Wir müssen auf unserem eigenen Boden stehen – der beste, um die Sterne zu ereichen. 

Der achtundvierzigste Newsletter (2021).

Likbez (UdSSR), Tatar Liter­acy Club, 1935.

Liebe Freund*innen,

 

Grüße aus dem Büro des Tricon­ti­nen­tal: Insti­tute for Social Rese­arch.

 

Fast jedes einzelne Kind auf diesem Plane­ten (über 80 %) wurde durch die Pande­mie in seiner Bildung beein­träch­tig, konsta­tiert die Orga­ni­sa­tion der Verein­ten Natio­nen für Erzie­hung, Wissen­schaft und Kultur (UNESCO). Auch wenn diese Erkennt­nis erschre­ckend ist, war es sicher­lich notwen­dig, Schu­len zu schlie­ßen, als das infek­tiöse COVID-19-Virus die Gesell­schaft erschüt­terte. Wie hat sich diese Entschei­dung auf die Bildung ausge­wirkt? Im Jahr 2017 – also vor der Pande­mie – hatten mindes­tens 840 Millio­nen Menschen keinen Zugang zu Elek­tri­zi­tät, was bedeu­tete, dass für viele Kinder der Online-Unter­richt unmög­lich war. Ein Drit­tel der Welt­be­völ­ke­rung (2,6 Milli­ar­den Menschen) hat keinen Zugang zum Inter­net, was – selbst wenn sie Strom hätten – Online-Unter­richt unmög­lich macht. Bei nähe­rer Betrach­tung stellt man fest, dass die Quote derje­ni­gen, die keinen Zugang zu den für das Online-Lernen erfor­der­li­chen Gerä­ten wie Compu­tern und Smart­phones haben, sogar noch höher ist: Zwei Milli­ar­den Menschen sind ohne beides. Die Schul­schlie­ßun­gen haben also dazu geführt, dass Hunderte Millio­nen Kinder auf der ganzen Welt fast zwei Jahre lang keine Schule besu­chen konnten.

 

Makro­da­ten wie diese sind zwar beein­dru­ckend, aber irre­füh­rend. Der Groß­teil der Menschen ohne Strom und Inter­net lebt in Teilen Afri­kas, Asiens und Latein­ame­ri­kas. Vor der Pande­mie hatte beispiels­weise eines von fünf Kindern in Afrika südlich der Sahara, in West­asien und Südasien noch nie einen Grund­schul­zim­mer betre­ten. In Nord­afrika und West­asien hatte eines von drei Mädchen keinen Zugang zu Bildung, vergli­chen mit einem von fünf­und­zwan­zig Jungen. Progno­sen zeigen, dass eines von vier Kindern in Südasien (geschätzte Bevöl­ke­rungs­zahl: 2 Milli­ar­den) sowie eines von fünf Kindern in Afrika (geschätzte Bevöl­ke­rungs­zahl: 1,2 Milli­ar­den) und West­asien (geschätzte Bevöl­ke­rungs­zahl: 300 Millio­nen) wahr­schein­lich über­haupt nicht zur Schule gehen wird. Studien über das Lese­ni­veau von Kindern unter zehn Jahren schär­fen unse­ren Sinn für diese Ungleich­hei­ten: In Ländern mit nied­ri­gem und mitt­le­rem Einkom­men können 53 % der Kinder am Ende der Grund­schule keine einfa­che Geschichte lesen und verste­hen, während diese Zahl in armen Ländern auf 80 % ansteigt (in Ländern mit hohem Einkom­men sind es nur 9 %).


Die geogra­fi­sche Vertei­lung der Länder mit nied­ri­gem und hohem Einkom­men belegt die alten, immer noch glei­chen Unter­schiede. Dies war das Haupt­thema unse­res Dossiers Nr. 43 (Coro­naS­hock and Educa­tion in Brazil: One and a Half Years Later, August 2021), zusam­men­ge­fasst in diesen sieben Thesen zur Gegen­wart und Zukunft von Bildung in Brasi­lien. Diese regio­na­len und geschlechts­spe­zi­fi­schen Ungleich­hei­ten bestan­den bereits vor der Pande­mie, wurden aber durch Lock­down-Maßnah­men noch verschärft.

Aya Takano (Japan), Conve­ni­ence Store, 2016.

