Wir schenken der sterbenden Regierung von Donald Trump kein Gehör
Der fünfzigste Newsletter (2020).
Liebe Freund*innen,
Grüsse vom Schreibtisch des Tricontinental: Institute for Social Research.
Am Vorabend der Wahlen zur Nationalversammlung in Venezuela sprach Präsident Nicolás Maduro zu einer Gruppe von Besucher*innen im Miraflores-Palast in Caracas. Er erzählte, wie er Mitglied der 1999 gegründeten Verfassungsgebenden Versammlung war, die den rechtlichen Rahmen für das politische System Venezuelas festlegte. Maduro erzählte, dass er während der ersten und zweiten Legislaturperiode der Nationalversammlung (2000–2005 bzw. 2005–2010) Abgeordneter war und während der zweiten Legislaturperiode Präsident der Nationalversammlung wurde, bevor er gebeten wurde, das Amt des Außenministers zu übernehmen. Bei den Wahlen zur vierten Legislaturperiode der Nationalversammlung (2015–2020) verlor die Sozialistische Einheitspartei Venezuelas (PSUV), die er anführt, die Mehrheit in der Nationalversammlung, «weil wir Fehler gemacht haben», sagte er mir. «Seien wir ehrlich.»
Diese vierte Nationalversammlung in Caracas wurde von der US-Regierung und einem Teil der venezolanischen Rechten für den Versuch missbraucht, die Regierung von Maduro und die Bolivarische Revolution zu stürzen. Die US-Regierung und die extremen Elemente der venezolanischen Opposition suchten sich aus der Nationalversammlung einen unauffälligen Politiker, Juan Guaidó, heraus und bestimmten ihn zu ihrem Werkzeug, um die venezolanische Politik zu delegitimieren. Das US-Außenministerium ernannte Guaidó auf bizarre Weise zum Präsidenten Venezuelas, wobei sich seine Autorität fast ausschließlich aus den Erklärungen des US-Außenministers Mike Pompeo ergab. Die Eskalation vonseiten der USA, insbesondere die härteren Sanktionen und die Beschlagnahmung venezolanischer Vermögenswerte außerhalb des Landes, forderte einen hohen Tribut von der Bevölkerung Venezuelas. Doch auch wenn die Fähigkeit des Landes, souverän zu agieren, durch diese Massnahmen eingeschränkt wurde, misslangen alle Versuche, die Regierung von Präsident Maduro zu stürzen.
Gemäß der venezolanischen Verfassung endete die Amtszeit der vierten Nationalversammlung im Dezember 2020, das heisst, die Zeit war gekommen für die Wahl zur fünften Nationalversammlung. Diese Wahl fand am 6. Dezember statt. Kurz vor der Wahl traf ich mich in Caracas mit einer Reihe von führenden Politiker*innen, die in Opposition zu Präsident Maduros Regierung stehen und bei der Wahl zur Nationalversammlung gegen die Kandidat*innen der PSUV antraten. «Wir sind die unsichtbare Opposition», sagte Pedro José Rojas, ein Anführer der Acción Democrática (AD), die zusammen mit dem Comité de Organización Política Electoral Independiente (COPEI) die partidocracia oder das alte politische Establishment repräsentieren. Diese Parteien sind gegen die Regierung, aber nicht gegen das politische System und sind auch nicht mit der extremen Opposition von Guaidó oder dem US-Versuch eines Regimewechsels einverstanden.
Die einseitigen US-Sanktionen, sagte Rojas, «hatten verheerende Folgen für das venezolanische Volk. Sie haben nicht erreicht, was sie beabsichtigten», nämlich durch eine Reihe von hybriden Kriegstechniken, die von der US-Regierung gegen Venezuela seit der Wahl von Hugo Chávez im Jahr 1998 eingesetzt werden, einen Regimewechsel herbeizuführen. Juan Carlos Alvarado, ein Führer von COPEI, sagte, dass «die Blockade einen fürchterlichen Effekt auf das Land gehabt hat». In der Tat sagt die gesamte Opposition, die an den Wahlen teilnimmt und die glaubt, dass der demokratische Weg der einzige Weg nach vorn ist, dass sie im Jahr 2021 mit dem Präsidenten zusammenarbeiten möchte, um eine Kommission zu gründen, um die schwerwiegenden Auswirkungen dieser US-Sanktionen auf alle Venezolaner zu untersuchen.
