Der gefährlich attraktive Stil der extremen Rechten. 

Der achtundvierzigste Newsletter (2023)

Emilio Pettor­uti (Argen­ti­nien), Arle­quín, 1928.

Liebe Freund*innen,

 

Grüße aus dem Büro von Tricon­ti­nen­tal: Insti­tute for Social Rese­arch.

 

Vor seinem Sieg bei den argen­ti­ni­schen Präsi­dent­schafts­wah­len am 19. Novem­ber verbrei­tete Javier Milei ein Video, das ihn vor einer Reihe weißer Tafeln zeigte. Auf einer dieser Tafeln waren die Namen verschie­de­ner staat­li­cher Insti­tu­tio­nen zu sehen, wie z. B. die Minis­te­rien für Gesund­heit, Bildung, Frauen und Geschlech­ter­viel­falt, öffent­li­che Arbei­ten und Kultur, die alle als typi­sche Elemente eines moder­nen Staats­pro­jekts gelten. Milei ging an der Tafel entlang und riss die Namen dieser und ande­rer Minis­te­rien ab, während er afuera! («Raus!») rief und erklärte, dass er sie im Falle seiner Wahl zum Präsi­den­ten abschaf­fen würde. Milei schwor, den Staat nicht nur zu verklei­nern, sondern das System zu «spren­gen», und trat bei Wahl­kampf­ver­an­stal­tun­gen oft mit einer Ketten­säge in der Hand auf.

 

Die Reak­tion auf das virale Video von Milei und andere derar­tige Stunts war ebenso pola­ri­siert wie die argen­ti­ni­sche Wähler­schaft. Die eine Hälfte der Bevöl­ke­rung hielt Mileis Agenda für Wahn­sinn, für das Zeichen einer extre­men Rech­ten, die keinen Bezug zur Reali­tät und Ratio­na­li­tät hat. Die andere Hälfte war der Meinung, dass Milei genau die Art von Kühn­heit an den Tag legte, die erfor­der­lich ist, um ein Land zu verän­dern, das in Armut und einer explo­die­ren­den Infla­tion versinkt. Milei hat die Wahl nicht nur gewon­nen, er hat sie sogar mit Leich­tig­keit gewon­nen, weil er den Finanz­mi­nis­ter der schei­den­den Regie­rung, Sergio Massa, besiegte, dessen fade, zentris­ti­sche Stabi­li­täts­ver­spre­chen bei einer Bevöl­ke­rung, die seit Jahr­zehn­ten mit Insta­bi­li­tät lebt, nicht gut ankamen.

 

Mileis Vorschläge zur Lösung der Abwärts­spi­rale der argen­ti­ni­schen Wirt­schaft sind weder singu­lär, noch sind sie prak­ti­ka­bel. Die Dolla­ri­sie­rung der Wirt­schaft, die Priva­ti­sie­rung staat­li­cher Funk­tio­nen und die Unter­drü­ckung von Arbeit­neh­mer­or­ga­ni­sa­tio­nen sind Säulen der neoli­be­ra­len Spar­po­li­tik, die die Welt in den letz­ten Jahr­zehn­ten geplagt hat. Über diese oder jene Mass­nah­men zu debat­tie­ren, verfehlt das Wesent­li­che am Aufstieg der extre­men Rech­ten in der ganzen Welt. Es kommt nicht so sehr darauf an, was sie sagen, was sie tun wollen, um die Probleme der Welt zu lösen, sondern wie sie es sagen. Mit ande­ren Worten: Politiker*innen wie Milei (oder der ehema­lige brasi­lia­ni­sche Präsi­dent Jair Bolso­n­aro, Indi­ens Premier­mi­nis­ter Naren­dra Modi und der ehema­lige US-Präsi­dent Donald Trump) sind nicht wegen ihrer poli­ti­schen Vorschläge attrak­tiv, sondern wegen ihres Stils – der Stil der extre­men Rech­ten. Leute wie Milei verspre­chen, die Insti­tu­tio­nen des Landes an der Gurgel zu packen und sie zu Lösun­gen zu zwin­gen. Ihre Kühn­heit lässt die Gesell­schaft aufschre­cken, ein Schock, der als Plan für die Zukunft ausge­ge­ben wird.

