Wir sind Gras. Wir wachsen überall.
Der neunundvierzigste Newsletter (2020).
Liebe Freund*innen,
Grüße vom Schreibtisch des Tricontinental: Institute for Social Research.
Landwirt*innen und Landarbeiter*innen aus Nordindien marschierten während des Generalstreiks am 26. November auf verschiedenen Nationalstraßen in Richtung der indischen Hauptstadt Neu-Delhi. Sie trugen Plakate mit Parolen gegen die landwirtschaftsfeindlichen, dafür unternehmensfreundlichen Gesetze, die im September von Indiens Lok Sabha (Unterhaus des Parlaments) verabschiedet wurden, und dann im Rajya Sabha (Oberhaus) bloß mit einer mündlichen Abstimmung bestätigt wurden. Die streikenden Landarbeiter*innen, Bauern und Bäuerinnen trugen Flaggen, die auf ihre Zugehörigkeit zu einer Reihe von Organisationen hinwiesen, von der kommunistischen Bewegung bis hin zu einer breiten Front von bäuerlichen Organisationen. Sie marschierten gegen die Privatisierung der Landwirtschaft, die die Ernährungssouveränität Indiens und ihre eigene Fähigkeit, als Agrarschaffende tätig zu bleiben, untergräbt.
Etwa zwei Drittel aller indischen Arbeiter*innen verdienen ihr Geld in der Landwirtschaft, die etwa 18% des indischen Bruttoinlandsprodukts (BIP) erwirtschaftet. Die drei im September verabschiedeten Anti-Landwirtschaftsgesetze untergraben die Mindeststützungspreis-Aufkauf-Programme der Regierung, und setzen die 85% der Landwirte, die weniger als 2 Hektar Land besitzen, der Gnade von Verhandlungen mit Monopolgroßhändlern aus. Sie werden zur Zerstörung eines Systems führen, das bisher die landwirtschaftliche Produktion trotz erratischer Preise für Nahrungsmittel aufrechtzuerhalten vermochte. Einhundertfünfzig bäuerliche Organisationen kamen zu diesem Marsch auf Neu-Delhi zusammen. Sie schworen, auf unbestimmte Zeit in der Stadt zu bleiben.
Rund 250 Millionen Menschen in ganz Indien schlossen sich am 26. November dem Generalstreik an, der damit der größte Streik in der Weltgeschichte ist. Wenn die Streikenden ein Land bilden würden, wäre es nach China, Indien, den Vereinigten Staaten und Indonesien das fünftgrößte Land der Welt. Industriegürtel in ganz Indien – von Telangana bis Uttar Pradesh – kamen zum Stillstand, als die Arbeitskräfte in den Häfen vom Jawaharlal Nehru Port (Maharashtra) bis zum Paradip Port (Odisha) die Arbeit niederlegten. Kohle‑, Eisenerz- und Stahlarbeiter*innen legten ihre Werkzeuge nieder, Züge und Busse standen still. Arbeiter*innen aus dem informellen Sektor schlossen sich an, ebenso wie Beschäftigte des Gesundheitswesens und Bankangestellte. Sie streiken gegen die Arbeitsgesetze, die den Arbeitstag auf zwölf Stunden verlängern und den Arbeitsschutz für 70% der Belegschaft aufheben. Tapan Sen, der Generalsekretär des Zentrums der indischen Gewerkschaften, sagte: «Der Streik heute ist nur ein Anfang. Viel intensivere Kämpfe werden folgen».
Die Pandemie hat die Krise der indischen Arbeiterklasse und der Bauernschaft, einschließlich der reicheren Bäuer*innen, verschärft. Trotz der Gefahren der Pandemie versammelten sich Arbeiter*innen und Agrarschaffende aus großer Verzweiflung auf öffentlichen Plätzen, um der Regierung mitzuteilen, dass sie das Vertrauen in sie verloren hatten. Der Schauspieler Deep Sidhu schloss sich dem Protest an, wo er einem Polizeibeamten sagte: «Ye inquilab hai. Dies ist eine Revolution. Wenn man den Bäuer*innen ihr Land wegnimmt, was bleibt ihnen dann noch? Nur Schulden».
Entlang der Stadtränder von Neu-Delhi positionierte die Regierung Polizeikräfte, verbarrikadierte die Autobahnen und bereitete sich auf eine Konfrontation im großen Stil vor. Als sich die langen Kolonnen von Landwirt*innen und Landarbeiter*innen den Barrikaden näherten und an ihre Verwandten appellierten, die die Bauernkleidung abgelegt und stattdessen Polizeiuniformen angezogen hatten, feuerten die Behörden mit Tränengas und Wasserwerfern auf die Streikenden.
