Die wilde Entschlossenheit gewöhnlicher Menschen, eine außergewöhnliche Welt zu schaffen. 

Der neunundvierzigste Newsletter (2021).

Mwamba Chik­wemba (Sambia), Power, 2019.

Liebe Freund*innen,

 

Grüße aus dem Büro des Tricon­ti­nen­tal: Insti­tute for Social Rese­arch.

 

Der Präsi­dent der Verei­nig­ten Staa­ten, Joe Biden, hat 111 Länder zur Teil­nahme an seinem Gipfel für Demo­kra­tie am 9. und 10. Dezem­ber einge­la­den, der am Tag der Menschen­rechte endet. «Wir heißen alle Länder, Orga­ni­sa­tio­nen und Einzel­per­so­nen will­kom­men, die die Ziele des Gipfels unter­stüt­zen», schrieb das US-Außen­mi­nis­te­rium. Es gibt jedoch 82 Länder, die nicht einge­la­den wurden, darun­ter zwei große Länder, die stän­dige Mitglie­der des Sicher­heits­ra­tes der Verein­ten Natio­nen sind (die Volks­re­pu­blik China und Russ­land), und zwei kleine Länder aus der Kari­bik (Kuba und Haiti). Im Namen der Demo­kra­tie treibt die US-Regie­rung ihre eigene Agenda voran, um ihre Macht zu konso­li­die­ren und ihre natio­na­len Inter­es­sen zu fördern. Es handelt sich weni­ger um einen Gipfel für Demo­kra­tie als viel­mehr um einen Gipfel zur Zusam­men­füh­rung einer Grup­pie­rung, die das ange­schla­gene Image der Verei­nig­ten Staa­ten aufpo­lie­ren soll.

 

Inwie­fern ange­schla­gen? Der Demo­kra­tie-Index der Intel­li­gence Unit des Econo­mist bezeich­net die Verei­nig­ten Staa­ten als eine «mangel­hafte Demo­kra­tie», was ange­sichts der Quelle erstaun­lich ist. Was macht sie «mangel­haft»? Drei Punkte veran­schau­li­chen dies: (1) der Wahl­pro­zess in den USA wird durch den korrum­pie­ren­den Einfluss von Geld und Lobby­grup­pen beein­träch­tigt, während die Aushöh­lung des Wahl­rechts­ge­set­zes sozia­len Minder­hei­ten den Zugang zu den Wahl­ur­nen erschwert; (2) die USA haben die höchste Inhaf­tie­rungs­rate der Welt, wobei soziale Minder­hei­ten eindeu­tig benach­tei­ligt werden – insbe­son­dere bei der Verhän­gung der Todes­strafe; (3) die USA haben ihre Kontrolle über das globale Finanz­sys­tem und ihr immenses Mili­tär einge­setzt, um Ländern auf der ganzen Welt Leid zuzu­fü­gen, was alles im Wider­spruch zur Charta der Verein­ten Natio­nen steht.


Das Ziel des Gipfels besteht nicht nur darin, entge­gen allen Tatsa­chen zu sugge­rie­ren, dass die USA eine blühende Demo­kra­tie sind, sondern auch darin, die erha­bene Idee der Demo­kra­tie zu nutzen, um den von den USA ange­zet­tel­ten hybri­den Krieg gegen ihre Gegner (vor allem China und Russ­land, aber auch Kuba, Iran und Vene­zuela) anzu­hei­zen. Dies ist ein grober und zyni­scher Miss­brauch demo­kra­ti­scher Ideale, die zur Entfal­tung des gesam­ten mensch­li­chen Poten­zi­als mobi­li­siert werden soll­ten, anstatt zu einem Instru­ment der Kriegs­füh­rung gemacht zu werden.

Gazbia Sirry (Ägyp­ten), An Egyp­tian Family, 1955.

