Wir müssen auf unserem eigenen Boden stehen – der beste, um die Sterne zu ereichen.
Der achtundvierzigste Newsletter (2021).
Liebe Freund*innen,
Grüße aus dem Büro des Tricontinental: Institute for Social Research.
Fast jedes einzelne Kind auf diesem Planeten (über 80 %) wurde durch die Pandemie in seiner Bildung beeinträchtig, konstatiert die Organisation der Vereinten Nationen für Erziehung, Wissenschaft und Kultur (UNESCO). Auch wenn diese Erkenntnis erschreckend ist, war es sicherlich notwendig, Schulen zu schließen, als das infektiöse COVID-19-Virus die Gesellschaft erschütterte. Wie hat sich diese Entscheidung auf die Bildung ausgewirkt? Im Jahr 2017 – also vor der Pandemie – hatten mindestens 840 Millionen Menschen keinen Zugang zu Elektrizität, was bedeutete, dass für viele Kinder der Online-Unterricht unmöglich war. Ein Drittel der Weltbevölkerung (2,6 Milliarden Menschen) hat keinen Zugang zum Internet, was – selbst wenn sie Strom hätten – Online-Unterricht unmöglich macht. Bei näherer Betrachtung stellt man fest, dass die Quote derjenigen, die keinen Zugang zu den für das Online-Lernen erforderlichen Geräten wie Computern und Smartphones haben, sogar noch höher ist: Zwei Milliarden Menschen sind ohne beides. Die Schulschließungen haben also dazu geführt, dass Hunderte Millionen Kinder auf der ganzen Welt fast zwei Jahre lang keine Schule besuchen konnten.
Makrodaten wie diese sind zwar beeindruckend, aber irreführend. Der Großteil der Menschen ohne Strom und Internet lebt in Teilen Afrikas, Asiens und Lateinamerikas. Vor der Pandemie hatte beispielsweise eines von fünf Kindern in Afrika südlich der Sahara, in Westasien und Südasien noch nie einen Grundschulzimmer betreten. In Nordafrika und Westasien hatte eines von drei Mädchen keinen Zugang zu Bildung, verglichen mit einem von fünfundzwanzig Jungen. Prognosen zeigen, dass eines von vier Kindern in Südasien (geschätzte Bevölkerungszahl: 2 Milliarden) sowie eines von fünf Kindern in Afrika (geschätzte Bevölkerungszahl: 1,2 Milliarden) und Westasien (geschätzte Bevölkerungszahl: 300 Millionen) wahrscheinlich überhaupt nicht zur Schule gehen wird. Studien über das Leseniveau von Kindern unter zehn Jahren schärfen unseren Sinn für diese Ungleichheiten: In Ländern mit niedrigem und mittlerem Einkommen können 53 % der Kinder am Ende der Grundschule keine einfache Geschichte lesen und verstehen, während diese Zahl in armen Ländern auf 80 % ansteigt (in Ländern mit hohem Einkommen sind es nur 9 %).
Die geografische Verteilung der Länder mit niedrigem und hohem Einkommen belegt die alten, immer noch gleichen Unterschiede. Dies war das Hauptthema unseres Dossiers Nr. 43 (CoronaShock and Education in Brazil: One and a Half Years Later, August 2021), zusammengefasst in diesen sieben Thesen zur Gegenwart und Zukunft von Bildung in Brasilien. Diese regionalen und geschlechtsspezifischen Ungleichheiten bestanden bereits vor der Pandemie, wurden aber durch Lockdown-Maßnahmen noch verschärft.
Anzeichen für eine Verbesserung gibt es nicht. Anfang des Jahres stellten die Weltbank und die UNESCO fest, dass seit dem Ausbruch der COVID-19-Pandemie zwei Drittel der Entwicklungsländer ihre Bildungsbudgets gekürzt haben. Das ist katastrophal für große Teile der Welt, in denen Schüler*innen auf öffentliche Bildung angewiesen sind. Schon vor der Pandemie waren diese Unterschiede enorm: In Ländern mit hohem Einkommen gaben die Regierungen 8.501 US-Dollar pro schulpflichtigem Kind aus, während in ärmeren Ländern der Betrag nur 48 US-Dollar pro schulpflichtigem Kind betrug. Die negativen wirtschaftlichen Auswirkungen der Pandemie auf die Entwicklungsländer bedeuten, dass sich die Kluft weiter vergrößern wird und kaum Hoffnung auf Besserung besteht. Infolgedessen werden weniger Ressourcen zur Verfügung stehen, um die Kluft in den Bereichen Elektrizität, Digitaltechnik und Geräten zu überbrücken. So gibt es beispielsweise fast keine Mittel für den Aufbau von Leihbibliotheken für Smartphones und viel weniger Mittel, um Lehrer darin zu schulen, wie sie mit Schüler*innen umgehen sollen, die nach einer zweijährigen Pause in die Klassenzimmer zurückkehren. Da die Impfquoten in Ländern mit geringerem Einkommen nach wie vor niedrig sind, werden die Schließungen auf unbestimmte Zeit fortgesetzt, da sonst die Gefahr besteht, dass sich Infektionen in den Schulen ausbreiten.
