Die innige Umarmung zwischen Liberalismus und der extremen Rechten

Der sechsundvierzigste Newsletter (2023)

Rachid Koraichi (Alge­rien), One Plate, from A Nation in Exile, ca. 1981.

In Andenken an Genosse N. Sanka­raiah (1922–2023)

Liebe Freund*innen,

 

Grüße aus dem Büro von Tricon­ti­nen­tal: Insti­tute for Social Rese­arch.

 

Eine der Merk­wür­dig­kei­ten unse­rer Zeit ist, dass die extreme Rechte sich in den etablier­ten Insti­tu­tio­nen der libe­ra­len Demo­kra­tie recht wohl fühlt. Hier und da gibt es Fälle von verär­ger­ten poli­ti­schen Führungs­per­so­nen, die sich weigern, ihre Nieder­lage an der Wahl­urne zu akzep­tie­ren (wie Donald Trump und Jair Bolso­n­aro) und dann ihre Anhän­ger zu außer­par­la­men­ta­ri­schen Aktio­nen aufru­fen (wie am 6. Januar 2021 in den Verei­nig­ten Staa­ten und, in einer absur­den Wieder­ho­lung, am 8. Januar 2023 in Brasi­lien). Aber im Großen und Ganzen weiß die extreme Rechte, dass sie ihre Ziele anhand der Insti­tu­tio­nen der libe­ra­len Demo­kra­tie errei­chen kann, die ihren Program­men keines­falls feind­lich gegenüberstehen.

 

Die verhäng­nis­volle, innige Umar­mung zwischen den poli­ti­schen Projek­ten des Libe­ra­lis­mus und denen der extre­men Rech­ten kann auf zwei­er­lei Weise verstan­den werden. Erstens zeigt sich diese Verflech­tung in der Leich­tig­keit, mit der die rechts­extre­men Kräfte die libe­ra­len Verfas­sun­gen und Insti­tu­tio­nen ihrer Länder zu ihren Guns­ten nutzen, ohne dass sie diese auf drama­ti­sche Weise zu erset­zen brau­chen. Wenn eine rechts­extreme Regie­rung eine libe­rale Verfas­sung auf ihre Weise ausle­gen kann und wenn die Insti­tu­tio­nen und das Perso­nal dieser Verfas­sungs­struk­tur dieser Ausle­gung durch die Rechts­extre­men nicht abge­neigt sind, dann ist ein Putsch gegen die libe­rale Struk­tur nicht nötig. Sie kann von innen ausge­höhlt werden.

 

Zwei­tens findet diese innige, aber fatale Umar­mung inner­halb der «Kultur der Grau­sam­keit» (wie Aijaz Ahmad es nannte) statt, die die soziale Welt des unge­zü­gel­ten Kapi­ta­lis­mus bestimmt. Gezwun­gen, fürs Kapi­tal zu arbei­ten – in zuneh­mend prekä­ren und atomi­sier­ten Jobs –, um zu über­le­ben, entde­cken die Arbeiter*innen, wie Karl Marx 1857/58 scharf­sin­nig bemerkte, dass das Geld das «wirk­li­che Gemein­we­sen» ist und der Mensch das Instru­ment und der Sklave des Geldes ist. Der Fürsorge der echten Gemein­schaft entris­sen, werden die Arbeiter*innen in ein Leben gezwun­gen, das zwischen der Hölle langer und schwe­rer Arbeits­tage und dem Fege­feuer langer und schwe­rer Arbeits­lo­sig­keit schwankt. Das Fehlen von staat­li­cher Sozi­al­für­sorge und der Zusam­men­bruch der von den Arbeiter*innen gelei­te­ten Gemein­schafts­ein­rich­tun­gen führen zu einer «Kultur der Grau­sam­keit», einer norma­li­sier­ten Form der Gewalt, die von zu Hause bis auf die Straße reicht. Diese Gewalt findet oft statt, ohne dass sie gross beach­tet wird und stärkt tradi­tio­nelle Macht­struk­tu­ren (z. B. entlang der Achsen des Patri­ar­chats und des Nati­vis­mus). Die Quelle der Macht der extre­men Rech­ten liegt in dieser «Kultur der Grau­sam­keit», die gele­gent­lich zu spek­ta­ku­lä­ren Gewalt­ta­ten gegen gesell­schaft­li­che Minder­hei­ten führt.

Laila Shawa (Paläs­tina), Target 2009, 2009.

