Eine neue Stimmung in der Welt wird der globalen Monroe-Doktrin ein Ende setzen.
Der siebenundvierzigste Newsletter (2023)
Liebe Freund*innen,
Grüße aus dem Büro von Tricontinental: Institute for Social Research.
Seit dem 7. Oktober fühlt sich jeder Tag wie ein internationaler Tag der Solidarität mit dem palästinensischen Volk an: Hunderttausende versammelten sich in Istanbul, eine Million in Jakarta und eine weitere Million in Afrika und Lateinamerika, um ein Ende des brutalen Angriffs zu fordern, den Israel (mit dem Einverständnis der Vereinigten Staaten) durchführt. Es ist unmöglich, den Überblick zu behalten über das Ausmaß und die Anzahl der Proteste, die ihrerseits politische Parteien und Regierungen dazu zwingen, ihre Haltung zu Israels Angriff auf Palästina zu rechtfertigen. Diese Massendemonstrationen haben drei Arten von Resultaten hervorgebracht:
- Sie haben eine neue Generation nicht nur in den Pro-Palästina-Aktivitsmus hineingezogen, sondern in ihr auch ein Antikriegs‑, wenn nicht sogar Antiimperialismus-Bewusstsein aufkommen lassen.
- Sie haben eine neue Sparte von Aktivist*innen geschaffen, insbesondere Gewerkschafter*innen, die inspiriert wurden, den Transport von Waren nach und aus Israel zu stoppen (auch in europäischen Ländern und in Indien, wo die Regierungen Israels Angriffe unterstützen).
- Sie haben einen politischen Prozess in Gang gesetzt, der die Heuchelei der vom Westen geführten «regelbasierten internationalen Ordnung» in Frage stellt und fordert, dass der Internationale Strafgerichtshof den israelischen Premierminister Benjamin Netanjahu und andere hochrangige israelische Regierungsvertreter*innen anklagt.
Kein Krieg der letzten Jahre – nicht einmal die «Shock and Awe»-Kampagne der Vereinigten Staaten gegen den Irak im Jahr 2003 – war in seiner Gewaltanwendung so rücksichtslos. Am entsetzlichsten ist die Tatsache, dass die von der israelischen Besatzung eingepferchte Zivilbevölkerung dem schweren Bombardement nicht entkommen kann. Fast die Hälfte (mindestens 5800) der 14.000 ermordeten Zivilist*innen sind Kinder. Keine noch so große israelische Propaganda konnte Milliarden von Menschen auf der ganzen Welt davon überzeugen, dass diese Gewalt eine gerechte Antwort auf den Angriff vom 7. Oktober ist. Die Bilder aus Gaza zeigen die Unverhältnismäßigkeit und Asymmetrie der israelischen Gewalt der letzten fünfundsiebzig Jahre.
Unter Milliarden von Menschen im Globalen Süden hat sich eine neue Stimmung breitgemacht, die von Millionen Menschen im Globalen Norden aufgegriffen wird, die die Haltung der führenden US-amerikanischen Politiker*innen und ihrer westlichen Verbündeten nicht mehr für bare Münze nehmen. Eine neue Studie des Europäischen Rats für Auswärtige Beziehungen zeigt, dass «ein Großteil der restlichen Welt sich wünscht, dass der Krieg in der Ukraine so schnell wie möglich beendet wird, selbst wenn dies bedeutet, dass Kiew Territorium verliert. Und nur sehr wenige Menschen – selbst in Europa – würden sich auf die Seite Washingtons stellen, wenn es zu einem Krieg zwischen den USA und China um Taiwan käme». Der Rat vermutet, dass dies auf den «Verlust des Vertrauens in den Westen als Ordnungsmacht in der Welt» zurückzuführen ist. Genauer gesagt ist der größte Teil der Welt nicht mehr bereit, sich vom Westen einschüchtern zu lassen (wie es Südafrikas Außenministerin Naledi Pandor ausdrückte). In den letzten 200 Jahren hat die Monroe-Doktrin der US-Regierung maßgeblich zur Rechtfertigung dieser Art von Tyrannei beigetragen. Zum besseren Verständnis der Bedeutung dieser Schlüsselpolitik für die Aufrechterhaltung der US-amerikanischen Vorherrschaft in der Weltordnung lest ihr im weiteren Verlauf dieses Newsletters das Briefing Nr. 11 von No Cold War, It Is Time to Bury the Monroe Doctrine («Es ist an der Zeit, die Monroe-Doktrin zu begraben»).
