Eine neue Stimmung in der Welt wird der globalen Monroe-Doktrin ein Ende setzen. 

Der siebenundvierzigste Newsletter (2023)

Tagreed Darg­houth (Liba­non), aus der Serie The Tree Within, a Pales­ti­nian Olive Tree, 2018.

Liebe Freund*innen,

 

Grüße aus dem Büro von Tricon­ti­nen­tal: Insti­tute for Social Rese­arch.

 

Seit dem 7. Okto­ber fühlt sich jeder Tag wie ein inter­na­tio­na­ler Tag der Soli­da­ri­tät mit dem paläs­ti­nen­si­schen Volk an: Hundert­tau­sende versam­mel­ten sich in Istan­bul, eine Million in Jakarta und eine weitere Million in Afrika und Latein­ame­rika, um ein Ende des bruta­len Angriffs zu fordern, den Israel (mit dem Einver­ständ­nis der Verei­nig­ten Staa­ten) durch­führt. Es ist unmög­lich, den Über­blick zu behal­ten über das Ausmaß und die Anzahl der Proteste, die ihrer­seits poli­ti­sche Parteien und Regie­run­gen dazu zwin­gen, ihre Haltung zu Isra­els Angriff auf Paläs­tina zu recht­fer­ti­gen. Diese Massen­de­mons­tra­tio­nen haben drei Arten von Resul­ta­ten hervorgebracht:

 

    • Sie haben eine neue Gene­ra­tion nicht nur in den Pro-Paläs­tina-Akti­vits­mus hinein­ge­zo­gen, sondern in ihr auch ein Antikriegs‑, wenn nicht sogar Anti­im­pe­ria­lis­mus-Bewusst­sein aufkom­men lassen.
    • Sie haben eine neue Sparte von Aktivist*innen geschaf­fen, insbe­son­dere Gewerkschafter*innen, die inspi­riert wurden, den Trans­port von Waren nach und aus Israel zu stop­pen (auch in euro­päi­schen Ländern und in Indien, wo die Regie­run­gen Isra­els Angriffe unterstützen).
    • Sie haben einen poli­ti­schen Prozess in Gang gesetzt, der die Heuche­lei der vom Westen geführ­ten «regel­ba­sier­ten inter­na­tio­na­len Ordnung» in Frage stellt und fordert, dass der Inter­na­tio­nale Straf­ge­richts­hof den israe­li­schen Premier­mi­nis­ter Benja­min Netan­jahu und andere hoch­ran­gige israe­li­sche Regierungsvertreter*innen anklagt.

 

Kein Krieg der letz­ten Jahre – nicht einmal die «Shock and Awe»-Kampa­gne der Verei­nig­ten Staa­ten gegen den Irak im Jahr 2003 – war in seiner Gewalt­an­wen­dung so rück­sichts­los. Am entsetz­lichs­ten ist die Tatsa­che, dass die von der israe­li­schen Besat­zung einge­pferchte Zivil­be­völ­ke­rung dem schwe­ren Bombar­de­ment nicht entkom­men kann. Fast die Hälfte (mindes­tens 5800) der 14.000 ermor­de­ten Zivilist*innen sind Kinder. Keine noch so große israe­li­sche Propa­ganda konnte Milli­ar­den von Menschen auf der ganzen Welt davon über­zeu­gen, dass diese Gewalt eine gerechte Antwort auf den Angriff vom 7. Okto­ber ist. Die Bilder aus Gaza zeigen die Unver­hält­nis­mä­ßig­keit und Asym­me­trie der israe­li­schen Gewalt der letz­ten fünf­und­sieb­zig Jahre.

Vincent De Pio (Phil­ip­pi­nen), Back to the future, 2012.