Kürzlich veröffentlichte die indische Regierung ihren Jahresbericht über den Stand der Bildung 2021, aus dem hervorgeht, dass eine große Zahl von Kindern im vergangenen Jahr keine Schule besucht hat und weniger als ein Viertel Zugang zu Online-Bildung hatte. Da sich die wirtschaftliche Lage der Mittelklasse-Familien während der Pandemie verschlechterte, ging die Zahl der Einschulungen in Privatschulen zurück und stieg in öffentlichen Schulen an. Diese Verschiebung im Zuge der sinkenden staatlichen Ausgaben für die öffentliche Bildung wird zu einem verstärkten Druck auf die Schüler*innen und das Personal der öffentlichen Schulen, insbesondere die Lehrer*innen, führen.
Eine Studie des indischen Studierendenverbands (Students’ Federation of India, SFI) hat ergeben, dass sich diese Ungleichheiten auch in der Hochschulbildung fortsetzen. So wurde ein 50-prozentiges Geschlechtergefälle bei denjenigen festgestellt, die in Indien das Internet über ihr Mobiltelefon nutzen (21 % der Frauen gegenüber 42 % der Männer). In den Distrikten mit großen Stammesbevölkerungen haben nach Angaben der Regierung nur 3,47 % der Schulen Zugang zu Informations- und Kommunikationstechnologien. Erschwerend kommt hinzu, dass die Schließung von Universitätswohnheimen junge Frauen besonders hart trifft, da das Leben außerhalb des Elternhauses als Zuflucht vor der patriarchalen Erstickung in seinen vielfältigen Formen diente, einschließlich der frühen Heirat und dem Druck der Reproduktionsarbeit.
In Kerala, einem Bundesstaat in Südindien, der von der Linken Demokratischen Front (LDF) regiert wird und in dem die Bildungsquote bei 90 % liegt, gibt es dagegen einen Lichtblick. Die LDF-Regierung hat die Mittel für das Bildungswesen in diesem Bundesstaat aufgestockt und es den lokalen Selbstverwaltungen überlassen, wie sie diese Mittel ausgeben. Vor der Pandemie baute die LDF-Regierung von Kerala High-Tech-Klassenzimmer; als die Pandemie ausbrach, schuf sie die notwendige Infrastruktur, um Online-Lernen zu ermöglichen. Während der Pandemie besuchten mehr als 4,5 Millionen Schüler*innen die Schule nicht über Smartphones und Computer, sondern über First Bell, einen Fernsehsender, der von 8:30 bis 17:30 Uhr auf dem staatlichen Fernsehkanal Versatile ICT Enabled Resource for Students (VICTERS) ausgestrahlt wird. Für Familien ist es viel einfacher, Zugang zu einem Fernseher zu bekommen als zu teurer Digitaltechnik. Das Beispiel Kerala zeigt, was möglich ist, wenn sich die Bildung an den vorhandenen Möglichkeiten einer Gemeinschaft ausrichtet.
Beim Thema Bildung geht es nicht nur um Geräte und Klassenzimmer. Es geht darum, wie unterrichtet wird und was gelehrt wird (ein Punkt, den es anlässlich des hundertsten Geburtstags des großen Pädagogen Paulo Freire zu unterstreichen gilt; unser Dossier Nr. 34, Paulo Freire and Poupular Struggle in South Africa, ist seinem Vermächtnis gewidmet). Viele der Erfolge in Kerala sind die Folge einer sozialistischen Kultur, die an jedes Kind glaubt und der es wichtig ist, die Kulturen der Arbeiterklasse und der Landbevölkerung aufzuwerten, anstatt sie zu verunglimpfen.