Die Welt hat bereits einen regel­mä­ßi­gen Demo­kra­tie-Gipfel. Es ist die Gene­ral­ver­samm­lung der Verein­ten Natio­nen. Sie eröff­net ihre Sitzung jedes Jahr im Septem­ber, und die Regierungschef*innen kommen, um ihre Sicht­weise zu den Dilem­mata der Mensch­heit darzu­le­gen. Was die UN-Gene­ral­ver­samm­lung zusam­men­hält, ist nicht die Laune dieser oder jener mäch­ti­gen Nation, sondern eines der grund­le­gends­ten Doku­mente in der Geschichte der Mensch­heit: die UN-Charta, die im Juni 1945 von den einund­fünf­zig Ländern, die die UN gegrün­det haben, ange­nom­men wurde. Heute zählt die UNO 193 Mitglie­der, von denen jedes einzelne die Charta unter­zeich­net hat. Jeder Staat im UN-System ist verpflich­tet, die Charta zu befol­gen, was sie zum wich­tigs­ten Konsens­do­ku­ment der Welt macht. Arti­kel 2 der Charta ist in zwei Punk­ten eindeu­tig: (1) dass die UNO auf der «souve­rä­nen Gleich­heit aller ihrer Mitglie­der» beruht und (2) dass die UNO-Mitglie­der «ihre inter­na­tio­na­len Strei­tig­kei­ten mit fried­li­chen Mitteln regeln» müssen. Die Mittel sind in den Kapi­teln VI und VII der Charta aufge­führt, wobei genau fest­ge­legt ist, dass kein Land einem ande­ren Land Scha­den zufü­gen darf, es sei denn, es liegt eine Reso­lu­tion des UN-Sicher­heits­rats vor, die zum Handeln auffor­dert; ohne die Ermäch­ti­gung der UNO kann keine Aktion durch­ge­führt werden.


Unter­des­sen haben die USA seit 1961 eine verhee­rende Blockade gegen das souve­räne Volk von Kuba verhängt. Diese Blockade ist ille­gal und war es von Anfang an, da sie nicht durch die UN-Charta geneh­migt ist. Aus diesem Grund haben die Mitglie­der der UN-Gene­ral­ver­samm­lung in über­wäl­ti­gen­der Zahl dafür gestimmt, dass die USA ihre ille­gale Blockade der letz­ten drei­ßig Jahre aufge­ben. In diesem Jahr stimm­ten 184 Länder gegen die USA. «Die Blockade erstickt uns und tötet», sagte der kuba­ni­sche Außen­mi­nis­ter Bruno Rodrí­guez Parrilla. «Sie muss aufhören».

Morn Chear (Kambo­dscha), Hand in Hand, 2021.

Kuba, ein klei­ner Insel­staat mit 11 Millio­nen Einwohner*innen, hat die Sicher­heit der Verei­nig­ten Staa­ten nie bedroht. Die kuba­ni­sche Regie­rung hat nie versucht, in die Verei­nig­ten Staa­ten einzu­mar­schie­ren. In der Tat wäre die Idee absurd, da die USA über das tödlichste und schlag­kräf­tigste Mili­tär der Welt verfü­gen und jeden vernich­ten würden, der versuchte, sie anzu­grei­fen (wie sie es mit Japan nach 1941 und mit Al-Qaida nach 2001 getan haben). Wenn Kuba keine Bedro­hung für die USA darstellt, warum haben die USA dann diese ille­gale Blockade gegen Kuba aufrechterhalten?

 

Als Folge der grau­sa­men Geschichte des Kolo­nia­lis­mus und der Verskla­vung wurde die Wirt­schaft Kubas vor der Revo­lu­tion durch die Zucker­pro­duk­tion und den Touris­mus erstickt. Es ist nicht einfach, den Sozia­lis­mus in einem armen Land aufzu­bauen, dessen Wirt­schaft als Spiel­wiese für Impe­ria­lis­ten gestal­tet wurde. In Kuba gibt es nur wenige Edel­me­talle und Mine­ra­lien, die sonst die Aufmerk­sam­keit der Kapi­ta­lis­ten in Ländern wie den USA auf sich ziehen würden. Warum also haben die USA die ille­gale Blockade gegen Kuba aufrecht­erhal­ten, wo es doch keine nennens­wer­ten Boden­schätze gibt?


