Es ist die Freiheit, und nur die Freiheit, die unseren Durst stillen kann.
Der siebenundvierzigste Newsletter (2020).
Liebe Freund*innen,
Grüsse vom Schreibtisch des Tricontinental: Institute for Social Research.
Im Jahr 2011 reiste der schwedische Schriftsteller Henning Mankell nach Indien, um die Safdar Hashmi Memorial Lecture in Neu Delhi zu halten. Mankell berichtete von einem Vorfall aus Mosambik, wo jedes Jahres einige Monate lebte. In den 1980er Jahren, nachdem Mosambik 1974 seine Unabhängigkeit von Portugal erlangt hatte, unterstützten das südafrikanische Apartheid-Regime und die Siedler-Kolonialarmee von Rhodesien eine antikommunistische Fraktion gegen die Regierung der Befreiungsfront von Mosambik (FRELIMO). Ziel des Krieges war es, die Stützpunkte der nationalen Befreiungstruppen Südafrikas und Simbabwes zu zerstören, die von der mosambikanischen FRELIMO-Regierung die Erlaubnis erhalten hatten, von dort aus zu wirken.
Der Krieg, der Mosambik aufgezwungen wurde, war brutal, die Zerstörung immens. Mankell besuchte eine Grenzregion, in der die Invasionstruppen und ihre antikommunistischen Verbündeten Dörfer niedergebrannt hatten. Er ging auf einem Pfad auf ein Dorf zu. Er sah einen jungen Mann auf ihn zukommen, einen dünnen Mann in zerlumpter Kleidung. Als er näher kam, sah Mankell seine Füße. «Er hatte in seinem tiefen Elend», sagte Mankell zu seinem Publikum in Delhi, «Schuhe an seine Füße gemalt. In gewisser Weise hatte er, um seine Würde zu verteidigen, als alles verloren war, die Farben aus der Erde, aus Kräutern gefunden, und er hatte Schuhe an seine Füße gemalt».
Für Mankell war die Tat dieses Mannes auch eine Form des Widerstands gegen das verblassende Licht der Hoffnung; obwohl dieser Mann sehr wohl auf dem Weg zu einem Treffen seiner FRELIMO-Zweigstelle hätte sein können, wo sie die aktuelle Situation ihres Kampfes diskutieren und planen würden, ihr Land zu verteidigen. 1981, als Südafrika Mosambik angriff, anerkannte FRELIMO-Präsidentin Samora Machel Oliver Tambo den Afrikanischen Nationalkongress (ANC) Südafrikas bei einer öffentlichen Kundgebung auf dem Unabhängigkeitsplatz in Maputo und erklärte: «Wir wollen keinen Krieg. Wir sind Friedensstifter, weil wir Sozialisten sind. Die eine Seite will Frieden, und die andere Seite will Krieg. Was sollen wir tun? Wir lassen Südafrika wählen. Wir haben keine Angst vor Krieg». Das könnten die Worte gewesen sein, die in den Ohren des Mannes geklungen haben, den Mankell gesehen hatte.
Während des nationalen Befreiungskampfes hatte Machel gesagt, dass es bei dem revolutionären Prozess nicht nur um den Sieg über die Portugiesen – oder den südafrikanischen Apartheidstaat oder den rhodesischen Siedler-Kolonialstaat – gehe, sondern um die «Schaffung eines neuen Menschen mit einer neuen Mentalität». Es war dieser Kampf gegen den Kolonialismus, der eine Gesellschaft hervorbrachte, in der die Menschen stolz waren, auch wenn sie noch nicht über die notwendigen Güter wie zum Beispiel Schuhe verfügten.
Der Kampf um Würde ist grundlegend, und er bildete einen Kernbestandteil der nationalen Befreiungs-Ideologie. Dies war die Prämisse der Arbeit zweier Denker – Frantz Fanon und Paulo Freire –, deren Schriften aus den Traditionen der nationalen Befreiung und des Sozialismus hervorgingen und wiederum auf diese beiden Kämpfe rückwirkten. Es ist also keine Überraschung, dass unser Südafrika-Büro des Tricontinental: Institute for Social Research in Johannesburg zwei Dossiers zu diesen beiden wichtigen Persönlichkeiten erarbeitet hat: Frantz Fanon: The Brightness of Metal («Frantz Fanon: Der Glanz des Metalls») im März 2020,und jetzt Paulo Freire and Popular Struggle in South Africa («Paulo Freire und der Volkskampf in Südafrika») im November 2020. Ein Teil unserer Arbeit im Institut besteht darin, zurückzuschauen, um vorwärts zu gehen; zu den Quellen unserer Tradition zurückzukehren, sie sorgfältig auf ihre wichtigen Lehren hin zu prüfen und dann aus ihnen zu schöpfen, um unsere Kämpfe in der Gegenwart voranzubringen. Sowohl Fanon als auch Freire – letzterer beeinflusst von Fanons Die Verdammten dieser Erde (1961), als er seine klassische Pädagogik der Unterdrückten (1968) verfasste – betonten die Bedeutung des kollektiven Studiums und Kampfes als Hebel zur Entwicklung eines kritischen Bewusstseins unter den Massen. Ihre allgemeine Ausrichtung auf die integrale Beziehung zwischen kollektivem Studium und Kampf prägt unseren eigenen Ansatz im Institut, wie wir ihn in unserem Dossier The New Intellectual («Die neuen Intellektuellen») im Februar 2019 dargelegt haben.