Der Tag des Generalstreiks der Landwirt*innen und Landarbeiter*innen, der 26. November, ist in Indien auch der Tag der Verfassung, der eine große politische Souveränitätsleistung zelebriert. Artikel 19 der indischen Verfassung (1950) gibt den indischen Bürger*innen ganz klar das Recht auf «Rede- und Meinungsfreiheit» (1.a), das Recht, «sich friedlich und ohne Waffen zu versammeln» (1.b), das Recht, «Vereinigungen oder Gewerkschaften zu gründen» (1.c) und das Recht, «sich im gesamten Hoheitsgebiet Indiens frei zu bewegen» (1.d). Für den Fall, dass diese Artikel der Verfassung in Vergessenheit geraten waren, erinnerte der Oberste Gerichtshof Indiens die Polizei in einem Gerichtsverfahren aus dem Jahr 2012 (Ramlila-Maidan-Vorfall vs. Innenminister) daran, dass «die Bürger*innen ein Grundrecht auf Versammlung und friedlichen Protest haben, das ihnen nicht durch eine willkürliche Handlung der Exekutive oder Legislative genommen werden kann». Die Barrikaden der Polizei, der Einsatz von Tränengas und die Verwendung von Wasserwerfern – Wasser, das nach einer israelischen Innovation mit Hefe und Backpulver angereichert ist, um einen Würgereflex auszulösen – sind verfassungswidrig. Das riefen die Streikenden bei jeder dieser Konfrontationen den Polizisten zu. Trotz der Kälte in Nordindien durchnässte die Polizei die Menschen mit Wasser und sprühte Tränengas.
Aber das hielt niemanden auf, denn tapfere junge Menschen sprangen auf die Wasserwerferlastwagen und stellten das Wasser ab während Bauern mit ihren Traktoren in die Barrikaden fuhren. Die Arbeiterklasse und die Bauernschaft wehrten sich gegen den Klassenkampf, der ihnen von der Regierung aufgezwungen wurde. Die Zwölf-Punkte-Agenda der von den Gewerkschaften vorgebrachten Forderungen ist aufrichtig und hat die Gefühle des Volkes eingefangen. Zu den Forderungen gehören die Rücknahme der arbeits- und landwirtschaftsfeindlichen Gesetze, die ihnen die Regierung im September aufgedrängt hatte, die Rückgängigmachung der Privatisierung großer staatlicher Unternehmen und sofortige Hilfe für die Bevölkerung, die unter der wirtschaftlichen Not leidet, die durch die Coronavirus-Rezession und jahrelange neoliberale Politik hervorgerufen wurde. Dies sind einfache, humane und ehrliche Forderungen, von denen sich nur die Hartherzigsten abwenden und stattdessen mit Wasserwerfern und Tränengas reagieren können.
Die Forderungen nach Soforthilfe, nach sozialem Schutz für Arbeitnehmer*innen und nach Agrarsubventionen sind die der Arbeiter*innen und Landwirtschaftsbetreibenden auf der ganzen Welt. Es sind Forderungen wie diese, die die jüngsten Proteste in Guatemala provozierten und die am 26. November in Griechenland zum Generalstreik führten.
Wir treten nun in eine Phase dieser Pandemie ein, in der mehr Unruhen möglich sind, da immer mehr Menschen in Ländern mit bürgerlichen Regierungen zunehmend genug von dem grauenhaften Vorgehen ihrer Eliten haben. Ein Bericht nach dem anderen zeigt uns, dass die sozialen Kluften immer extremer werden, ein Trend, der lange vor der Pandemie begann, der sich aber als Folge der Pandemie immer schneller ausbreitet und vertieft. Es ist nur natürlich, dass Landwirt*innen und Landarbeiter*innenaufgewühlt sind. Ein neuer Bericht der Landungleichheits-Initiative zeigt, dass 1% der landwirtschaftlichen Betriebe weltweit mehr als 70% des Ackerlandes bewirtschaften, was bedeutet, dass massive Konzernbetriebe das korporative Ernährungssystem dominieren und das Überleben der 2,5 Milliarden Menschen gefährden, die von der Landwirtschaft leben. Betrachtet man die Landlosigkeit und den Wert des Bodens, so ist die Bodenungleichheit in Lateinamerika, Südasien und Teilen Afrikas am höchsten (mit bemerkenswerten Ausnahmen wie China und Vietnam, die das «niedrigste Niveau der Ungleichheit» aufweisen).