Unter Milli­ar­den von Menschen im Globa­len Süden hat sich eine neue Stim­mung breit­ge­macht, die von Millio­nen Menschen im Globa­len Norden aufge­grif­fen wird, die die Haltung der führen­den US-ameri­ka­ni­schen Politiker*innen und ihrer west­li­chen Verbün­de­ten nicht mehr für bare Münze nehmen. Eine neue Studie des Euro­päi­schen Rats für Auswär­tige Bezie­hun­gen zeigt, dass «ein Groß­teil der rest­li­chen Welt sich wünscht, dass der Krieg in der Ukraine so schnell wie möglich been­det wird, selbst wenn dies bedeu­tet, dass Kiew Terri­to­rium verliert. Und nur sehr wenige Menschen – selbst in Europa – würden sich auf die Seite Washing­tons stel­len, wenn es zu einem Krieg zwischen den USA und China um Taiwan käme». Der Rat vermu­tet, dass dies auf den «Verlust des Vertrau­ens in den Westen als Ordnungs­macht in der Welt» zurück­zu­füh­ren ist. Genauer gesagt ist der größte Teil der Welt nicht mehr bereit, sich vom Westen einschüch­tern zu lassen (wie es Südafri­kas Außen­mi­nis­te­rin Naledi Pandor ausdrückte). In den letz­ten 200 Jahren hat die Monroe-Doktrin der US-Regie­rung maßgeb­lich zur Recht­fer­ti­gung dieser Art von Tyran­nei beigetra­gen. Zum besse­ren Verständ­nis der Bedeu­tung dieser Schlüs­sel­po­li­tik für die Aufrecht­erhal­tung der US-ameri­ka­ni­schen Vorherr­schaft in der Welt­ord­nung lest ihr im weite­ren Verlauf dieses News­let­ters das Brie­fing Nr. 11 von No Cold War, It Is Time to Bury the Monroe Doctrine («Es ist an der Zeit, die Monroe-Doktrin zu begra­ben»).

Belkis Ayón (Kuba), La cena, 1991.

1823 erklärte James Monroe, der dama­lige Präsi­dent der Verei­nig­ten Staa­ten, vor dem US-Kongress, dass sich seine Regie­rung gegen eine euro­päi­sche Einmi­schung in Amerika wehren würde. Damit meinte Monroe, dass Washing­ton von nun an Latein­ame­rika und die Kari­bik als seinen «Hinter­hof» betrach­ten würde, was durch eine als Monroe-Doktrin bekannte Poli­tik begrün­det wurde.

 

In den letz­ten 200 Jahren haben die USA auf dem ameri­ka­ni­schen Konti­nent in diesem Sinne gehan­delt, was sich in mehr als 100 mili­tä­ri­schen Inter­ven­tio­nen gegen Länder in der Region wider­spie­gelt. Seit dem Zusam­men­bruch der Sowjet­union im Jahr 1991 haben die USA und ihre Verbün­de­ten im Globa­len Norden versucht, diese Poli­tik zu einer globa­len Monroe-Doktrin auszu­wei­ten, wobei sie in West­asien am destruk­tivs­ten vorgingen.

Stiven­son Magloire (Haiti), Divi­ded Spirit, 1989.

Die Gewalt­tä­tig­keit der Monroe-Doktrin

 

Zwei Jahr­zehnte vor Monroes Prokla­ma­tion fand in Haiti die erste anti­ko­lo­niale Revo­lu­tion der Welt statt. Die haitia­ni­sche Revo­lu­tion von 1804 stellte eine ernst­hafte Bedro­hung für die Plan­ta­gen­wirt­schaft in Amerika dar, die auf versklavte Arbeits­kräfte aus Afrika ange­wie­sen war, und so setz­ten die USA alles daran, sie zu ersti­cken und ihre Ausbrei­tung zu verhin­dern. Durch US-Mili­tär­in­ter­ven­tio­nen in ganz Latein­ame­rika und der Kari­bik verhin­derte die Monroe-Doktrin das Entste­hen natio­na­ler Selbst­be­stim­mung und vertei­digte die Plan­ta­gen­skla­ve­rei und die Macht der Oligarchien.

 

Dennoch konn­ten der Geist und das Verspre­chen der haitia­ni­schen Revo­lu­tion nicht ausge­löscht werden, und 1959 wurde sie durch die kuba­ni­sche Revo­lu­tion neu entfacht, die ihrer­seits revo­lu­tio­näre Kämpfe in der ganzen Welt und vor allem im so genann­ten Hinter­hof der Verei­nig­ten Staa­ten inspi­rierte. Wieder einmal setz­ten die USA einen Kreis­lauf der Gewalt in Gang, um Kubas revo­lu­tio­nä­res Beispiel zu unter­gra­ben, zu verhin­dern, dass es andere inspi­riert, und jede Regie­rung in der Region zu stür­zen, die versuchte, ihre Souve­rä­ni­tät auszuüben.

