Der gefährlich attraktive Stil der extremen Rechten.
Der achtundvierzigste Newsletter (2023)
Liebe Freund*innen,
Grüße aus dem Büro von Tricontinental: Institute for Social Research.
Vor seinem Sieg bei den argentinischen Präsidentschaftswahlen am 19. November verbreitete Javier Milei ein Video, das ihn vor einer Reihe weißer Tafeln zeigte. Auf einer dieser Tafeln waren die Namen verschiedener staatlicher Institutionen zu sehen, wie z. B. die Ministerien für Gesundheit, Bildung, Frauen und Geschlechtervielfalt, öffentliche Arbeiten und Kultur, die alle als typische Elemente eines modernen Staatsprojekts gelten. Milei ging an der Tafel entlang und riss die Namen dieser und anderer Ministerien ab, während er afuera! («Raus!») rief und erklärte, dass er sie im Falle seiner Wahl zum Präsidenten abschaffen würde. Milei schwor, den Staat nicht nur zu verkleinern, sondern das System zu «sprengen», und trat bei Wahlkampfveranstaltungen oft mit einer Kettensäge in der Hand auf.
Die Reaktion auf das virale Video von Milei und andere derartige Stunts war ebenso polarisiert wie die argentinische Wählerschaft. Die eine Hälfte der Bevölkerung hielt Mileis Agenda für Wahnsinn, für das Zeichen einer extremen Rechten, die keinen Bezug zur Realität und Rationalität hat. Die andere Hälfte war der Meinung, dass Milei genau die Art von Kühnheit an den Tag legte, die erforderlich ist, um ein Land zu verändern, das in Armut und einer explodierenden Inflation versinkt. Milei hat die Wahl nicht nur gewonnen, er hat sie sogar mit Leichtigkeit gewonnen, weil er den Finanzminister der scheidenden Regierung, Sergio Massa, besiegte, dessen fade, zentristische Stabilitätsversprechen bei einer Bevölkerung, die seit Jahrzehnten mit Instabilität lebt, nicht gut ankamen.
Mileis Vorschläge zur Lösung der Abwärtsspirale der argentinischen Wirtschaft sind weder singulär, noch sind sie praktikabel. Die Dollarisierung der Wirtschaft, die Privatisierung staatlicher Funktionen und die Unterdrückung von Arbeitnehmerorganisationen sind Säulen der neoliberalen Sparpolitik, die die Welt in den letzten Jahrzehnten geplagt hat. Über diese oder jene Massnahmen zu debattieren, verfehlt das Wesentliche am Aufstieg der extremen Rechten in der ganzen Welt. Es kommt nicht so sehr darauf an, was sie sagen, was sie tun wollen, um die Probleme der Welt zu lösen, sondern wie sie es sagen. Mit anderen Worten: Politiker*innen wie Milei (oder der ehemalige brasilianische Präsident Jair Bolsonaro, Indiens Premierminister Narendra Modi und der ehemalige US-Präsident Donald Trump) sind nicht wegen ihrer politischen Vorschläge attraktiv, sondern wegen ihres Stils – der Stil der extremen Rechten. Leute wie Milei versprechen, die Institutionen des Landes an der Gurgel zu packen und sie zu Lösungen zu zwingen. Ihre Kühnheit lässt die Gesellschaft aufschrecken, ein Schock, der als Plan für die Zukunft ausgegeben wird.
Es gab eine Zeit, in der sich die allgemeine Stimmung der internationalen Mittelschicht auf die Gewährleistung von Bequemlichkeit konzentrierte: Sie hasste die Unannehmlichkeiten, in Staus und Warteschlangen festzustecken, ihre Kinder nicht auf die Schule ihrer Wahl schicken zu können und nicht in der Lage zu sein, – wenn auch auf Kredit – die Konsumgüter zu kaufen, die ihnen das Gefühl gaben, kulturell überlegen zu sein, sowohl untereinander als auch gegenüber der Arbeiterklasse. Wäre die Mittelschicht nicht betroffen, würde sich diese Klasse – die die Wählerschaft der meisten liberalen Demokratien prägt – mit Stabilitätsversprechen zufrieden geben. Wenn aber das gesamte System durch die eine oder andere Unannehmlichkeit erschüttert wird – wie die Inflation, die in Argentinien zu Beginn der Wahlen im Oktober 142,7 % betrug –, dann hat die Zusicherung von Stabilität wenig Gewicht. Die politischen Kräfte der Mitte, wie die des Gegners von Milei, sind in der Gewohnheit gefangen, von Stabilität zu sprechen, während ihr Land brennt. Sie versprechen kaum mehr als eine schrittweise Zerstörung. In diesem Zusammenhang ist Zaghaftigkeit nicht immer attraktiv für die Mittelschicht, ganz zu schweigen von Arbeiter*innen und Bäuer*innen, die eine mutige Vision brauchen und nicht auf milde Lebenshaltungskostenerhöhungen und Steuererleichterungen für Großunternehmen fixiert sind.
