Dieser Sieg gibt Zuversicht für zukünftige Kämpfe. 

Der siebenundvierzigste Newsletter (2021).

Ein Bauer im Protest­la­ger an der Singhu-Grenze in Delhi trägt die Flagge der All India Kisan Sabha, 21. Novem­ber 2021. Subin Dennis / Tricon­ti­nen­tal: Insti­tute for Social Research

Liebe Freund*innen,

 

Grüße aus dem Büro des Tricon­ti­nen­tal: Insti­tute for Social Rese­arch.

 

Am 19. Novem­ber 2021, eine Woche vor dem ersten Jahres­tag des Bauern­auf­stan­des, hat Indi­ens Premier­mi­nis­ter Naren­dra Modi kapi­tu­liert. Er akzep­tierte, dass die drei Agrar­markt-Gesetze, die 2020 durch das Parla­ment gepeitscht worden waren, aufge­ho­ben werden würden. Die indi­schen Bauern und Bäue­rin­nen haben gesiegt. Die All India Kisan Sabha (AIKS), eine der Orga­ni­sa­to­rin­nen der Protest­be­we­gung, feierte den Triumph und erklärte, dass «dieser Sieg mehr Zuver­sicht für künf­tige Kämpfe gibt».

 

Weitere drin­gende Kämpfe stehen an, darun­ter der Kampf für ein Gesetz, das allen Landwirt*innen einen Mindest­stüt­zungs­preis garan­tiert, der andert­halb­mal so hoch ist wie die Produk­ti­ons­kos­ten für ihre Produkte. Das Versäum­nis, dies in Angriff zu nehmen, so die AIKS, habe «die Agrar­krise verschärft und in den letz­ten 25 Jahren zum Selbst­mord von mehr als [400.000] Landwirt*innen geführt». Ein Vier­tel dieser Todes­fälle ereig­nete sich in den letz­ten sieben Jahren unter Modis Führung.

Ein Trak­to­ren­kon­tin­gent auf der GT Karnal Road durch­bricht Barri­ka­den und dringt in Delhi ein, was zu einer Konfron­ta­tion zwischen Demonstrant*innen und der Poli­zei führt, 26. Januar 2021. Vikas Thakur / Tricon­ti­nen­tal: Insti­tute for Social Research


Tricon­ti­nen­tal: Insti­tute for Social Rese­arch hat vier umfang­rei­che Dossiers erstellt, die sich mit der Agrar­krise in Indien befas­sen: eine Erklä­rung der Bäue­rin­nen­re­volte (The Farmers’ Revolt in India, Juni 2021); eine Analyse der zentra­len Rolle der Frauen sowohl bei der land­wirt­schaft­li­chen Arbeit als auch bei den Kämp­fen (Indian Women on an Arduous Road to Equa­lity, Okto­ber 2021); ein Porträt der Auswir­kun­gen des Neoli­be­ra­lis­mus auf die länd­li­chen Gemein­den (The Neoli­be­ral Attack on Rural India: Two Reports by P. Sainath, Okto­ber 2019); und eine Studie über den Versuch der Uberi­sie­rung von Landarbeiter*innen und Landwirt*innen (Big Tech and the Current Chal­lenges Facing the Class Struggle, Novem­ber 2021). Unser Senior Fellow, P. Sainath hat maßgeb­lich dazu beigetra­gen, auf die Agrar­krise und Kämpfe der Land­wirte aufmerk­sam zu machen. Der folgende Abschnitt ist ein Auszug aus seinem jüngs­ten Leit­ar­ti­kel im People’s Archive of Rural India:

 

Was die Medien nicht offen zuge­ben können: dass dies der größte fried­li­che demo­kra­ti­sche Protest ist, den die Welt seit Jahren gese­hen hat – sicher­lich der größte, der auf dem Höhe­punkt der Pande­mie orga­ni­siert wurde –, und dass er einen mäch­ti­gen Sieg errun­gen hat.

 

Ein Sieg, der ein Vermächt­nis nach sich zieht. Landarbeiter*innen aus allen Berei­che, Männer und Frauen – auch aus den Gemein­schaf­ten der Adivasi [Stam­mes­an­ge­hö­rige] und Dalit [unter­drückte Kaste] – spiel­ten eine entschei­dende Rolle in [Indi­ens] Kampf um Frei­heit. Und im 75. Jahr der [indi­schen] Unab­hän­gig­keit erin­ner­ten die Bäue­rin­nen und Bauern vor den Toren Delhis an den Geist dieses großen Kampfes.

