Wir sollten alle empört sein, aber Empörung ist kein starkes Wort.
Der vierte Newsletter (2021).
Liebe Freund*innen,
Grüße vom Schreibtisch des Tricontinental: Institute for Social Research.
Eines Tages wird die Welt frei vom Coronavirus sein. Dann werden wir zurückblicken auf diese Jahre des Elends, in denen die Viren mit ihren Spike-Proteinen Millionen von Menschen niedergestreckt und das gesellschaftliche Leben im Griff gehalten haben. Es wird viel über die Ursprünge des Virus und die Schnelligkeit seiner weltweiten Ausbreitung diskutiert werden, eine Übertragung, die zeigt, wie eng wir durch die moderne Verkehrstechnik aneinandergerückt sind. Es gibt keinen Weg zurück von den Prozessen, die den Globus weiter schrumpfen lassen, uns immer näher zusammenbringen und Viren und Krankheiten immer größere Wirtspopulationen bescheren. Sich nach innen zu wenden, ist keine Lösung gegen die Ansteckungswellen, die bereits über uns gekommen sind – angefangen bei den Seuchen der frühen Neuzeit bis zu denen, die noch kommen werden. Es gibt noch keine Waffe in unserem Arsenal, um die Möglichkeit von etwas wie dem Coronavirus auszurotten. Unser Fokus muss darauf liegen, wie wir uns schützen.
Werden wir jemals die Lehren aus der letzten Pandemie ziehen oder werden wir nach einem Seufzer der Erleichterung mit der Arroganz des Siegers auf die nächste Katastrophe zusteuern? Die Grippeepidemie von 1918 wälzte sich durch die Länder, gerade als der Erste Weltkrieg zu Ende ging. Die Truppen trugen das Virus zurück in ihre Heimat und brachten zwischen 50 und 100 Millionen Menschen den Tod. Die Historikerin Laura Spinney schrieb in ihrem Buch Pale Rider: The Spanish Flu of 1918 and How it Changed the World (2017) (1918. Die Welt im Fieber: Wie die Spanische Grippe die Welt veränderte), dass es nach dem Ende dieser Pandemie «kein Kenotaph, kein Denkmal in London, Moskau oder Washington, DC gab. An die Spanische Grippe erinnert man sich persönlich, nicht kollektiv. Nicht als historische Katastrophe, sondern als Millionen diskreter, privater Tragödien».
Auch wenn es in Moskau kein Denkmal für den Kampf gegen diese Pandemie gibt, hatte die neu gegründete Union der Sozialistischen Sowjetrepubliken (UdSSR) damas eilig eine Infrastruktur für das öffentliche Gesundheitswesen aufgebaut. Die sowjetische Regierung beriet sich mit den medizinischen Einrichtungen und entwickelte systematisch eine Antwort des Volkes auf die Influenza und einen Plan für das öffentliche Gesundheitswesen. Der sowjetische Hygieniker, Gesundheitsorganisator und Begründer der nationalen Gesundheitserziehung A. V. Molko argumentierte, dass die Medizin «in ihrer modernen Konzeption und ohne sich von ihrer biologischen und naturwissenschaftlichen Grundlage zu lösen, ihrem Wesen und ihren Zielen nach ein soziologisches Problem ist». Hiervon ausgehend forderten die Sowjets die medizinischen Fakultäten auf, den Arzt der Zukunft zu schaffen; er benötige eine «solide naturwissenschaftliche Ausbildung», «genügend sozialwissenschaftlichen Hintergrund zum Verständnis des sozialen Umfelds» und «die Fähigkeit, die beruflichen und sozialen Bedingungen zu ergründen, die zu Krankheiten führen, und nicht nur die Krankheit zu heilen, sondern auch Wege zur Vorbeugung vorzuschlagen». Die UdSSR war das erste Land, das ein öffentliches Gesundheitssystem einrichtete.
Die Idee des öffentlichen Gesundheitswesens hat eine lange Geschichte, aber bei den frühen Ansätzen ging es weniger um die Gesundheit der gesamten Bevölkerung als vielmehr um die Ausrottung von Krankheiten. Wenn das bedeutete, dass die Armen die Hauptlast zu tragen hatten, dann war es eben so. Diese alte, hierarchische Vorstellung von öffentlicher Gesundheit besteht bis in unsere Zeit, besonders in Staaten mit bürgerlichen Regierungen, die mehr dem Profit als den Menschen verpflichtet sind. Aber die sozialistische Idee der öffentlichen Gesundheit – dass sich gesellschaftliche und staatliche Institutionen auf die Prävention von Krankheiten und die Unterbrechung der Infektionskette konzentrieren müssen – gewann ab dem 19. Jahrhundert an Kraft und kommt nun wieder auf den Tisch.