Diese Zaghaftigkeit betrifft nicht nur den Charakter der politischen Kraft, die die Gunst der Stunde nutzt. Wäre das der Fall, dann müsste man nur lauter schreien, um die Stimmen von Mitte-Links und der Linken zu gewinnen. Vielmehr spiegelt sich darin die zunehmende echte Zaghaftigkeit der linken Mitte und ihrer politischen Plattform wider, die entkräftet wird durch die immensen Belastungen, die die Gesellschaft auf neurologischer Ebene beschädigt haben. Die Prekarität der Arbeit, der Rückzug des Staates aus der Versorgung seiner Bürger*innen, die Privatisierung der Freizeit, die Individualisierung der Bildung und andere Belastungen haben in ihrer Summe zu überwältigenden sozialen Problemen geführt (ganz zu schweigen von den Auswirkungen der Klimakatastrophe und der brutalen Kriege). Der politische Horizont großer Teile der linken Mitte hat sich auf das bloße Management dieser verfallenden Zivilisation reduziert (wie unser jüngstes Dossier What Can We Expect from the New Progressive Wave in Latin America? – «Was können wir von der neuen progressiven Welle in Lateinamerika erwarten?» – zeigt). Das anhaltende Versagen der Regierungen, die Probleme der Gesellschaft zu lösen, hat dazu geführt, dass die Politik selbst großen Teilen der Öffentlichkeit fremd geworden ist.
Zwei Generationen von Menschen sind in der Welt der Sparmaßnahmen aufgewachsen und wurden mit den Versprechungen von technokratischen Expert*innen, ihre soziale Lage durch neoliberales Wirtschaftswachstum zu verbessern, für dumm verkauft. Warum sollten sie einer Expertin glauben, die jetzt vor dem wirtschaftlichen Kannibalismus warnt, den die extreme Rechte propagiert? Außerdem haben die Aushöhlung der Bildungssysteme und die Reduzierung der Massenmedien auf einen Gladiatorenkampf dazu geführt, dass es nur noch wenige Möglichkeiten für eine ernsthafte öffentliche Diskussion über die Probleme unserer Gesellschaften und die zu ihrer Bewältigung erforderlichen Lösungen gibt. Alles kann versprochen werden, alles kann umgesetzt werden, und selbst wenn neoliberale Agenden katastrophale Folgen haben – wie bei Modis Demonetisierungsprogramm in Indien – werden sie als Erfolg angepriesen und ihre Federführer*innen gefeiert.
Der Neoliberalismus hat nicht nur die prekäre Lage der globalen Mehrheit verschärft, sondern auch das Gefühl des Anti-Intellektualismus (der Tod des Experten und des Fachwissens) und der Antidemokratisierung (der Tod der ernsthaften, demokratischen öffentlichen Bildung und Diskussion). Vor diesem Hintergrund ist Mileis Triumph weniger auf ihn selbst zurückzuführen als vielmehr das Ergebnis eines umfassenderen gesellschaftlichen Prozesses, der nicht nur in Argentinien, sondern auf der ganzen Welt zu beobachten ist.
Säulen des Neoliberalismus wie Privatisierung und Kommerzialisierung staatlicher Funktionen schufen die sozialen Bedingungen für die Entstehung von zwei Problemen: Korruption und Kriminalität. Die Deregulierung privater Unternehmen und die Privatisierung staatlicher Funktionen haben die Verflechtung zwischen der politischen Klasse und der Kapitalistenklasse vertieft. Die Vergabe von Staatsaufträgen an private Unternehmen und der Abbau von Vorschriften haben beispielsweise Bestechungsgeldern, Schmiergeldern und Transferzahlungen enormen Auftrieb gegeben. Gleichzeitig haben die zunehmende Prekarität des Lebens und die Aushöhlung der Sozialleistungen zu einem Anstieg der Kleinkriminalität geführt, unter anderem durch den Drogenhandel (wie ein Tricontinental-Forschungsprojekt über den Krieg gegen Drogen und die Abhängigkeiten des Imperialismus zeigt, das bald Ergebnisse bringen wird).
