ten der Menschen malten und sangen, die an den Streiks von Durban 1973 und dem Aufstand von Soweto 1976 teilnahmen.

 

Aus dieser Ener­gie und ihrer eige­nen Praxis schöpfte Medu eine Kunst­theo­rie, die sich auf drei Schlüs­sel­prin­zi­pien stützt: Kunst ist eine notwen­dige Waffe im Kampf; Kunst muss in Kollek­ti­ven produ­ziert werden, die in Gemein­schaft mit dem Volk arbei­ten; Kunst muss gemacht werden, um vom Volk verstan­den zu werden. Diese drei Grund­sätze wurden in inter­nen Debat­ten und auf Veran­stal­tun­gen wie dem Sympo­sium für Kultur und Wider­stand und dem Festi­val der Künste (im Juli 1982 in Gabo­rone) formu­liert, die Hunderte bis Tausende von Kultur­schaf­fen­den aus dem In- und Ausland zusam­men­brach­ten, um den kultu­rel­len Kampf gegen die südafri­ka­ni­sche Apart­heid voran­zu­trei­ben. Gemein­sam erar­bei­tete Medu ein ausge­präg­tes Gedan­ken­gut und eine Theo­rie der sozia­lis­ti­schen Kunst. 

 

In der Nacht des 13. Juni 1985 über­querte ein Mili­tär­kom­mando des südafri­ka­ni­schen Apart­heid­staa­tes die Grenze nach Bots­wana und stürmte die Häuser vieler südafri­ka­ni­scher Künstler*innen und Aktivist*innen im Exil. Zwei der zwölf Perso­nen, die in dieser Nacht ermor­det wurden, waren Medu-Mitglie­der, darun­ter der bedeu­tende Bild- und Plakat­künst­ler Thami Mnyele. Das Kollek­tiv war danach nicht mehr in der Lage, ihre Arbeit fort­zu­set­zen und ihr Denken weiterzuentwickeln. 

 

Apart­heid­re­gime fürch­ten die inspi­rie­rende Kraft der Kunst und der Phan­ta­sie. Sie reagie­ren darauf mit Gewalt.

Die Organisator*innen berei­ten sich auf die erste Session des Culture and Resis­tance-Sympo­si­ums und des Kunst­fes­ti­vals in Gabo­rone vor , Botsu­ana, 1982. Bild: Anna Erlands­son via Free­dom Park.

Acht­und­drei­ßig Jahre später geht dieser Krieg gegen Kunst und Kultur weiter, wie wir am Beispiel des völker­mör­de­ri­schen Amok­laufs des Apart­heid­re­gimes Israel gegen die paläs­ti­nen­si­sche Bevöl­ke­rung sehen können.

Zu den zahl­rei­chen Maler*innen und Künstler*innen, die bei diesem Bombar­de­ment getö­tet wurden, gehö­ren die Male­rin Heba Zagout (1984–2023), der Wand­ma­ler Moham­med Sami Qariqa (1999–2023), die Dich­te­rin und Schrift­stel­le­rin Hiba Abu Nada (1991–2023) und der Dich­ter Refaat Alareer (1979–2023). Alare­ers Gedicht «If I Must Die», das er während des Krie­ges schrieb, hat seit seiner Ermor­dung durch die israe­li­schen Besat­zungs­trup­pen am 7. Dezem­ber bei Menschen in aller Welt einen tiefen Eindruck hinterlassen.

 

Wenn ich ster­ben muss

soll es Hoff­nung bringen

soll es ein Märchen sein.

 

Die Israe­lis kennen die Macht der Worte. Gene­ral Moshe Dayan sagte einmal, die Lektüre eines Gedichts von Fadwa Tuqan (1917–2003) sei so, als ob man «zwan­zig feind­li­chen Komman­dos gegen­über­steht». In ihrem Gedicht «Martyrs of the Inti­fada» schrieb Tuqan über paläs­ti­nen­si­sche Steinewerfer*innen. Das Gedicht selbst ist ein Stein, der auf Israel gewor­fen wird:

 

Sie zeich­ne­ten die Karte der Straße zum Leben

sie pflas­ter­ten sie mit kost­ba­ren Stei­nen und mit ihren jungen Herzen

sie hoben ihre Herzen als Steine auf ihre Handflächen

Glut und Flamme

und damit bewar­fen sie das Mons­ter auf der Straße,

Jetzt ist es an der Zeit, Mut und Stärke zu zeigen,

ihre Stimme wurde über­all deut­lich gehört

sie hallte über­all wider

und gab Mut und Kraft

sie star­ben stehend

glühend auf der Straße

leuch­tend wie Sterne

ihre Lippen an die Lippen des Lebens gepresst.

 

Herz­lichst, 

 

Vijay

 

 

 

 

Aus dem Engli­schen von Claire Louise Blaser.