Anzei­chen für eine Verbes­se­rung gibt es nicht. Anfang des Jahres stell­ten die Welt­bank und die UNESCO fest, dass seit dem Ausbruch der COVID-19-Pande­mie zwei Drit­tel der Entwick­lungs­län­der ihre Bildungs­bud­gets gekürzt haben. Das ist kata­stro­phal für große Teile der Welt, in denen Schüler*innen auf öffent­li­che Bildung ange­wie­sen sind. Schon vor der Pande­mie waren diese Unter­schiede enorm: In Ländern mit hohem Einkom­men gaben die Regie­run­gen 8.501 US-Dollar pro schul­pflich­ti­gem Kind aus, während in ärme­ren Ländern der Betrag nur 48 US-Dollar pro schul­pflich­ti­gem Kind betrug. Die nega­ti­ven wirt­schaft­li­chen Auswir­kun­gen der Pande­mie auf die Entwick­lungs­län­der bedeu­ten, dass sich die Kluft weiter vergrö­ßern wird und kaum Hoff­nung auf Besse­rung besteht. Infol­ge­des­sen werden weni­ger Ressour­cen zur Verfü­gung stehen, um die Kluft in den Berei­chen Elek­tri­zi­tät, Digi­tal­tech­nik und Gerä­ten zu über­brü­cken. So gibt es beispiels­weise fast keine Mittel für den Aufbau von Leih­bi­blio­the­ken für Smart­phones und viel weni­ger Mittel, um Lehrer darin zu schu­len, wie sie mit Schüler*innen umge­hen sollen, die nach einer zwei­jäh­ri­gen Pause in die Klas­sen­zim­mer zurück­keh­ren. Da die Impf­quo­ten in Ländern mit gerin­ge­rem Einkom­men nach wie vor nied­rig sind, werden die Schlie­ßun­gen auf unbe­stimmte Zeit fort­ge­setzt, da sonst die Gefahr besteht, dass sich Infek­tio­nen in den Schu­len ausbreiten.

Mehdi Farha­dian (Iran), Cannons and Balle­ri­nas, 2018.

Kürz­lich veröf­fent­lichte die indi­sche Regie­rung ihren Jahres­be­richt über den Stand der Bildung 2021, aus dem hervor­geht, dass eine große Zahl von Kindern im vergan­ge­nen Jahr keine Schule besucht hat und weni­ger als ein Vier­tel Zugang zu Online-Bildung hatte. Da sich die wirt­schaft­li­che Lage der Mittel­klasse-Fami­lien während der Pande­mie verschlech­terte, ging die Zahl der Einschu­lun­gen in Privat­schu­len zurück und stieg in öffent­li­chen Schu­len an. Diese Verschie­bung im Zuge der sinken­den staat­li­chen Ausga­ben für die öffent­li­che Bildung wird zu einem verstärk­ten Druck auf die Schüler*innen und das Perso­nal der öffent­li­chen Schu­len, insbe­son­dere die Lehrer*innen, führen.

 

Eine Studie des indi­schen Studie­ren­den­ver­bands (Students’ Fede­ra­tion of India, SFI) hat erge­ben, dass sich diese Ungleich­hei­ten auch in der Hoch­schul­bil­dung fort­set­zen. So wurde ein 50-prozen­ti­ges Geschlech­ter­ge­fälle bei denje­ni­gen fest­ge­stellt, die in Indien das Inter­net über ihr Mobil­te­le­fon nutzen (21 % der Frauen gegen­über 42 % der Männer). In den Distrik­ten mit großen Stam­mes­be­völ­ke­run­gen haben nach Anga­ben der Regie­rung nur 3,47 % der Schu­len Zugang zu Infor­ma­ti­ons- und Kommu­ni­ka­ti­ons­tech­no­lo­gien. Erschwe­rend kommt hinzu, dass die Schlie­ßung von Univer­si­täts­wohn­hei­men junge Frauen beson­ders hart trifft, da das Leben außer­halb des Eltern­hau­ses als Zuflucht vor der patri­ar­cha­len Ersti­ckung in seinen viel­fäl­ti­gen Formen diente, einschließ­lich der frühen Heirat und dem Druck der Reproduktionsarbeit.