Die extreme Rechte hat sich auf diese Probleme fixiert, nicht um die Wurzeln des Problems anzugehen, sondern um zwei Ergebnisse zu erzielen:
- Indem sie die Korruption von Staatsbeamt*innen, nicht aber von kapitalistischen Unternehmen angreift, ist es der extremen Rechten gelungen, die Rolle des Staates als Garant sozialer Rechte weiter zu delegitimieren.
- Unter Ausnutzung des allgemeinen sozialen Unbehagens im Zusammenhang mit der Kleinkriminalität hat die extreme Rechte alle Instrumente des Staates eingesetzt, die sie sonst ablehnt, um die Gemeinschaften der Armen anzugreifen, sie unter dem Deckmantel der Verbrechensbekämpfung zu besetzen und sie jeglicher Selbstvertretung zu berauben. Dieser Angriff richtet sich gegen alle, die der Arbeiterklasse und den Armen eine Stimme geben, von Journalist*innen bis zu Menschenrechtsverteidiger*innen, von linken Politiker*innen bis zu lokalen Anführer*innen.
Die irreführende Darstellung und Instrumentalisierung von Korruption und Kriminalität durch die extreme Rechte hat die Linke stark benachteiligt. In diesen Fragen hat die extreme Rechte eine enge Verbindung zur alten Sozialdemokratie und zum traditionellen Liberalismus, die im Allgemeinen den Inhalt der rechtsextremen Agenda akzeptieren und nur deren dreistes Vorgehen ablehnen. Das führt dazu, dass die Linke in diesen zentralen Kämpfen nur wenige politische Verbündete hat und gezwungen ist, die Staatsform trotz der Korruption zu verteidigen, die durch die neoliberale Politik endemisch geworden ist. Gleichzeitig muss die Linke weiterhin die Arbeiterklasse vor staatlicher Repression schützen, trotz der realen Probleme von Kriminalität und Unsicherheit, mit denen die Arbeiterklasse aufgrund des Zusammenbruchs von Beschäftigung und Sozialhilfe konfrontiert ist. Die vorherrschende Debatte dreht sich um die oberflächlichen Erscheinungen von Korruption und Kriminalität und lässt es nicht zu, die neoliberalen Wurzeln dieser Probleme tiefer zu ergründen.
Als die Wahlergebnisse aus Argentinien eintrafen, bat ich unsere Kolleg*innen in Buenos Aires und La Plata, mir einige Lieder zu schicken, die die aktuelle Stimmung einfangen. In der Zwischenzeit vergrub ich mich in argentinische Poesie über Verlust und Niederlage, vor allem in das Werk von Juana Bignozzi (1937–2015). Das war jedoch nicht die Stimmung, die sie in diesem Newsletter zum Ausdruck bringen wollten. Sie wollten etwas Robustes, etwas, das die Beherztheit widerspiegelt, mit der die Linke auf unsere aktuelle Situation reagieren muss. Diese Stimmung wird von dem Rapper Trueno (geb. 2002) und dem Sänger Víctor Heredia (geb. 1947) eingefangen, die generationen- und genreübergreifend den bewegenden Song Tierra Zanta («Heilige Erde») und ein ebenso bewegendes Video produzierten. Somit also, aus Argentinien:
Ich bin auf die Welt gekommen, um mein Land zu verteidigen.
Ich bin der friedliche Retter im Krieg.
Ich werde kämpfend sterben, standhaft wie ein Venezolaner.
Ich bin Atacama, Guaraní, Coya, Barí und Tucáno.
Wenn sie das Land auf mich werfen wollen, werden wir es hochheben.
Wir Indianer haben mit unseren Händen Reiche gebaut.
Hasst du die Zukunft? Ich komme mit meinen Brüdern und Schwestern
wir haben verschiedenen Eltern, aber das trennt uns nicht.
Ich bin das Feuer der Karibik und eine peruanische Kriegerin.
Ich danke Brasilien für die Luft, die wir atmen.
Manchmal verliere ich, manchmal gewinne ich.
Aber es ist nicht vergebens, für das Land zu sterben, das ich liebe.
Und wenn Außenstehende mich fragen, wie ich heiße,
mein Vorname ist «Latein» und mein Nachname «Amerika».
Herzlichst,
Vijay