Die engste Paral­lele zu Kuba ist eine andere Kari­bik­in­sel, Haiti, mit eben­falls 11 Millio­nen Einwoh­nern, eben­falls mit weni­gen natür­li­chen Ressour­cen, die für die Kapi­ta­lis­ten nütz­lich sind, und ohne Bedro­hung für die Sicher­heit der Verei­nig­ten Staa­ten. Seit der Revo­lu­tion von 1804 wurde Haiti jedoch unter­drückt, sein Reich­tum ausge­beu­tet und seine Bevöl­ke­rung gezwun­gen, mindes­tens 21 Milli­ar­den US-Dollar an «Repa­ra­tio­nen» für das Eigen­tum – einschließ­lich Menschen – zu zahlen, das sie im Zuge ihres Kamp­fes gegen das Skla­ven­plan­ta­gen­sys­tem befreit hatten. Haiti wurde ein Gewalt­re­gime aufge­zwun­gen, das bis heute anhält, ein schreck­li­ches System der Dikta­tur und des poli­ti­schen Chaos, alles zum Vorteil der Verei­nig­ten Staaten.

Hulda Guzmán (Domi­ni­ka­ni­sche Repu­blik), Be Kind to your Demons (Istan­bul Cats), 2018.

Was ist der Grund für diese Feind­se­lig­keit gegen­über Kuba und Haiti?

Es ist die Kühn­heit, mit der sie für ihre Souve­rä­ni­tät eintre­ten und das Verspre­chen, eine Gesell­schaft aufzu­bauen, die nicht auf die Bedürf­nisse der impe­ria­lis­ti­schen Mächte ausge­rich­tet ist. Das haitia­ni­sche Volk sagte Nein zur Skla­ve­rei, als die Wirt­schaft der USA und Euro­pas auf der kosten­lo­sen Arbeit der versklav­ten Völker der Kari­bik beruhte. Dieser Akt der Befrei­ung des haitia­ni­schen Volkes war unver­zeih­lich, und aus diesem Grund musste Haiti bestraft und sein Demo­kra­tie­pro­jekt im Keim erstickt werden. Wenn es erfolg­reich verliefe, würden die haitia­ni­schen Maroons ande­ren unter­drück­ten Völkern als Vorbild dienen, und so musste dieses Beispiel ausge­löscht werden.

 

Kuba hat sich, wie Haiti, aus den Fängen des Impe­ria­lis­mus und seiner Mafia befreit. Die revo­lu­tio­näre Regie­rung war – und ist – dem Aufbau eines souve­rä­nen Projekts verpflich­tet. Sie schuf ein Herr­schafts­sys­tem, das die Inter­es­sen des Volkes über den Profit stellte, sorgte dafür, dass die Ernäh­rung, die Alpha­be­ti­sie­rung, die Gesund­heit und die Kultur des Volkes an erster Stelle stan­den, und baute ein Modell des Sozia­lis­mus in einem sehr armen Land auf. Auch das Beispiel der kuba­ni­schen Revo­lu­tion muss von den Impe­ria­lis­ten ausge­löscht werden, dieser Erfolg kann nicht gedul­det werden, ebenso wenig wie die unbän­dige Entschlos­sen­heit der einfa­chen Menschen, eine außer­ge­wöhn­li­che Welt aufzubauen.

Haitia­ni­sche Unab­hän­gig­keits­er­klä­rung, 1804.

In der haitia­ni­schen Unab­hän­gig­keits­er­klä­rung von 1804 schrie­ben die muti­gen Revolutionär*innen: «Wir haben es gewagt, frei zu sein. Lasst uns also unter uns und für uns selbst sein». Die Haitianer*innen seien frei, schrie­ben sie, aber nicht die Fran­zo­sen. Die Fran­zo­sen «haben erobert, sind aber nicht mehr frei», weil sie – wie die herr­schen­den Eliten der Verei­nig­ten Staa­ten – in den Phan­ta­sien des Impe­ria­lis­mus und in ihrem Hunger nach Kapi­tal­ak­ku­mu­la­tion gefan­gen sind. In diesem Traum gibt es keine Frei­heit und auch keine Demokratie.




Herz­lichst,

 

Vijay

Aus dem Engli­schen von Claire Louise Blaser.