 

In Kerala, einem Bundes­staat in Südin­dien, der von der Linken Demo­kra­ti­schen Front (LDF) regiert wird und in dem die Bildungs­quote bei 90 % liegt, gibt es dage­gen einen Licht­blick. Die LDF-Regie­rung hat die Mittel für das Bildungs­we­sen in diesem Bundes­staat aufge­stockt und es den loka­len Selbst­ver­wal­tun­gen über­las­sen, wie sie diese Mittel ausge­ben. Vor der Pande­mie baute die LDF-Regie­rung von Kerala High-Tech-Klas­sen­zim­mer; als die Pande­mie ausbrach, schuf sie die notwen­dige Infra­struk­tur, um Online-Lernen zu ermög­li­chen. Während der Pande­mie besuch­ten mehr als 4,5 Millio­nen Schüler*innen die Schule nicht über Smart­phones und Compu­ter, sondern über First Bell, einen Fern­seh­sen­der, der von 8:30 bis 17:30 Uhr auf dem staat­li­chen Fern­seh­ka­nal Versa­tile ICT Enab­led Resource for Students (VICTERS) ausge­strahlt wird. Für Fami­lien ist es viel einfa­cher, Zugang zu einem Fern­se­her zu bekom­men als zu teurer Digi­tal­tech­nik. Das Beispiel Kerala zeigt, was möglich ist, wenn sich die Bildung an den vorhan­de­nen Möglich­kei­ten einer Gemein­schaft ausrichtet.


Beim Thema Bildung geht es nicht nur um Geräte und Klas­sen­zim­mer. Es geht darum, wie unter­rich­tet wird und was gelehrt wird (ein Punkt, den es anläss­lich des hunderts­ten Geburts­tags des großen Pädago­gen Paulo Freire zu unter­strei­chen gilt; unser Dossier Nr. 34, Paulo Freire and Poupu­lar Struggle in South Africa, ist seinem Vermächt­nis gewid­met). Viele der Erfolge in Kerala sind die Folge einer sozia­lis­ti­schen Kultur, die an jedes Kind glaubt und der es wich­tig ist, die Kultu­ren der Arbei­ter­klasse und der Land­be­völ­ke­rung aufzu­wer­ten, anstatt sie zu verunglimpfen.

Kuba­ni­sche Alpha­be­ti­sie­rungs­kam­pa­gne, 1961.

Aus Brasi­lien wird berich­tet, dass die Bewe­gung der land­lo­sen Arbeiter*innen (MST) in den letz­ten sieben­und­drei­ßig Jahren mehr als 100.000 Menschen die Alpha­be­ti­sie­rung ermög­licht hat. Die MST nutzt die Tech­ni­ken von Freire und das kuba­ni­sche Bildungs­mo­dell Yo, Sí Puedo («Ja, ich kann»), das vom Pädago­gi­schen Insti­tut für Latein­ame­rika und die Kari­bik (IPLAC) entwi­ckelt wurde. Dieses Modell wurde entwi­ckelt, nach­dem Fidel Castro im Septem­ber 1960 verspro­chen hatte, die Alpha­be­ti­sie­rungs­rate auf 100 % zu brin­gen. Inner­halb von acht Mona­ten erreichte das Land durch die kuba­ni­sche Alpha­be­ti­sie­rungs­kam­pa­gne eine nahezu voll­stän­dige Alpha­be­ti­sie­rung. Eine Vier­tel­mil­lion Menschen, die Hälfte von ihnen unter acht­zehn Jahren, melde­ten sich frei­wil­lig, um in länd­li­chen Gebie­ten nachts und an den Wochen­en­den die Fähig­kei­ten der Landarbeiter*innen mit Kreide und Tafeln zu verbes­sern. Sie nutz­ten das bereits vorhan­dene Wissen der Kubaner*innen und erwei­ter­ten es, indem sie ihnen Lesen und Schrei­ben beibrach­ten, anstatt sie als Analphabet*innen zu behan­deln, denen man sagen muss, was sie tun sollen. Leonela Relys Diaz, eine der ersten jugend­li­chen Frei­wil­li­gen der Alpha­be­ti­sie­rungs­kam­pa­gne, entwi­ckelte im Jahr 2000 den Lehr­plan Yo, Sí Puedo. Das Programm verwen­det vorauf­ge­zeich­nete, kultur­spe­zi­fi­sche Videos sowie hoch moti­vierte und geschulte lokale Vermittler*innen, um das Selbst­ver­trauen und die Fähig­kei­ten der Menschen zu fördern. Dieses Programm wird seit 2003 auch in Vene­zuela einge­setzt, wo es dazu beigetra­gen hat, 1,48 Millio­nen Erwach­se­nen das Lesen und Schrei­ben beizu­brin­gen und so den Analpha­be­tis­mus inner­halb von zwei Jahren auszurotten.