Ein junger Mann, Avtar Singh Sandhu (1950–1988), las Anfang der 1970er Jahre Mother (1906) Maxim Gorkis im Punjab, von wo aus viele der Streikenden ihre Reise zu den Barrikaden um Neu-Delhi antraten. Er war sehr bewegt von der Beziehung zwischen Nilowna, einer Frau aus der Arbeiterklasse, und ihrem Sohn Pawel, auchPascha genannt. Pascha findet seinen Platzin der sozialistischen Bewegung, bringt revolutionäre Bücher mit nach Hause, und langsam werden sowohl Mutter als auch Sohn radikalisiert. Als Nilowna ihm eine Frage zurIdee der Solidarität stellt, antwortet Pascha: «Die Welt gehört uns! Die Welt ist für die Arbeiter*innen! Für uns gibt es keine Nation, keine Rasse. Für uns gibt es nur Genoss*innen und Feinde». Dieser Gedanke der Solidarität und des Sozialismus, sagt Pascha, «wärmt uns wie die Sonne; sie ist die zweite Sonne am Himmel der Gerechtigkeit, und dieser Himmel wohnt im Herzen der Arbeiter*innen». Gemeinsam werden Nilowna und Pascha Revolutionäre. Bertolt Brecht erzählte diese Geschichte in seinem Stück Die Mutter (1932) erneut.
Avtar Singh Sandhu war von dem Roman und dem Stück so inspiriert, dass er den Namen «Pash» als seinen takhallus, seinen Künstlernamen, annahm. Pash wurde zu einem der revolutionärsten Dichter seiner Zeit, 1988 von Terroristen ermordet. I am grass («Ich bin Gras») ist eines der Gedichte, das er hinterlassen hat:
Bam fek fek do chahe vishwavidyalaya par
Banaa do hostel ko malbe kaa dher
Suhaagaa firaa do bhale hi hamari jhopriyon par
Mujhe kya karoge?
Main to ghaas hun, har chiz par ugg aauungaa.
Wenn ihr wollt, werft eure Bombe auf die Universität.
Demoliert das Wohnheim zu einem Trümmerhaufen.
Werft euren weißen Phosphor auf unsere Slums.
Was könnt ihr mir schon antun?
Ich bin Gras. Ich wachse überall.
Das ist es, was die Bäuer*innen und die Arbeiter*innen in Indien ihren Eliten sagen, und das ist es, was die arbeitenden Menschen den Eliten in ihren eigenen Ländern zurufen, Eliten, denen es – sogar in der Pandemie – darum geht, ihre Macht, ihr Eigentum und ihre Privilegien zu schützen. Aber wir sind Gras. Wir wachsen überall.
In der nächsten Woche wird das Tricontinental: Institute for Social Research zwei Veranstaltungen mit dem People’s Forum ausrichten. Am 4. Dezember werden Kulturschaffende aus Venezuela, Südafrika und China/Kanada darüber diskutieren, wie in Zeiten des Corona-Schock Kultur für die kämpfenden Menschen gemacht wird. Im Mittelpunkt der Diskussion steht die Antiimperialistische Plakatausstellung; die letzte Ausstellung der vierteiligen Reihe (zum Konzept des Hybridkrieges) begann am Donnerstag, 3. Dezember. Sie umfasst Kunstwerke von 37 Künstler*innen aus 18 Ländern.
Am 8. Dezember wird die Feminismus-Arbeitsgruppe des Tricontinental: Institute for Social Research die kürzlich eingeleitete Studie CoronaShock and Patriarchy («Der Corona-Schock und das Patriarchat») die geschlechtsspezifischen Auswirkungen der Pandemie diskutieren. Ihr könnt euch hier anmelden.
Herzlichst,
Vijay
Ich bin Tricontinental
Srujana Bodapati
Koordinatorin im Indien-Büro
In letzter Zeit habe mich mit den strukturellen Veränderungen im indischen Bankensektor beschäftigt, seit er dereguliert und 1997 für den Privatsektor geöffnet wurde. Zurzeit schreibe ich über die historischen und wirtschaftspolitischen Prozesse, die zur Deregulierung des indischen Bankenwesens führten.
Aus dem Englischen übersetzt von Claire Louise Blaser.