Nach der Grippe von 1918 wurde in Wien eine Epidemie-Kommission eingerichtet. Diese Art von Initiative sollte ein wichtiger Bestandteil der Gesundheitsorganisation des Völkerbunds (1920) werden. Aber die Agenda des Völkerbunds wurde durch die koloniale Herrschaft über einen großen Teil des Planeten und durch den Einfluss privater medizinischer Unternehmen in den von der Bourgeoisie regierten Ländern eingeengt. Selbst die Gründung der Weltgesundheitsorganisation (WHO) 1946, der ersten Sonderorganisation der Vereinten Nationen, wurde durch koloniale und kapitalistische Interessen eingeschränkt, obwohl die drei Initiatoren der WHO – Szeming Sze (China), Geraldo de Paula Souza (Brasilien) und Karl Evang (Norwegen) – aus keiner der großen Kolonialmächte stammten.
Der Kampf innerhalb der Länder und innerhalb der WHO um eine Demokratisierung des Gesundheitswesens vertiefte sich in den nächsten drei Jahrzehnten nach der Gründung der Vereinten Nationen im Jahr 1945. Die Länder der Dritten Welt, die 1961 die Bewegung der Blockfreien Staaten und 1964 den Block der 77 in den Vereinten Nationen gründeten, trieben die Agenda für ein internationales System der öffentlichen Gesundheit und für mehr Ressourcen für die öffentliche Gesundheit statt für die Privatisierung der Gesundheitsversorgung voran. Diese Debatte spitzte sich auf der Internationalen Konferenz über primäre Gesundheitsversorgung zu, die im September 1978 in Alma-Ata (UdSSR) stattfand. Die Deklaration von Alma-Ata enthält die beste Erklärung zur Verteidigung der öffentlichen Gesundheit, die jemals von einer Regierung verabschiedet wurde. Neben der Hervorhebung der Bedeutung des öffentlichen Gesundheitswesens im Allgemeinen wies die Deklaration auf die großen Ungleichheiten zwischen den Ländern des imperialistischen Blocks und den Ländern der Dritten Welt hin. Es lohnt sich, den Punkt VII der Deklaration wieder aufzugreifen, der besagt, die öffentliche medizinische Grundversorgung:
- spiegelt die ökonomischen Rahmenbedingungen und die soziokulturellen und politischen Merkmale eines Landes und der darin lebenden Gemeinschaften wider und entwickelt sich in Abhängigkeit von diesen und ist auf der Anwendung der wesentlichen Ergebnisse der sozialen und biomedizinischen Forschung, der Gesundheitswesenforschung und der Erfahrungen im Bereich öffentliche Gesundheit begründet;
- befasst sich mit den wichtigsten gesundheitlichen Problemen in der Gesellschaft und stellt die erforderlichen Gesundheitsförderungs‑, Präventions‑, Heil- und Rehabilitationsangebote bereit;
- beinhaltet mindestens folgende Elemente: Aufklärung in Bezug auf vorherrschende Gesundheitsprobleme und die Methoden zu ihrer Verhütung und Bekämpfung; Förderung der Nahrungsmittelversorgung und einer angemessenen Ernährung; eine ausreichende Versorgung mit sauberem Wasser und sanitären Anlagen; Gesundheitsschutz für Mütter und Kinder, einschließlich Familienplanung; Impfung gegen die schwersten Infektionskrankheiten; Prävention und Bekämpfung endemischer Krankheiten; angemessene Behandlung der häufigsten Krankheiten und Verletzungen; und Versorgung mit unentbehrlichen Arzneimitteln;
- bezieht neben dem Gesundheitsbereich auch alle damit verbundenen Bereiche der Entwicklung von Ländern und Bevölkerungen ein, insbesondere Landwirtschaft, Viehzucht, Ernährung, Industrie, Bildung, Wohnungsbau, öffentliche Arbeiten, Kommunikation, und setzt sich für aufeinander abgestimmte Anstrengungen in all diesen Bereichen ein;
- erfordert und fördert bei Individuum und Gesellschaft ein Höchstmaß an Eigenverantwortung und Beteiligung an Planung, Organisation, Betrieb und Überwachung der primären Gesundheitsversorgung unter größtmöglicher Nutzung der auf lokaler und nationaler Ebene oder anderweitig vorhandenen Mittel und entwickelt zu diesem Zweck durch angemessene Aufklärung der Bevölkerung deren Fähigkeit zu einer aktiven Beteiligung;
- sollte durch integrierte, funktionsfähige und einander unterstützende Überweisungssysteme aufrechterhalten werden, die eine allmähliche Verbesserung der umfassenden Gesundheitsversorgung für alle ermöglichen und den am meisten Bedürftigen Vorrang einräumen;
- ist auf der lokalen Ebene und bei Überweisungen auf Gesundheitsfachkräfte wie Ärzte, Pflegekräfte, Hebammen, Hilfskräfte und Sozialarbeiter, gegebenenfalls aber auch auf die Hilfe traditioneller Mediziner angewiesen, die allesamt sozial wie fachlich angemessen für die Arbeit als Gesundheitsteam und für eine Antwort auf die erklärten gesundheitlichen Bedürfnisse der Bevölkerung geschult sein müssen.
An der Alma-Ata-Deklaration gibt es nur wenig zu ändern. Sie muss wieder auf die Tagesordnung gesetzt werden.