 

Premier­mi­nis­ter Modi hat ange­kün­digt, dass er in der kommen­den Winter­sit­zung des Parla­ments, die am 29. [Novem­ber] beginnt, die Land­wirt­schafts­ge­setze zurück­zie­hen und aufhe­ben wird. Er sagt, er tue dies, nach­dem es ihm nicht gelun­gen sei, «einen Teil der Land­wirte trotz aller Bemü­hun­gen» zu über­zeu­gen. Nur ein Teil, wohl­ge­merkt, den er nicht davon über­zeu­gen konnte, dass die drei diskre­di­tier­ten Land­wirt­schafts­ge­setze eigent­lich gut für sie seien. Kein Wort über oder für die über 600 Landwirt*innen, die im Laufe dieses histo­ri­schen Kamp­fes gestor­ben sind. Sein Versa­gen, so stellt er klar, liegt einzig und allein in seinen mangeln­den Über­zeu­gungs­küns­ten, diesen «Teil der Land­wirte» zur Einsicht zu brin­gen. … Auf welche Art und Weise hat er sie zu über­zeu­gen versucht? Indem man ihnen den Zutritt zur Haupt­stadt verwei­gerte, um ihre Anlie­gen vorzu­tra­gen? Indem man sie mit Schüt­zen­grä­ben und Stachel­draht abrie­gelte? Indem sie mit Wasser­wer­fern beschos­sen wurden? … Indem man die Landwirt*innen täglich in den verbün­de­ten Medien verun­glimp­fen ließ? Indem man sie mit Fahr­zeu­gen über­fuhr, die angeb­lich einem Gewerk­schaf­ter oder seinem Sohn gehör­ten? Ist es das, was sich diese Regie­rung unter Über­zeu­gungs­ar­beit vorstellt? Wenn das ihre «besten Bemü­hun­gen» waren, dann wollen wir ihre schlech­tes­ten nicht sehen.

 

Der Premier­mi­nis­ter hat allein in diesem Jahr mindes­tens sieben Besu­che in Über­see gemacht (wie den letz­ten anläss­lich der COP26). Aber er hat nicht ein einzi­ges Mal die Zeit gefun­den, nur ein paar Kilo­me­ter von seiner Resi­denz entfernt zu halten, um Zehn­tau­sende von Landwirt*innen vor den Toren Delhis zu besu­chen, deren Leid so viele Menschen über­all im Lande berührt. Wäre das nicht ein echter Versuch der Über­zeu­gungs­ar­beit gewesen?

 

… Dies ist keines­wegs das Ende der Agrar­krise. Es ist der Beginn einer neuen Phase des Kamp­fes um die grund­le­gen­den Fragen dieser Krise. Die Proteste der Landwirt*innen gibt es schon seit langem. Und beson­ders stark seit 2018, als die Adivasi-Bäuer*innen von Maha­rash­tra die Nation mit ihrem beein­dru­cken­den 182-km-Fußmarsch von Nashik nach Mumbai elek­tri­sier­ten. Auch damals begann es damit, dass sie als «Stadt-Maois­ten» abge­tan wurden, dass sie keine echten Bäuer*innen seien, und ähnli­ches Blabla. Ihr Marsch hat ihre Verleum­der in die Flucht geschlagen.

 

… Die Hundert­tau­sen­den von Menschen in jenem Bundes­staat, die sich an diesem Kampf betei­ligt haben, wissen, wessen Sieg dies ist. Die Herzen der Menschen im Punjab sind bei denen in den Protest­la­gern, die in Delhi einen der schlimms­ten Winter seit Jahr­zehn­ten, einen sengen­den Sommer, die Regen­fälle danach und die mise­ra­ble Behand­lung durch Herrn Modi und die ihm erge­be­nen Medien ertra­gen haben.