Aus Brasilien wird berichtet, dass die Bewegung der landlosen Arbeiter*innen (MST) in den letzten siebenunddreißig Jahren mehr als 100.000 Menschen die Alphabetisierung ermöglicht hat. Die MST nutzt die Techniken von Freire und das kubanische Bildungsmodell Yo, Sí Puedo («Ja, ich kann»), das vom Pädagogischen Institut für Lateinamerika und die Karibik (IPLAC) entwickelt wurde. Dieses Modell wurde entwickelt, nachdem Fidel Castro im September 1960 versprochen hatte, die Alphabetisierungsrate auf 100 % zu bringen. Innerhalb von acht Monaten erreichte das Land durch die kubanische Alphabetisierungskampagne eine nahezu vollständige Alphabetisierung. Eine Viertelmillion Menschen, die Hälfte von ihnen unter achtzehn Jahren, meldeten sich freiwillig, um in ländlichen Gebieten nachts und an den Wochenenden die Fähigkeiten der Landarbeiter*innen mit Kreide und Tafeln zu verbessern. Sie nutzten das bereits vorhandene Wissen der Kubaner*innen und erweiterten es, indem sie ihnen Lesen und Schreiben beibrachten, anstatt sie als Analphabet*innen zu behandeln, denen man sagen muss, was sie tun sollen. Leonela Relys Diaz, eine der ersten jugendlichen Freiwilligen der Alphabetisierungskampagne, entwickelte im Jahr 2000 den Lehrplan Yo, Sí Puedo. Das Programm verwendet voraufgezeichnete, kulturspezifische Videos sowie hoch motivierte und geschulte lokale Vermittler*innen, um das Selbstvertrauen und die Fähigkeiten der Menschen zu fördern. Dieses Programm wird seit 2003 auch in Venezuela eingesetzt, wo es dazu beigetragen hat, 1,48 Millionen Erwachsenen das Lesen und Schreiben beizubringen und so den Analphabetismus innerhalb von zwei Jahren auszurotten.
Während der Pandemie florieren sozialistische Projekte – wie die der LDF-Regierung in Kerala, die kubanischen Bildungsprogramme und die Alphabetisierungskampagne der MST – während andere Regierungen ihre Mittel für die Bildung kürzen. «Es ist immer Zeit zu lernen», sagt das MST-Alphabetisierungsprogramm, aber diese Redewendung ist längst nicht überall gebräuchlich.
Während der Pandemie beschloss die Universität von Nairobi in Kenia, ihren Fachbereich für Literatur zu schließen. Dieser Fachbereich leistete Pionierarbeit im Bereich der postkolonialen Studien, nachdem seine Dozent*innen das koloniale Englischdepartement umgestalteten und es den Wissenschaftler*innen und Lernenden ermöglichten, sich tief in die kenianische Kunst und Kultur einzuarbeiten, indem sie das Potenzial des afrikanischen Ideenreichtums nutzten. Einer der Architekten des neuen Fachbereichs war der Schriftsteller Ngũgĩ wa Thiong’o, der Kunst in das Arbeiterviertel Kibera brachte und die Ästhetik von Kibera in die Universität holte. Dafür wurde wa Thiong’o 1978 entlassen und inhaftiert. Als die Schließung der Fakultät bekannt wurde, schrieb er das Gedicht «IMF: Internationale Mitumba-Stiftung». Zwei Anmerkungen: Mitumba ist das Suaheli-Wort für «aus zweiter Hand» und wird hier verwendet, um den Internationalen Währungsfonds auf die Schippe zu nehmen; das Wort maTumbo bedeutet «Magen».
IMF: Internationale Mitumba-Stiftung
Zuerst haben sie uns ihre Zungen gegeben.
Wir sagten, das ist in Ordnung, wir können sie zu unseren machen.
Dann sagten sie, wir müssen unsere zuerst zerstören.
Und wir sagten, das ist in Ordnung, denn mit den ihren werden wir die Ersten.
die Ersten, die ihre Flugzeuge und Kriegsmaschinen kaufen.
die Ersten, die ihre Autos und Kleidung kaufen.
Die ersten Käufer des Besten, das sie aus unserem Besten machen.
Aber als wir sagten, wir könnten sie übertreffen
Indem wir das Beste aus unserem Besten machen
Unser Eigenes von unserem Eigenen
Sagten sie nein, ihr müsst von uns kaufen
Auch wenn ihr das Beste aus eurem Besten gemacht habt.
Jetzt zwingen sie uns, das Beste zu kaufen, das sie schon benutzt haben
Und als wir sagten, wir könnten uns wehren und unser eigenes machen
erinnerten sie uns daran, dass sie alle Geheimnisse unserer Waffen kennen.
Ja, sie zwingen uns, das Beste zu kaufen, das sie schon benutzt haben
Aus zweiter Hand, so nennen sie es.
Auf Suaheli heißen sie Mitumba.
Mitumba-Waffen.
Mitumba-Autos.
Mitumba-Kleidung.
Und jetzt diktiert der IMF Mitumba-Universitäten
Mitumba-Intellektuelle zu produzieren.
Sie verlangen, dass wir alle Abteilungen schließen
Die sagen
Wir müssen auf unserem eigenen Boden stehen,
Der Boden, von dem aus man die Sterne am besten erreichen kann.
Aber Mitumba-Politiker knien vor dem IMF,
der Internationalen Mitumba-Stiftung,
Und heulen
Ja, meine Herren
Wir, die neokolonialen Mimiker, melken das beste Bakschisch.
Die Mitumba-Kultur schafft einen großen maTumbo
Für einige wenige mit Mitumba-Mentalität.
Herzlichst,
Vijay