1823 erklärte James Monroe, der damalige Präsident der Vereinigten Staaten, vor dem US-Kongress, dass sich seine Regierung gegen eine europäische Einmischung in Amerika wehren würde. Damit meinte Monroe, dass Washington von nun an Lateinamerika und die Karibik als seinen «Hinterhof» betrachten würde, was durch eine als Monroe-Doktrin bekannte Politik begründet wurde.
In den letzten 200 Jahren haben die USA auf dem amerikanischen Kontinent in diesem Sinne gehandelt, was sich in mehr als 100 militärischen Interventionen gegen Länder in der Region widerspiegelt. Seit dem Zusammenbruch der Sowjetunion im Jahr 1991 haben die USA und ihre Verbündeten im Globalen Norden versucht, diese Politik zu einer globalen Monroe-Doktrin auszuweiten, wobei sie in Westasien am destruktivsten vorgingen.
Die Gewalttätigkeit der Monroe-Doktrin
Zwei Jahrzehnte vor Monroes Proklamation fand in Haiti die erste antikoloniale Revolution der Welt statt. Die haitianische Revolution von 1804 stellte eine ernsthafte Bedrohung für die Plantagenwirtschaft in Amerika dar, die auf versklavte Arbeitskräfte aus Afrika angewiesen war, und so setzten die USA alles daran, sie zu ersticken und ihre Ausbreitung zu verhindern. Durch US-Militärinterventionen in ganz Lateinamerika und der Karibik verhinderte die Monroe-Doktrin das Entstehen nationaler Selbstbestimmung und verteidigte die Plantagensklaverei und die Macht der Oligarchien.
Dennoch konnten der Geist und das Versprechen der haitianischen Revolution nicht ausgelöscht werden, und 1959 wurde sie durch die kubanische Revolution neu entfacht, die ihrerseits revolutionäre Kämpfe in der ganzen Welt und vor allem im so genannten Hinterhof der Vereinigten Staaten inspirierte. Wieder einmal setzten die USA einen Kreislauf der Gewalt in Gang, um Kubas revolutionäres Beispiel zu untergraben, zu verhindern, dass es andere inspiriert, und jede Regierung in der Region zu stürzen, die versuchte, ihre Souveränität auszuüben.
Gemeinsam starteten die US-amerikanischen und lateinamerikanischen Oligarchien mehrere Kampagnen wie die Operation Condor, um die Linke durch Ermordungen, Inhaftierungen, Folter und Regimewechsel gewaltsam zu unterdrücken. Diese Bemühungen gipfelten in einer Reihe von Putschen gegen linke Kräfte in der Dominikanischen Republik (1965), Chile (1973), Uruguay (1973), Argentinien (1976) und El Salvador (1980). Die Militärregierungen, die daraufhin eingesetzt wurden, machten die Souveränitätsagenda zunichte und setzten stattdessen ein neoliberales Projekt durch. Lateinamerika und die Karibik wurden zu einem fruchtbaren Boden für eine Wirtschaftspolitik, die den transnationalen Monopolen unter Führung der USA zugute kam. Washington kooptierte große Teile der Bourgeoisie in der Region und verkaufte ihnen die Illusion, dass die nationale Entwicklung mit dem Wachstum der US-Macht einhergehen würde.