Freires Pädagogik der Unterdrückten wurde geschrieben, während sich der brasilianische Intellektuelle im Exil in Chile befand, wohin er geflohen war, nachdem er in den frühen Tagen des von den USA unterstützten Militärputsches von 1964 siebzig Tage in einem brasilianischen Gefängnis verbracht hatte. Für das Buch schöpfte Freire nicht nur aus seinen eigenen Erfahrungen mit den Kämpfen in Brasilien, sondern auch aus dem, was er über die algerische Befreiungsbewegung (via Fanon) gelesen hatte, und aus seinem Engagement für die nationalen Befreiungsbewegungen in den von Portugal kolonisierten Teilen Afrikas.
Die Unterdrückten, schrieb Freire, wollten kein Wissen um seiner selbst willen; sie äußerten eine Reihe von Wünschen für die Welt, darunter den Wunsch, eine Welt zu schaffen, in der sie in Würde leben könnten, auch mit Schuhen. Freire zitiert Che Guevaras eindrückliche Empfindung, dass «ein wahrer Revolutionär von starken Gefühlen der Liebe geleitet wird», und macht sie zur Grundlage seines Ansatzes. «Die Revolution liebt und schafft Leben», schrieb Freire, «und um Leben zu schaffen, ist sie vielleicht gezwungen, einige Männer daran zu hindern, Leben zu begrenzen». Das war keine abstrakte «Liebe», sondern Liebe auf ganz konkrete Weise. In Brasilien, schrieb Freire, gab es «lebende Leichen» oder «Schatten von Menschen», die einem «unsichtbaren Krieg» von Hunger und Krankheit, Analphabetismus und Demütigung ausgesetzt waren; ihre Befreiung von der strukturellen Vorherrschaft des Kapitalismus würde die Niederlage der eigentlichen Menschen erfordern, die von dem System profitierten, das die Unterdrückten ihrer Grundbedürfnisse beraubte. Der Aufstand der Unterdrückten – mit anderen Worten, die Revolution – würde das Leben der großen Mehrheit verbessern, aber er würde sich notwendigerweise negativ auf das Leben von Kapitalist*innen auswirken. In Freire gab es keinen Idealismus – nur die tiefe praktische Wertschätzung von Studium und Kampf in der realen Welt, in der wir leben.
Vielleicht ist es diese Verankerung im echten Leben, in der tatsächlichen Gesellschaft, die Generationen von südafrikanischen Freiheitskämpfer*innen beeinflusst hat. Unser neuestes Dossier, Paulo Freire and the Popular Struggle in South Africa, dokumentiert den Einfluss von Freires Ideen innerhalb der Black-ConsciousnessBewegung, der Kirche, der Arbeiter*innenbewegung und im Herzen des Befreiungskampfes. In einem Interview für dieses Dossier erzählte Aubrey Mokoape, der 1968 zusammen mit Steve Biko, Barney Pityana und anderen die South African Students Organisation gründete, Tricontinental: Institute for Social Research, wie Freires Idee der «Bewusstwerdung» die sozialistische Agenda der Black-Consciousness-Bewegung vorantrieb:
Der einzige Weg, diese Regierung zu stürzen, besteht darin, die Masse unseres Volkes dazu zu bringen, zu verstehen, was wir tun wollen, und sich den Prozess zu eigen zu machen, mit anderen Worten, sich ihrer Position in der Gesellschaft bewusst zu werden, mit anderen Worten … die Zusammenhänge zu erkennen, zu verstehen, dass man, wenn man kein Geld hat, um … für die Schulgebühren seines Kindes, die Gebühren für die medizinische Fakultät zu zahlen, keine angemessene Unterkunft hat, schlechte Transportmöglichkeiten hat, dass all diese Dinge ein einziges Kontinuum bilden; dass all diese Dinge tatsächlich miteinander verbunden sind. Sie sind Teil des Systems, und die Position innerhalb der Gesellschaft nicht einzeln, sondern systemisch ist.