Guaidó und die extreme, undemokratische Opposition hatten wie die US-Regierung und die Europäischen Union bereits lange vor der Wahl argumentiert, dass die Wahl vom 6. Dezember manipuliert sei; nach der Wahl gaben sowohl die USA als auch die Europäische Union fadenscheinige Verurteilungserklärungen ab. Das US-Außenministerium hat sich mehrfach in die Wahl eingemischt, indem es die Funktionär*innen des Nationalen Wahlrates (CNE), einschließlich seines Präsidenten, sanktionierte, die Kandidat*innen der Opposition bestrafte und eine Berichterstattung inszenierte, die sich auf unbewiesene Betrugsvorwürfe konzentrierte. Oppositionspolitiker wie Bruno Gallo (Avanzada Progresista) und Timoteo Zambrano (Cambiemos) sagten mir, dass es bei dieser Wahl keinen Betrug gäbe, sondern nur die üblichen Unregelmäßigkeiten (wie z.B., dass die staatlichen Medien die Amtsinhaber*innen begünstigten, während die privaten Medien die Opposition begünstigen). Gallo erzählte mir, dass er zehn Jahre damit verbracht habe, den CNE eingehend auf mögliche Betrügereien zu untersuchen, mit der Absicht, ihn zu unterlaufen, aber er konnte keine Beweise für anhaltenden Betrug finden. Sofern man in diesem Kontext von fairen Wahlen sprechen kann, war diese eine.
Das Ergebnis stand bei Einbruch der Dunkelheit fest: Die PSUV gewann die Mehrheit der Sitze, wobei die rechte und die linke Opposition ein Drittel der Stimmen erhielten. An diesem strahlenden Dezembertag waren mehr als fünf Millionen Menschen landesweit in die Wahllokale gegangen, um ihre Stimme abzugeben. Die Wahlbeteiligung – knapp 32% – ist durchschnittlich für eine Nicht-Präsidentschaftswahl, insbesondere angesichts der Pandemie, der Treibstoffknappheit (die den Transport behindert) und der Atmosphäre der Angst, die durch die Boykottaufrufe der extremen Rechten geschaffen wurde. Zum Vergleich: Bei einer Wahl in Rumänien am gleichen Tag lag die Wahlbeteiligung bei 30 % und bei Kommunalwahlen in Costa Rica im Februar dieses Jahres gingen 34 % der Wähler*innen zur Urne. Es gab weder Gewalt im Land, noch gab es ernsthafte Beschwerden über Betrug an den CNE. Am Morgen nach der Wahl sagte der venezolanische Außenminister Jorge Arreaza über den Wahlkampf und die Abstimmung, dass Venezuela eine «friedliche Reise abgeschlossen hat, bei der die Demokratie triumphiert hat und bei der das venezolanische Volk triumphiert hat».
Seit der Wahlkampagne der von Hugo Chávez angeführten Volksbewegung im Jahr 1998 führen die Vereinigten Staaten und ihre Verbündeten einen hybriden Krieg gegen jene, die in Venezuela und Lateinamerika für eine andere Zukunft einstehen. Der Begriff «Hybridkrieg» ist ein Schlüsselbegriff unserer Arbeit am Tricontinental: Institute for Social Research, da er geholfen hat, unsere Aufmerksamkeit auf die vielen neuartigen Formen der Kriegsführung zu lenken, die von den Vereinigten Staaten und ihren Verbündeten gegen all jene eingesetzt werden, die die US-Autorität herausfordern. Unser Tricontinental: Institute for Social Research-Dossier für Januar 2021 wird eine kontextualisierende Analyse der Weltlage liefern und das Konzept des Hybridkriegs ausführen.
Anstatt einen militärischen Frontalangriff gegen ihre Feinde zu führen, führen die USA Krieg auf den Gebieten der Diplomatie, der Kommunikation, des Handels und des Gewerbes. Zum Beispiel wurde der beträchtliche Einfluss der US-Medienorganisationen auf die Darstellung des Weltgeschehens als Waffe gegen US-Gegner wie Venezuela eingesetzt: Venezuelas Regierung wird von diesen Medien als «Regime» und nicht als «Regierung» bezeichnet und komplexe, zusammenhängende Schwierigkeiten werden ausschliesslich auf die Regierungspolitik oder die «Korruption» zurückgeführt, während die Folgen des Kolonialismus, die sich verschärfenden Ungleichheiten im kapitalistischen Weltsystem und die brutalen Angriffen der imperialistischen Mächte (einschließlich der Sanktionsregimes) nicht thematisiert werden.