Progressive Wellen
Trotz dieser Unterdrückung prägten Wellen von Volksbewegungen die politische Kultur der Region. In den 1980er und 1990er Jahren stürzten solche Bewegungen Militärdiktaturen, die durch die Operation Condor errichtet worden waren, und leiteten dann eine Reihe fortschrittlicher Regierungen ein, die von den Revolutionen in Kuba und Nicaragua inspiriert und durch den Wahlsieg von Hugo Chávez in Venezuela 1998 vorangetrieben wurden. Die Reaktion der USA auf diesen fortschrittlichen Aufschwung war erneut von der Monroe-Doktrin geprägt, da sie die Interessen des Privateigentums über die Bedürfnisse der Massen stellen wollten. Diese Konterrevolution hat sich dreier Hauptinstrumente bedient:
- Hybride Kriege. Neben dem Militärputsch haben die USA auch eine Reihe von Taktiken entwickelt, um Länder zu erdrücken, die versuchen, ihre Souveränität aufzubauen, z. B. Informationskriege, juristische und diplomatische Kriegsführung und Einmischung bei Wahlen. Zu dieser Strategie des hybriden Krieges gehören die Inszenierung von Amtsenthebungsskandalen (z. B. gegen Paraguays Fernando Lugo im Jahr 2012) und «Anti-Korruptions»-Maßnahmen (z. B. gegen Argentiniens Cristina Kirchner im Jahr 2021). In Brasilien arbeiteten die USA mit der brasilianischen Rechten zusammen, um eine Anti-Korruptions-Plattform dazu zu bringen, die damalige Präsidentin Dilma Rousseff 2016 zu entmachten und den ehemaligen Präsidenten Luiz Inácio Lula da Silva 2018 zu inhaftieren, was 2018 zur Wahl des rechtsextremen Jair Bolsonaro führte.
- Wirtschaftssanktionen. Der Einsatz illegaler, einseitiger Zwangsmaßnahmen — einschließlich Wirtschaftssanktionen und Blockaden — ist ein zentrales Instrument der Monroe-Doktrin. Die USA setzen solche Instrumente seit Jahrzehnten ein (seit 1960 im Falle Kubas) und haben ihren Einsatz im 21. Jahrhundert gegen Länder wie Venezuela ausgeweitet. Das Lateinamerikanische Zentrum für Strategische Geopolitik (CELAG) zeigte, dass die US-Sanktionen gegen Venezuela von 2013 bis 2017 zum Verlust von mehr als drei Millionen Arbeitsplätzen führten, während das Zentrum für Wirtschafts- und Politikforschung feststellte, dass die Sanktionen die Kalorienzufuhr der Bevölkerung verringerten und zu einem Anstieg von Krankheiten und Sterblichkeit führten, wodurch in einem einzigen Jahr 40.000 Menschen starben und das Leben von 300.000 weiteren gefährdet wurde.
Die Monroe-Doktrin beenden
Die Versuche der USA, auf die Monroe-Doktrin gestützt die fortschrittliche Politik in Lateinamerika zu untergraben, waren nicht vollkommen erfolgreich. Die Rückkehr linker Regierungen an die Macht in Bolivien, Brasilien und Honduras nach von den USA unterstützten rechtsgerichteten Regimen ist ein Zeichen dieses Misserfolgs. Ein weiteres Zeichen ist die Widerstandsfähigkeit der kubanischen und venezolanischen Revolutionen. Bislang haben die Bemühungen um eine Ausweitung der Monroe-Doktrin in der ganzen Welt zwar immense Zerstörung angerichtet, aber keine stabilen Klientenregime herbeigebracht, wie wir beim Scheitern der US-Projekte in Afghanistan und im Irak gesehen haben. Dennoch lässt sich Washington nicht entmutigen und hat seinen Schwerpunkt auf den asiatisch-pazifischen Raum verlagert, um China entgegenzuwirken.
Vor zweihundert Jahren besiegten die Truppen von Simón Bolívar das spanische Imperium in der Schlacht von Carabobo 1821 und läuteten damit eine Periode der Unabhängigkeit für Lateinamerika ein. Zwei Jahre später, 1823, verkündete die US-Regierung ihre Monroe-Doktrin. Die Dialektik zwischen Carabobo und Monroe prägt nach wie vor unsere Welt, und die Erinnerung an Bolívar erweckt die Hoffnung auf, und den Kampf für, eine gerechtere Gesellschaft.
Heute erstickt die Hässlichkeit des Krieges gegen Gaza unser Bewusstsein. Em Berry, eine Dichterin aus Aotearoa, Neuseeland, hat ein wunderschönes Gedicht über den Namen Gaza und die Gräueltaten geschrieben, die das Apartheid-Israel seinem Volk zufügt:
Heute Morgen habe ich gelernt
Dass das englische Wort gauze
(fein gewebter medizinischer Stoff)
von dem arabischen Wort غزة oder Ghazza stammt
weil die Menschen von Gaza seit Jahrhunderten geschickte Weber sind.
So fragte ich mich
wie viele unserer Wunden
verbunden worden sind
ihretwegen
und wie viele ihrer Wunden
offen gelassen worden sind
unseretwegen
Herzlichst,
Vijay