 

Gemein­sam star­te­ten die US-ameri­ka­ni­schen und latein­ame­ri­ka­ni­schen Olig­ar­chien mehrere Kampa­gnen wie die Opera­tion Condor, um die Linke durch Ermor­dun­gen, Inhaf­tie­run­gen, Folter und Regime­wech­sel gewalt­sam zu unter­drü­cken. Diese Bemü­hun­gen gipfel­ten in einer Reihe von Putschen gegen linke Kräfte in der Domi­ni­ka­ni­schen Repu­blik (1965), Chile (1973), Uruguay (1973), Argen­ti­nien (1976) und El Salva­dor (1980). Die Mili­tär­re­gie­run­gen, die darauf­hin einge­setzt wurden, mach­ten die Souve­rä­ni­täts­agenda zunichte und setz­ten statt­des­sen ein neoli­be­ra­les Projekt durch. Latein­ame­rika und die Kari­bik wurden zu einem frucht­ba­ren Boden für eine Wirt­schafts­po­li­tik, die den trans­na­tio­na­len Mono­po­len unter Führung der USA zugute kam. Washing­ton koop­tierte große Teile der Bour­geoi­sie in der Region und verkaufte ihnen die Illu­sion, dass die natio­nale Entwick­lung mit dem Wachs­tum der US-Macht einher­ge­hen würde.

Oswaldo Vigas (Vene­zuela), Duende Rojo, 1979.

Progres­sive Wellen

 

Trotz dieser Unter­drü­ckung präg­ten Wellen von Volks­be­we­gun­gen die poli­ti­sche Kultur der Region. In den 1980er und 1990er Jahren stürz­ten solche Bewe­gun­gen Mili­tär­dik­ta­tu­ren, die durch die Opera­tion Condor errich­tet worden waren, und leite­ten dann eine Reihe fort­schritt­li­cher Regie­run­gen ein, die von den Revo­lu­tio­nen in Kuba und Nica­ra­gua inspi­riert und durch den Wahl­sieg von Hugo Chávez in Vene­zuela 1998 voran­ge­trie­ben wurden. Die Reak­tion der USA auf diesen fort­schritt­li­chen Aufschwung war erneut von der Monroe-Doktrin geprägt, da sie die Inter­es­sen des Privat­ei­gen­tums über die Bedürf­nisse der Massen stel­len woll­ten. Diese Konter­re­vo­lu­tion hat sich dreier Haupt­in­stru­mente bedient:

 

    1. Staats­strei­che. Seit 2000 haben die USA bei mindes­tens 27 Gele­gen­hei­ten versucht, «tradi­tio­nelle» Mili­tär­put­sche durch­zu­füh­ren, wobei einige dieser Versu­che erfolg­reich waren, wie in Hondu­ras (2009), während viele andere, wie in Vene­zuela (2002), scheiterten.

 

    1. Hybride Kriege. Neben dem Mili­tär­putsch haben die USA auch eine Reihe von Takti­ken entwi­ckelt, um Länder zu erdrü­cken, die versu­chen, ihre Souve­rä­ni­tät aufzu­bauen, z. B. Infor­ma­ti­ons­kriege, juris­ti­sche und diplo­ma­ti­sche Kriegs­füh­rung und Einmi­schung bei Wahlen. Zu dieser Stra­te­gie des hybri­den Krie­ges gehö­ren die Insze­nie­rung von Amts­ent­he­bungs­skan­da­len (z. B. gegen Para­gu­ays Fernando Lugo im Jahr 2012) und «Anti-Korruptions»-Maßnahmen (z. B. gegen Argen­ti­ni­ens Cris­tina Kirch­ner im Jahr 2021). In Brasi­lien arbei­te­ten die USA mit der brasi­lia­ni­schen Rech­ten zusam­men, um eine Anti-Korrup­ti­ons-Platt­form dazu zu brin­gen, die dama­lige Präsi­den­tin Dilma Rouss­eff 2016 zu entmach­ten und den ehema­li­gen Präsi­den­ten Luiz Inácio Lula da Silva 2018 zu inhaf­tie­ren, was 2018 zur Wahl des rechts­extre­men Jair Bolso­n­aro führte.