Fátima Pecci Carou (Argen­ti­nien), Evita Ninja, 2020.

Es gab eine Zeit, in der sich die allge­meine Stim­mung der inter­na­tio­na­len Mittel­schicht auf die Gewähr­leis­tung von Bequem­lich­keit konzen­trierte: Sie hasste die Unan­nehm­lich­kei­ten, in Staus und Warte­schlan­gen fest­zu­ste­cken, ihre Kinder nicht auf die Schule ihrer Wahl schi­cken zu können und nicht in der Lage zu sein, – wenn auch auf Kredit – die Konsum­gü­ter zu kaufen, die ihnen das Gefühl gaben, kultu­rell über­le­gen zu sein, sowohl unter­ein­an­der als auch gegen­über der Arbei­ter­klasse. Wäre die Mittel­schicht nicht betrof­fen, würde sich diese Klasse – die die Wähler­schaft der meis­ten libe­ra­len Demo­kra­tien prägt – mit Stabi­li­täts­ver­spre­chen zufrie­den geben. Wenn aber das gesamte System durch die eine oder andere Unan­nehm­lich­keit erschüt­tert wird – wie die Infla­tion, die in Argen­ti­nien zu Beginn der Wahlen im Okto­ber 142,7 % betrug –, dann hat die Zusi­che­rung von Stabi­li­tät wenig Gewicht. Die poli­ti­schen Kräfte der Mitte, wie die des Gegners von Milei, sind in der Gewohn­heit gefan­gen, von Stabi­li­tät zu spre­chen, während ihr Land brennt. Sie verspre­chen kaum mehr als eine schritt­weise Zerstö­rung. In diesem Zusam­men­hang ist Zaghaf­tig­keit nicht immer attrak­tiv für die Mittel­schicht, ganz zu schwei­gen von Arbeiter*innen und Bäuer*innen, die eine mutige Vision brau­chen und nicht auf milde Lebens­hal­tungs­kos­ten­er­hö­hun­gen und Steu­er­erleich­te­run­gen für Groß­un­ter­neh­men fixiert sind.

 

Diese Zaghaf­tig­keit betrifft nicht nur den Charak­ter der poli­ti­schen Kraft, die die Gunst der Stunde nutzt. Wäre das der Fall, dann müsste man nur lauter schreien, um die Stim­men von Mitte-Links und der Linken zu gewin­nen. Viel­mehr spie­gelt sich darin die zuneh­mende echte Zaghaf­tig­keit der linken Mitte und ihrer poli­ti­schen Platt­form wider, die entkräf­tet wird durch die immensen Belas­tun­gen, die die Gesell­schaft auf neuro­lo­gi­scher Ebene beschä­digt haben. Die Preka­ri­tät der Arbeit, der Rück­zug des Staa­tes aus der Versor­gung seiner Bürger*innen, die Priva­ti­sie­rung der Frei­zeit, die Indi­vi­dua­li­sie­rung der Bildung und andere Belas­tun­gen haben in ihrer Summe zu über­wäl­ti­gen­den sozia­len Proble­men geführt (ganz zu schwei­gen von den Auswir­kun­gen der Klima­ka­ta­stro­phe und der bruta­len Kriege). Der poli­ti­sche Hori­zont großer Teile der linken Mitte hat sich auf das bloße Manage­ment dieser verfal­len­den Zivi­li­sa­tion redu­ziert (wie unser jüngs­tes Dossier What Can We Expect from the New Progres­sive Wave in Latin America? – «Was können wir von der neuen progres­si­ven Welle in Latein­ame­rika erwar­ten?» – zeigt). Das anhal­tende Versa­gen der Regie­run­gen, die Probleme der Gesell­schaft zu lösen, hat dazu geführt, dass die Poli­tik selbst großen Teilen der Öffent­lich­keit fremd gewor­den ist.