Als Teil dieses Informationskrieges (eine Seite des Hybridkrieges) ist es für die USA und die Europäische Union wichtig, die politische Kultur Venezuelas zu delegitimieren und daher diese Wahl nicht anzuerkennen. Die von der Europäischen Union und den USA veröffentlichten Erklärungen wurden wahrscheinlich schon Tage vor der eigentlichen Wahl verfasst, denn sie berücksichtigen in keiner Weise die Ereignisse, die am 6. Dezember stattgefunden haben. Die Europäische Union hatte keine Beobachter*innen nach Venezuela geschickt und stützte daher ihre eigene Erklärung auf Vorurteile und nicht auf glaubwürdige Berichte von Menschen vor Ort. Ich war Wahlbeobachter für den CNE und möchte sagen – nach meiner persönlichen und beruflichen Meinung –, dass ich keine Beweise für einen Betrug bei der Wahl gesehen habe; dies war auch die Ansicht der Oppositionsführer*innen, die mir kategorisch sagten, dass sie nicht der Ansicht sind, dass es bei der Wahl Betrug gab.
Der Hybridkrieg nimmt viele Formen an, und keine davon ist einfach zu visualisieren. In der vierten und letzten Anti-Imperialistischen Posterausstellung zum Thema Hybridkrieg haben 39 Künstler*innen aus 18 Ländern Plakate beigesteuert, die helfen, diesem entscheidenden Konzept unserer Zeit visuellen Ausdruck zu verleihen. Die Ausstellung wurde am 3. Dezember in Solidarität mit den Menschen in Venezuela im Vorfeld der Wahlen zur Nationalversammlung eröffnet. Sie zeigt, wie sich der von den USA geführte Hybridkrieg von Venezuela bis Indien, von Kuba über China bis Brasilien und darüber hinweg manifestiert. Diese Plakate sind ein lebhaftes Zeugnis der Kämpfe der Menschen gegen den Imperialismus.
In der Nacht vor der Wahl sagte Präsident Maduro, dass das venezolanische Volk damit rechne, dass die USA die Gültigkeit der Wahl bestreiten und die politischen Vertreter*innen Venezuelas daran hindern würden, eine Agenda voranzutreiben, die zur Lösung der gravierenden Probleme des venezolanischen Volkes notwendig sei. «Die USA haben schon lange vor den Wahlen gesagt, dass sie die Ergebnisse der Wahlen nicht anerkennen würden», sagte mir Maduro in Miraflores. «Wir schenken der sterbenden Regierung von Donald Trump kein Gehör».
Die neue Nationalversammlung wird ihren Sitz am 5. Januar einnehmen, fünfzehn Tage vor der Machtübergabe in den Vereinigten Staaten (wo Trump ebenfalls Betrugsvorwürfe erhob). «Die USA», sagte Maduro, «entscheidet nicht, was wir in Venezuela tun». Das stimmt, was die Politik anbelangt, aber da die USA durch die Kontrolle über Teile des Finanzsystems und über das System des Zahlungsausgleichs die Informationen und die Wirtschaftstätigkeit kontrollieren, beschränken sie die Möglichkeiten Venezuelas, im Namen des Volkes zu handeln. Hugo Chávez pflegte zu sagen viviremos y venceremos – «wir werden leben und wir werden gewinnen». Das ist das vorherrschende Gefühl in Venezuela, über die politischen Grenzen hinweg; es ist das, was den Menschen Hoffnung gibt.
Herzlichst, Vijay.
Ich bin Tricontinental:
Rebecca Gendler, Administratorin im Brasilien-Büro
Ich arbeite am Aufbau einer Verwaltungsabteilung im Brasilien-Büro von Tricontinental: Institute for Social Research. In meiner Freizeit lese ich die Romantrilogie von Elena Ferrante und verbessere meine Kochkünste.
Aus dem Englischen übersetzt von Claire Louise Blaser.