 

Und das viel­leicht Wich­tigste, was die Demonstrant*innen erreich­ten: Sie haben auch in ande­ren Berei­chen den Wider­stand gegen eine Regie­rung ange­regt, die ihre Gegner einfach ins Gefäng­nis wirft oder sie auf andere Weise verfolgt und schi­ka­niert. Die nach dem [Gesetz zur Verhin­de­rung rechts­wid­ri­ger Hand­lun­gen] unge­hin­dert Bürger, darun­ter auch Journalist*innen, verhaf­tet und gegen unab­hän­gige Medien wegen «wirt­schaft­li­cher Verge­hen» vorgeht. Dieser Tag ist nicht nur ein Sieg für die Bäuer*innen. Er ist ein Sieg für den Kampf um bürger­li­che Frei­hei­ten und Menschen­rechte. Ein Sieg für die indi­sche Demokratie.

 

Ein Land­wirt nimmt an den Protes­ten in seinem Last­wa­gen an der Singhu-Grenze in Delhi teil, 5. Dezem­ber 2020. Vikas Thakur / Tricon­ti­nen­tal: Insti­tute for Social Research

Es ist ein Sieg nicht nur für die indi­sche Demo­kra­tie, sondern für Bauern und Bäue­rin­nen auf der ganzen Welt.


In den letz­ten fünf Jahr­zehn­ten haben diese Bäuer*innen eine Kombi­na­tion aus Verar­mung, Enteig­nung und Demo­ra­li­sie­rung auf globa­ler Ebene erlebt. Zwei Prozesse beschleu­nig­ten ihre Krise: erstens ein Handels- und Entwick­lungs­mo­dell, das von den fort­ge­schrit­te­nen kapi­ta­lis­ti­schen Staa­ten durch den Inter­na­tio­na­len Währungs­fonds (IWF), die Welt­bank und die Welt­han­dels­or­ga­ni­sa­tion (WTO) voran­ge­trie­ben wird; zwei­tens die Klima­ka­ta­stro­phe. Das Struk­tur­an­pas­sungs­pro­gramm des IWF und das libe­ra­li­sierte Handels­re­gime der WTO haben Preis­stüt­zun­gen und Nahrungs­mit­tel­sub­ven­tio­nen im Globa­len Süden ausge­höhlt und die Regie­run­gen daran gehin­dert, zur Unter­stüt­zung der Landwirt*innen und zum Aufbau robus­ter natio­na­ler Nahrungs­mit­tel­märkte einzu­grei­fen. Während­des­sen haben die Länder des Globa­len Nordens die Land­wirt­schaft weiter subven­tio­niert und ihre billi­gen Lebens­mit­tel auf die Märkte des Globa­len Südens gewor­fen. Diese poli­ti­sche Struk­tur war – neben verhee­ren­den Klima­er­eig­nis­sen – für die Landwirt*innen im Globa­len Süden verheerend.

Ein Bauer aus dem Punjab protes­tiert während eines Trak­tor­mar­sches am Tag der Repu­blik auf der GT Karnal Bypass Road in Delhi, 26. Januar 2021. Vikas Thakur / Tricon­ti­nen­tal: Insti­tute for Social Research

Während der Kredit­krise 2007/08 inter­ve­nierte die Welt­bank, um den Eintritt des Privat­sek­tors (vor allem der großen Land­wirt­schaft) in die «Wert­schöp­fungs­ket­ten» vom Bauern­hof bis zum Geschäft zu fördern. «Der Privat­sek­tor treibt die Orga­ni­sa­tion von Wert­schöp­fungs­ket­ten voran, die den Markt zu den Kleinbäuer*innen und kommer­zi­el­len Betrie­ben brin­gen», schrieb die Welt­bank in einem wich­ti­gen Bericht von 2008. Im Juni dessel­ben Jahres öffnete die Hoch­ran­gige Konfe­renz zur Welt­ernäh­rungs­si­cher­heit der Ernäh­rungs- und Land­wirt­schafts­or­ga­ni­sa­tion der Verein­ten Natio­nen der Welt­bank die Tür, um die Agrar­po­li­tik zuguns­ten der großen Land­wirt­schafts­un­ter­neh­men zu gestal­ten. Im Jahr darauf plädierte der Welt­ent­wick­lungs­be­richt der Welt­bank für die Inte­gra­tion der Land­wirt­schaft in den «armen Ländern in die Welt­märkte», was bedeu­tete, dass die Bäuer*innen in eine «uberi­sier­ten» Bezie­hung zur großen Land­wirt­schaft gebracht wurden. Inter­es­san­ter­weise wider­sprach die Welt­bank 2008 in ihrem Inter­na­tio­nal Agri­cul­tu­ral Assess­ment of Agri­cul­tu­ral Know­ledge, Science, and Tech­no­logy ihrer eige­nen Auffas­sung mit der Begrün­dung, dass die indus­tri­elle Land­wirt­schaft die Natur degra­diert und die Bäuer*innen verar­men lässt.