 

Zwei Gene­ra­tio­nen von Menschen sind in der Welt der Spar­maß­nah­men aufge­wach­sen und wurden mit den Verspre­chun­gen von tech­no­kra­ti­schen Expert*innen, ihre soziale Lage durch neoli­be­ra­les Wirt­schafts­wachs­tum zu verbes­sern, für dumm verkauft. Warum soll­ten sie einer Exper­tin glau­ben, die jetzt vor dem wirt­schaft­li­chen Kanni­ba­lis­mus warnt, den die extreme Rechte propa­giert? Außer­dem haben die Aushöh­lung der Bildungs­sys­teme und die Redu­zie­rung der Massen­me­dien auf einen Gladia­to­ren­kampf dazu geführt, dass es nur noch wenige Möglich­kei­ten für eine ernst­hafte öffent­li­che Diskus­sion über die Probleme unse­rer Gesell­schaf­ten und die zu ihrer Bewäl­ti­gung erfor­der­li­chen Lösun­gen gibt. Alles kann verspro­chen werden, alles kann umge­setzt werden, und selbst wenn neoli­be­rale Agen­den kata­stro­phale Folgen haben – wie bei Modis Demo­ne­ti­sie­rungs­pro­gramm in Indien – werden sie als Erfolg ange­prie­sen und ihre Federführer*innen gefeiert.

 

Der Neoli­be­ra­lis­mus hat nicht nur die prekäre Lage der globa­len Mehr­heit verschärft, sondern auch das Gefühl des Anti-Intel­lek­tua­lis­mus (der Tod des Exper­ten und des Fach­wis­sens) und der Anti­de­mo­kra­ti­sie­rung (der Tod der ernst­haf­ten, demo­kra­ti­schen öffent­li­chen Bildung und Diskus­sion). Vor diesem Hinter­grund ist Mileis Triumph weni­ger auf ihn selbst zurück­zu­füh­ren als viel­mehr das Ergeb­nis eines umfas­sen­de­ren gesell­schaft­li­chen Prozes­ses, der nicht nur in Argen­ti­nien, sondern auf der ganzen Welt zu beob­ach­ten ist.

Raquel Forner (Argen­ti­nien), Muje­res del Mundo, 1938.

Säulen des Neoli­be­ra­lis­mus wie Priva­ti­sie­rung und Kommer­zia­li­sie­rung staat­li­cher Funk­tio­nen schu­fen die sozia­len Bedin­gun­gen für die Entste­hung von zwei Proble­men: Korrup­tion und Krimi­na­li­tät. Die Dere­gu­lie­rung priva­ter Unter­neh­men und die Priva­ti­sie­rung staat­li­cher Funk­tio­nen haben die Verflech­tung zwischen der poli­ti­schen Klasse und der Kapi­ta­lis­ten­klasse vertieft. Die Vergabe von Staats­auf­trä­gen an private Unter­neh­men und der Abbau von Vorschrif­ten haben beispiels­weise Bestechungs­gel­dern, Schmier­gel­dern und Trans­fer­zah­lun­gen enor­men Auftrieb gege­ben. Gleich­zei­tig haben die zuneh­mende Preka­ri­tät des Lebens und die Aushöh­lung der Sozi­al­leis­tun­gen zu einem Anstieg der Klein­kri­mi­na­li­tät geführt, unter ande­rem durch den Drogen­han­del (wie ein Tricon­ti­nen­tal-Forschungs­pro­jekt über den Krieg gegen Drogen und die Abhän­gig­kei­ten des Impe­ria­lis­mus zeigt, das bald Ergeb­nisse brin­gen wird).

 

Die extreme Rechte hat sich auf diese Probleme fixiert, nicht um die Wurzeln des Problems anzu­ge­hen, sondern um zwei Ergeb­nisse zu erzielen:

 

      1. Indem sie die Korrup­tion von Staatsbeamt*innen, nicht aber von kapi­ta­lis­ti­schen Unter­neh­men angreift, ist es der extre­men Rech­ten gelun­gen, die Rolle des Staa­tes als Garant sozia­ler Rechte weiter zu delegitimieren.
      2. Unter Ausnut­zung des allge­mei­nen sozia­len Unbe­ha­gens im Zusam­men­hang mit der Klein­kri­mi­na­li­tät hat die extreme Rechte alle Instru­mente des Staa­tes einge­setzt, die sie sonst ablehnt, um die Gemein­schaf­ten der Armen anzu­grei­fen, sie unter dem Deck­man­tel der Verbre­chens­be­kämp­fung zu beset­zen und sie jegli­cher Selbst­ver­tre­tung zu berau­ben. Dieser Angriff rich­tet sich gegen alle, die der Arbei­ter­klasse und den Armen eine Stimme geben, von Journalist*innen bis zu Menschenrechtsverteidiger*innen, von linken Politiker*innen bis zu loka­len Anführer*innen.