 

Während der Pande­mie florie­ren sozia­lis­ti­sche Projekte – wie die der LDF-Regie­rung in Kerala, die kuba­ni­schen Bildungs­pro­gramme und die Alpha­be­ti­sie­rungs­kam­pa­gne der MST – während andere Regie­run­gen ihre Mittel für die Bildung kürzen. «Es ist immer Zeit zu lernen», sagt das MST-Alpha­be­ti­sie­rungs­pro­gramm, aber diese Rede­wen­dung ist längst nicht über­all gebräuchlich.

Michael Armi­tage (Kenia), The Fourth Estate, 2017.

Während der Pande­mie beschloss die Univer­si­tät von Nairobi in Kenia, ihren Fach­be­reich für Lite­ra­tur zu schlie­ßen. Dieser Fach­be­reich leis­tete Pionier­ar­beit im Bereich der post­ko­lo­nia­len Studien, nach­dem seine Dozent*innen das kolo­niale Englisch­de­par­te­ment umge­stal­te­ten und es den Wissenschaftler*innen und Lernen­den ermög­lich­ten, sich tief in die kenia­ni­sche Kunst und Kultur einzu­ar­bei­ten, indem sie das Poten­zial des afri­ka­ni­schen Ideen­reich­tums nutz­ten. Einer der Archi­tek­ten des neuen Fach­be­reichs war der Schrift­stel­ler Ngũgĩ wa Thiong’o, der Kunst in das Arbei­ter­vier­tel Kibera brachte und die Ästhe­tik von Kibera in die Univer­si­tät holte. Dafür wurde wa Thiong’o 1978 entlas­sen und inhaf­tiert. Als die Schlie­ßung der Fakul­tät bekannt wurde, schrieb er das Gedicht «IMF: Inter­na­tio­nale Mitumba-Stif­tung». Zwei Anmer­kun­gen: Mitumba ist das Suaheli-Wort für «aus zwei­ter Hand» und wird hier verwen­det, um den Inter­na­tio­na­len Währungs­fonds auf die Schippe zu nehmen; das Wort maTumbo bedeu­tet «Magen».

 

IMF: Inter­na­tio­nale Mitumba-Stiftung

 

Zuerst haben sie uns ihre Zungen gegeben.

Wir sagten, das ist in Ordnung, wir können sie zu unse­ren machen.

Dann sagten sie, wir müssen unsere zuerst zerstören.

Und wir sagten, das ist in Ordnung, denn mit den ihren werden wir die Ersten.

die Ersten, die ihre Flug­zeuge und Kriegs­ma­schi­nen kaufen.

die Ersten, die ihre Autos und Klei­dung kaufen.

Die ersten Käufer des Besten, das sie aus unse­rem Besten machen.

Aber als wir sagten, wir könn­ten sie übertreffen

Indem wir das Beste aus unse­rem Besten machen

Unser Eige­nes von unse­rem Eigenen

Sagten sie nein, ihr müsst von uns kaufen

Auch wenn ihr das Beste aus eurem Besten gemacht habt.

Jetzt zwin­gen sie uns, das Beste zu kaufen, das sie schon benutzt haben

Und als wir sagten, wir könn­ten uns wehren und unser eige­nes machen

erin­ner­ten sie uns daran, dass sie alle Geheim­nisse unse­rer Waffen kennen.

Ja, sie zwin­gen uns, das Beste zu kaufen, das sie schon benutzt haben

Aus zwei­ter Hand, so nennen sie es.

Auf Suaheli heißen sie Mitumba.

Mitumba-Waffen.

Mitumba-Autos.

Mitumba-Klei­dung.

Und jetzt diktiert der IMF Mitumba-Universitäten

Mitumba-Intel­lek­tu­elle zu produzieren.

Sie verlan­gen, dass wir alle Abtei­lun­gen schließen

Die sagen

Wir müssen auf unse­rem eige­nen Boden stehen,

Der Boden, von dem aus man die Sterne am besten errei­chen kann.

 

Aber Mitumba-Poli­ti­ker knien vor dem IMF,

der Inter­na­tio­na­len Mitumba-Stiftung,

Und heulen

Ja, meine Herren

Wir, die neoko­lo­nia­len Mimi­ker, melken das beste Bakschisch.

Die Mitumba-Kultur schafft einen großen maTumbo

Für einige wenige mit Mitumba-Mentalität.

 

Herz­lichst,

Vijay

Aus dem Engli­schen von Claire Louise Blaser.