 

    1. Wirt­schafts­sank­tio­nen. Der Einsatz ille­ga­ler, einsei­ti­ger Zwangs­maß­nah­men — einschließ­lich Wirt­schafts­sank­tio­nen und Blocka­den — ist ein zentra­les Instru­ment der Monroe-Doktrin. Die USA setzen solche Instru­mente seit Jahr­zehn­ten ein (seit 1960 im Falle Kubas) und haben ihren Einsatz im 21. Jahr­hun­dert gegen Länder wie Vene­zuela ausge­wei­tet. Das Latein­ame­ri­ka­ni­sche Zentrum für Stra­te­gi­sche Geopo­li­tik (CELAG) zeigte, dass die US-Sank­tio­nen gegen Vene­zuela von 2013 bis 2017 zum Verlust von mehr als drei Millio­nen Arbeits­plät­zen führ­ten, während das Zentrum für Wirt­schafts- und Poli­tik­for­schung fest­stellte, dass die Sank­tio­nen die Kalo­rien­zu­fuhr der Bevöl­ke­rung verrin­ger­ten und zu einem Anstieg von Krank­hei­ten und Sterb­lich­keit führ­ten, wodurch in einem einzi­gen Jahr 40.000 Menschen star­ben und das Leben von 300.000 weite­ren gefähr­det wurde.
Maya Weis­hof (Brasi­lien), Between Talks and Myths, 2022.

Die Monroe-Doktrin beenden

 

Die Versu­che der USA, auf die Monroe-Doktrin gestützt die fort­schritt­li­che Poli­tik in Latein­ame­rika zu unter­gra­ben, waren nicht voll­kom­men erfolg­reich. Die Rück­kehr linker Regie­run­gen an die Macht in Boli­vien, Brasi­lien und Hondu­ras nach von den USA unter­stütz­ten rechts­ge­rich­te­ten Regi­men ist ein Zeichen dieses Miss­erfolgs. Ein weite­res Zeichen ist die Wider­stands­fä­hig­keit der kuba­ni­schen und vene­zo­la­ni­schen Revo­lu­tio­nen. Bislang haben die Bemü­hun­gen um eine Auswei­tung der Monroe-Doktrin in der ganzen Welt zwar immense Zerstö­rung ange­rich­tet, aber keine stabi­len Klien­ten­re­gime herbei­ge­bracht, wie wir beim Schei­tern der US-Projekte in Afgha­ni­stan und im Irak gese­hen haben. Dennoch lässt sich Washing­ton nicht entmu­ti­gen und hat seinen Schwer­punkt auf den asia­tisch-pazi­fi­schen Raum verla­gert, um China entgegenzuwirken.

 

Vor zwei­hun­dert Jahren besieg­ten die Trup­pen von Simón Bolí­var das spani­sche Impe­rium in der Schlacht von Cara­bobo 1821 und läute­ten damit eine Peri­ode der Unab­hän­gig­keit für Latein­ame­rika ein. Zwei Jahre später, 1823, verkün­dete die US-Regie­rung ihre Monroe-Doktrin. Die Dialek­tik zwischen Cara­bobo und Monroe prägt nach wie vor unsere Welt, und die Erin­ne­rung an Bolí­var erweckt die Hoff­nung auf, und den Kampf für, eine gerech­tere Gesellschaft.

Sheena Rose (Barba­dos), Agony, 2022.

Heute erstickt die Häss­lich­keit des Krie­ges gegen Gaza unser Bewusst­sein. Em Berry, eine Dich­te­rin aus Aote­aroa, Neusee­land, hat ein wunder­schö­nes Gedicht über den Namen Gaza und die Gräu­el­ta­ten geschrie­ben, die das Apart­heid-Israel seinem Volk zufügt:

 

Heute Morgen habe ich gelernt

Dass das engli­sche Wort gauze

(fein geweb­ter medi­zi­ni­scher Stoff)

von dem arabi­schen Wort غزة oder Ghazza stammt

weil die Menschen von Gaza seit Jahr­hun­der­ten geschickte Weber sind.

 

So fragte ich mich 

 

wie viele unse­rer Wunden

verbun­den worden sind

ihret­we­gen

 

und wie viele ihrer Wunden

offen gelas­sen worden sind

unse­ret­we­gen

 

Herz­lichst,

 

Vijay

 
 
Aus dem Engli­schen von Claire Louise Blaser.