Die irre­füh­rende Darstel­lung und Instru­men­ta­li­sie­rung von Korrup­tion und Krimi­na­li­tät durch die extreme Rechte hat die Linke stark benach­tei­ligt. In diesen Fragen hat die extreme Rechte eine enge Verbin­dung zur alten Sozi­al­de­mo­kra­tie und zum tradi­tio­nel­len Libe­ra­lis­mus, die im Allge­mei­nen den Inhalt der rechts­extre­men Agenda akzep­tie­ren und nur deren dreis­tes Vorge­hen ableh­nen. Das führt dazu, dass die Linke in diesen zentra­len Kämp­fen nur wenige poli­ti­sche Verbün­dete hat und gezwun­gen ist, die Staats­form trotz der Korrup­tion zu vertei­di­gen, die durch die neoli­be­rale Poli­tik ende­misch gewor­den ist. Gleich­zei­tig muss die Linke weiter­hin die Arbei­ter­klasse vor staat­li­cher Repres­sion schüt­zen, trotz der realen Probleme von Krimi­na­li­tät und Unsi­cher­heit, mit denen die Arbei­ter­klasse aufgrund des Zusam­men­bruchs von Beschäf­ti­gung und Sozi­al­hilfe konfron­tiert ist. Die vorherr­schende Debatte dreht sich um die ober­fläch­li­chen Erschei­nun­gen von Korrup­tion und Krimi­na­li­tät und lässt es nicht zu, die neoli­be­ra­len Wurzeln dieser Probleme tiefer zu ergründen.

Diana Dowek (Argen­ti­nien), Las madres, 1983.

Als die Wahl­er­geb­nisse aus Argen­ti­nien eintra­fen, bat ich unsere Kolleg*innen in Buenos Aires und La Plata, mir einige Lieder zu schi­cken, die die aktu­elle Stim­mung einfan­gen. In der Zwischen­zeit vergrub ich mich in argen­ti­ni­sche Poesie über Verlust und Nieder­lage, vor allem in das Werk von Juana Bignozzi (1937–2015). Das war jedoch nicht die Stim­mung, die sie in diesem News­let­ter zum Ausdruck brin­gen woll­ten. Sie woll­ten etwas Robus­tes, etwas, das die Beherzt­heit wider­spie­gelt, mit der die Linke auf unsere aktu­elle Situa­tion reagie­ren muss. Diese Stim­mung wird von dem Rapper Trueno (geb. 2002) und dem Sänger Víctor Here­dia (geb. 1947) einge­fan­gen, die gene­ra­tio­nen- und genre­über­grei­fend den bewe­gen­den Song Tierra Zanta («Heilige Erde») und ein ebenso bewe­gen­des Video produ­zier­ten. Somit also, aus Argentinien:

 

Ich bin auf die Welt gekom­men, um mein Land zu verteidigen.

Ich bin der fried­li­che Retter im Krieg.

Ich werde kämp­fend ster­ben, stand­haft wie ein Venezolaner.

Ich bin Atacama, Guaraní, Coya, Barí und Tucáno.

Wenn sie das Land auf mich werfen wollen, werden wir es hochheben.

 

Wir India­ner haben mit unse­ren Händen Reiche gebaut.

Hasst du die Zukunft? Ich komme mit meinen Brüdern und Schwestern

wir haben verschie­de­nen Eltern, aber das trennt uns nicht.

Ich bin das Feuer der Kari­bik und eine perua­ni­sche Kriegerin.

Ich danke Brasi­lien für die Luft, die wir atmen.

 

Manch­mal verliere ich, manch­mal gewinne ich.

Aber es ist nicht verge­bens, für das Land zu ster­ben, das ich liebe.

Und wenn Außen­ste­hende mich fragen, wie ich heiße,

mein Vorname ist «Latein» und mein Nach­name «Amerika».



Herz­lichst,

 

Vijay

 
 
Aus dem Engli­schen von Claire Louise Blaser.