In Würde und Liebe zu leben, würde bedeuten, ein System umzugestalten, das nicht in der Lage ist, die Probleme zu lösen, die es schafft. Bei der Bildung – oder «Bewusstwerdung» – geht es genau um den miteinander verbundenen Prozess des Studiums und des Kampfes, um ein Bewusstsein und eines Gewissen zu entwickeln, die mehr als moderate Reformen einfordern. Es ging nicht darum, Schuhe zu bekommen, sondern für ein System zu kämpfen, in dem ein Mangel an Schuhen nicht einmal vorstellbar ist
Der preisgekrönte südafrikanische Dichter Mongane Wally Serote unterzog sich während seiner Schulzeit in Soweto einer «Bewusstwerdung» in der Black-Consciousness-Bewegung, bevor er dem Afrikanischen Nationalkongress beitrat. 1969 wurde Serote verhaftet und verbrachte neun Monate in Einzelhaft. Schließlich ging er ins Exil: zunächst nach Botswana, wo er sich dem uMkhonto weSizwe, dem militärischen Flügel des ANC, anschloss und dann mit Thami Mnyele und anderen das Medu Arts Ensemble gründete. Später ging Serote nach London, um in der Abteilung für Kunst und Kultur des ANC zu arbeiten. 1990 kehrte er nach Südafrika zurück.
Im Jahr 1977 gründete Serote zusammen mit anderen den Pelandaba Cultural Effort in Gaborone (Botswana) und veröffentlichte Pelculef. In der ersten Ausgabe der Zeitschrift, die im Oktober 1977 erschien, veröffentlichte Serote sein Gedicht no more strangers. Der Rhythmus des Gedichts ist der Puls des Kampfes, dem Serote und seine Kamerad*innen ihr Leben gewidmet hatten. Hier ist ein kurzer Auszug, der die Spuren von Freires «Bewusstwerdung» zeigt:
wir waren es, wir sind es
die Kinder von Soweto
langa, kagiso, alexandra, gugulethu und nyanga
wir
ein Volk mit einer langen Geschichte des Widerstands
wir
die die Mächtigen herausfordern werden
denn es ist die Freiheit, und nur die Freiheit, die unseren Durst stillen kann –
Der Terror hat uns gelernt, dass wir es sind, die die Geschichte an sich reißen werden.
unsere Freiheit.
…
erinnert euch an die erschütternde Verzweiflung, sich so wertlos wie Trümmer zu fühlen
erinnert euch an die Schatten des Todes, nach denen wir uns sehnten
Hier sind wir nun
…
wir werden es sein
gestählt, um die Freiheit zu holen
und –
wir werden der Freiheit sagen
wir sind jetzt keine Fremden mehr.
Wir müssen es sein. Wir warten auf niemanden. Es gibt niemanden außer uns. Wir werden unsere eigenen Schuhe machen. Wir werden es sein. Wir werden in Würde weiterschreiten. Wir werden siegen.
Herzlichst,
Vijay
Celina della Croce
Koordinatorin, Interregionales Büro
In den letzten Monaten habe ich an der Redaktion, Übersetzung und Koordination unserer Dossiers, Studien, Newsletter und anderen Publikationen gearbeitet. Als die Pandemie ausbrach, begann unser Team schnell damit, die Auswirkungen von COVID-19 auf die arbeitenden Menschen auf der ganzen Welt zu untersuchen und zu studieren, wie sich dies mit Themen wie Gender, Geopolitik und Bemühungen um eine bessere Zukunft überschneidet. Ich habe an der Seite unseres Publikationsteams gearbeitet, um unsere Fähigkeit zur Redaktion und Übersetzung der Texte und Interventionen im Kampf der Ideen von Tricontinental: Institute for Social Research aufzubauen. Ich arbeitete auch an der Herausgabe des kürzlich erschienenen Buches Che und trug zum Schreiben, Redigieren und Übersetzen der kürzlich begonnenen Zusammenarbeit zum Thema Gender und Corona-Schock bei. In meiner Freizeit habe ich mich mit Genoss*innen organisiert, um den US-Imperialismus in Bolivien seit dem Staatsstreich vom letzten Jahr zu verurteilen, an Volksbildungskursen und Lesegruppen teilgenommen und mich über die Entfernung hinweg immer wieder bei meiner Familie und meinen Freund*innen nach ihrem Wohlergehen während der Pandemie erkundigt.
Aus dem Englischen übersetzt von Claire Louise Blaser.