Die Kaltschnäuzigkeit, mit der die bürgerlichen Regierungen mit der Pandemie umgegangen sind, beleuchtet die Notwendigkeit einer Untersuchung ihres kriminellen Vorgehens. Letzte Woche überdachten Noam Chomsky und ich die Nachrichten, die aus Brasilien kamen, aber es hätten genauso Nachrichten aus Indien, Südafrika oder den Vereinigten Staaten sein können. Hier ist unsere Notiz:
Warnungen, dass der Sauerstoffvorrat in der Stadt Manaus, Brasilien, zur Neige geht, erreichten lokale und bundesstaatliche Regierungsbeamte eine Woche, bevor die Katastrophe zum Erstickungstod von Patienten führte, die an COVID-19 erkrankt waren. Kein moderner Staat – wie Brasilien – sollte eingestehen müssen, nichts unternommen zu haben, als diese Warnungen eintrafen, sondern einfach zuließ, dass seine eigenen Bürger grundlos starben.
Ein Richter des Obersten Gerichtshofs und der Generalstaatsanwalt haben die brasilianische Regierung zum Handeln aufgefordert, aber das hat die Regierung von Jair Bolsonaro nicht berührt. Alles an dieser Geschichte – detailliert dargelegt im Bericht des Generalstaatsanwalts José Levi do Amaral – offenbart die Fäulnis der Privatisierung und Inkompetenz. Die örtlichen Gesundheitsbehörden wussten Anfang Januar von dem unmittelbar drohenden Sauerstoffmangel, aber ihre Warnung hatte kein Gewicht. Ein privater Auftragnehmer, der die Aufgabe hatte, den Sauerstoff zu liefern, informierte die Regierung sechs Tage bevor der Stadt dieser entscheidende Vorrat im Kampf gegen COVID-19 ausging. Selbst mit den Informationen des Auftragnehmers unternahm die Regierung nichts; sie sagte später – entgegen allen wissenschaftlichen Erkenntnissen –, dass eine frühzeitige Behandlung des Coronavirus nicht funktioniere. Die Gleichgültigkeit und Inkompetenz der Regierung von Bolsonaro veranlassten Generalstaatsanwalt Augusto Aras, eine Sonderuntersuchung zu fordern. Während Bolsonaro zauderte, schickte die Regierung Venezuelas in einem Akt der Solidarität eine Lieferung von Sauerstoff nach Manaus.
Die jüngste Entwicklung, die durch die gefährliche Mischung aus Privatisierung, Unfähigkeit und Gleichgültigkeit der Regierung verursacht wurde, sollte die Klage der brasilianischen Gesundheitsgewerkschaften gegen Jair Bolsonaro vor dem Internationalen Strafgerichtshof (IStGh) im Juli untermauern. Aber das Problem liegt nicht an der Schuld von Bolsonaro allein oder gar von Brasilien. Das Problem liegt bei den neoliberalen Regierungen, den Regierungen in den Vereinigten Staaten, Großbritannien, Indien und anderen, Regierungen, deren Verpflichtungen gegenüber profitgierigen Firmen und Milliardären bei weitem ihre Verpflichtungen gegenüber den eigenen Bürgern oder der eigenen Verfassung übertreffen. Was wir in Ländern wie Brasilien sehen, ist ein Verbrechen gegen die Menschlichkeit.
Es ist an der Zeit, ein Bürgertribunal einzuberufen, um das völlige Versagen der Regierungen von Boris Johnson, Donald Trump, Jair Bolsonaro, Narendra Modi und anderen zu untersuchen und die Kette der Infektion mit COVID-19 zu unterbrechen. Ein solches Tribunal würde die faktischen Informationen sammeln und sicherstellen, dass wir diesen Staaten nicht erlauben, den Tatort zu manipulieren; das Tribunal würde dem IStGH, sofern er sich nicht politisch abwürgen lässt, eine solide Grundlage für eine forensische Untersuchung dieses Verbrechens gegen die Menschlichkeit liefern.
Wir sollten alle empört sein. Aber Empörung ist kein starkes Wort.
Ein kürzlich veröffentlichter Bericht legt nahe, dass die Regierung Bolsonaro eine Strategie verfolgt, die die Verbreitung des Virus erlaubt. All dies wird Beweismaterial für das Bürgertribunal sein. Wir dürfen nicht zulassen, dass eine Amnesie einsetzt. Wir müssen uns erinnern und wir müssen auf den Ideen aufbauen, die in der Alma-Ata-Erklärung dargelegt sind.
Herzlichst,
Vijay
Ich bin Tricontinental:
Daniela Schroder
Übersetzerin, überregionales Büro
Ich übersetze den Tricontinental: Institute for Social Research-Newsletter sowie andere Dokumente vom Englischen ins Spanische. Ich arbeite außerdem an meiner Doktorarbeit zum Thema Publikationen der feministischen und der Frauenbewegung zu Zeiten der Diktatur in Chile. Ich habe außerdem an Mobilisierungen und der politischen Organisation der Coordinadora Feminista M8 teilgenommen. Mein neues Haustier, eine Katze namens Lucha (Kampf), leistet mir bei der Arbeit Gesellschaft.
Aus dem Englischen übersetzt von Claire Louise Blaser.