 

Im Septem­ber 2021 veran­stal­te­ten die Verein­ten Natio­nen in New York einen Gipfel für Ernäh­rungs­sys­teme, der nicht von den Bauern­ver­bän­den einbe­ru­fen wurde, sondern vom Welt­wirt­schafts­fo­rum (WEF), einem priva­ten Gremium, das eher das Groß­ka­pi­tal als die großen Herze der Land­wirte vertritt. Das WEF, das die vom Kapi­ta­lis­mus verur­sachte Krise aner­kennt, sagt nun, dass es aus den Aktio­nen der Zivil­ge­sell­schaft gelernt habe und den «Stake­hol­der-Kapi­ta­lis­mus» fördern wird. Bei dieser neuen Art von Kapi­ta­lis­mus, die dem alten Kapi­ta­lis­mus ähnelt, geht es darum, Unter­neh­men als «Treu­hän­der der Gesell­schaft» zu fördern; er vertraut den Unter­neh­men unser Wohl­erge­hen an und nicht den Arbeitnehmer*innen, die den Wert in unse­rer Gesell­schaft produzieren.

 

Die Bäuer*innenrevolte in Indien kämpfte gegen die drei Gesetze Modis, die nun aufge­ho­ben werden sollen. Aber sie kämp­fen weiter dage­gen, dass die Poli­tik­ge­stal­tung von demo­kra­ti­schen, multi­la­te­ra­len und natio­na­len Projek­ten im Namen von «öffent­lich-priva­ten Part­ner­schaf­ten» und «Treu­hän­dern der Gesell­schaft» auf Konzerne abge­wälzt wird. Die Aufhe­bung von Modis Geset­zen ist ein Sieg. Das hat das Vertrauen des Volkes gestärkt. Aber es stehen weitere Kämpfe bevor.

Ein Bauer, der sich dem ersten Protest ange­schlos­sen hat, liest ein Werk des revo­lu­tio­nä­ren Punjabi-Dich­ters Pash in seinem Trolly an der Singhu-Grenze in Delhi, 10. Dezem­ber 2021. Vikas Thakur / Tricon­ti­nen­tal: Insti­tute for Social Research

An den Protest­or­ten errich­te­ten die Bäuer*innen ganze Dörfer, einschließ­lich Gemein­schafts­kü­chen und Biblio­the­ken. Lesun­gen und musi­ka­li­sche Darbie­tun­gen gehör­ten zu den regel­mä­ßi­gen Akti­vi­tä­ten. Revo­lu­tio­näre Punjabi-Gedichte von Persön­lich­kei­ten wie Pash (1950–1988) und Sant Ram Udasi (1939–1986) gaben ihnen Auftrieb. Navs­ha­ran Singh und Vikas Rawal haben uns diese Stro­phen von Sant Ram Udasi zum Abschluss dieses News­let­ters zur Verfü­gung gestellt:

 

Du musst dein Licht

in die Höfe der Arbei­ten­den schei­nen lassen

die verdor­ren, wenn es eine Dürre gibt

und ertrin­ken, wenn es Flut gibt,

für die jede Kata­stro­phe Verwüs­tung bedeutet,

und die nur im Tod Befrei­ung finden.

 

Ihr müsst zeigen, was vor sich geht

in den Höfen der Arbeitenden

für die das Brot knapp ist,

die in Dunkel­heit leben,

deren Selbst­ach­tung 

gestoh­len wurde,

und die mit ihren Ernten

alle ihre Begeh­ren verlieren.

 

Warum brennst du, um dein Licht nur auf dich selbst zu leuchten?

Warum hältst du dich von den Arbei­ten­den fern?

Diese Entbeh­run­gen und Unter­drü­ckung werden nicht ewig andauern.

Du, oh Sonne, musst dein Licht

in die Höfe der Arbei­ten­den schei­nen lassen.

 

 

Herz­lichst,

Vijay

Aus dem Engli­schen von Claire Louise Blaser.