Der unge­zü­gelte Kapi­ta­lis­mus hat die Produk­tion globa­li­siert und die Eigentümer*innen (sowohl Einzel­per­so­nen als auch Unter­neh­men) davon befreit, auch nur die Normen der libe­ra­len Demo­kra­tie einzu­hal­ten, wie etwa ihren gerech­ten Anteil an den Steu­ern zu zahlen. Diese poli­tisch-ökono­mi­sche Struk­tur des unge­zü­gel­ten Kapi­ta­lis­mus führt zu einer neoli­be­ra­len Gesell­schafts­ord­nung, die darauf beruht, der Arbei­ter­klasse und der Bauern­schaft Spar­maß­nah­men aufzu­er­le­gen und die arbei­ten­den Menschen zu atomi­sie­ren, indem ihre Arbeits­zeit verlän­gert, die von ihnen gelei­te­ten sozia­len Einrich­tun­gen ausge­höhlt und somit ihre Frei­zeit verkürzt wird. Die libe­ra­len Demo­kra­tien in der ganzen Welt führen Erhe­bun­gen über die Zeit­ver­wen­dung ihrer Bevöl­ke­rung durch, um fest­zu­stel­len, wie die Menschen ihre Zeit verbrin­gen, aber fast keine dieser Erhe­bun­gen befasst sich mit der Frage, ob Arbeiter*innen und Bäuer*innen über­haupt Zeit für Frei­zeit haben, wie sie diese Frei­zeit verbrin­gen könn­ten und ob die Verrin­ge­rung ihrer Frei­zeit ein Problem für die allge­meine soziale Entwick­lung in ihrem Land darstellt. Wir sind sehr weit von der Verfas­sung der Orga­ni­sa­tion der Verein­ten Natio­nen für Bildung, Wissen­schaft und Kultur von 1945 entfernt, in der der «freie Fluss von Ideen in Wort und Bild» und die Notwen­dig­keit, «der Volks­bil­dung und der Verbrei­tung der Kultur neue Impulse zu geben», gefor­dert werden. Gesell­schaft­li­che Diskus­sio­nen über die Dilem­mata der Mensch­heit werden zum Schwei­gen gebracht, während alte Formen des Hasses sank­tio­niert werden.


Der Hass auf den Migran­ten, den Terro­ris­ten und den Drogen­dea­ler – die alle als Sozio­pa­then darge­stellt werden – ruft eine bissige Form des Natio­na­lis­mus hervor, die nicht in der Liebe zu den Mitmen­schen, sondern im Hass auf den Außen­sei­ter wurzelt. Der Hass tarnt sich als Patrio­tis­mus, während die Natio­nal­flagge immer größer wird und die Begeis­te­rung für die Natio­nal­hymne um Dezi­bel zunimmt. Dies wird heute in Israel deut­lich sicht­bar. Dieser neoli­be­rale, brutale, rechts­extreme Patrio­tis­mus verbrei­tet einen beißen­den Geruch von Wut und Bitter­keit, von Gewalt und Frus­tra­tion. In Kultu­ren der Grau­sam­keit werden die Augen der Menschen von ihren eige­nen Proble­men abge­lenkt, von den nied­ri­gen Löhnen und der Gefahr des Verhun­gerns in ihren Häusern, von den fehlen­den Bildungs­mög­lich­kei­ten und der mangeln­den Gesund­heits­ver­sor­gung, auf andere – falsche – Probleme, die von den Kräf­ten des grau­sa­men Kapi­ta­lis­mus erfun­den werden, um die Menschen von ihren wirk­li­chen Proble­men abzu­len­ken. Es ist eine Sache, patrio­tisch gegen Hunger und Hoff­nungs­lo­sig­keit zu sein. Aber die Kräfte des unge­zü­gel­ten Kapi­ta­lis­mus haben diese Form des Patrio­tis­mus an sich geris­sen und verbrannt. Die Menschen sehnen sich danach, gut zu sein. Deshalb sind so viele Milli­ar­den Menschen auf der ganzen Welt auf die Straße gegan­gen, haben Boote blockiert und Gebäude besetzt, um ein Ende von Isra­els Krieg gegen Gaza zu fordern. Aber diese Sehn­sucht wird durch Verzweif­lung und Ressen­ti­ments erstickt, durch die enge, teuf­li­sche Umar­mung des Libe­ra­lis­mus und der extre­men Rechten.

Belkis Ayón (Kuba), La cena, 1991.

Tricon­ti­nen­tal: Insti­tute for Social Rese­arch hat What Can We Expect from the New Progres­sive Wave in Latin America? (Dossier Nr. 70, Novem­ber 2023) veröf­fent­licht, eine Studie über die poli­ti­sche Land­schaft in Latein­ame­rika. Der Text beginnt mit einem Vorwort von Daniel Jadue (Bürger­meis­ter der Gemeinde Reco­leta, Sant­iago de Chile, und führen­des Mitglied der Kommu­nis­ti­schen Partei Chiles). Jadue argu­men­tiert, dass der unge­zü­gelte Kapi­ta­lis­mus die Wider­sprü­che zwischen Kapi­tal und Arbeit verschärft und die Zerstö­rung des Plane­ten beschleu­nigt hat. Die «poli­ti­sche Mitte» habe die meis­ten Länder der Welt in den letz­ten Jahr­zehn­ten regiert, «ohne die drin­gends­ten Probleme der Menschen zu lösen». Während die sozi­al­de­mo­kra­ti­schen Kräfte den unge­zü­gel­ten Kapi­ta­lis­mus und die neoli­be­rale Austeri­tät vertei­di­gen, wurde die Linke in die Mitte gezo­gen, um die Insti­tu­tio­nen der Demo­kra­tie und die Struk­tu­ren der sozia­len Wohl­fahrt zu vertei­di­gen. In der Zwischen­zeit, so schreibt Jadue, «ist unter den rech­ten Kräf­ten ein äußerst kämp­fe­ri­scher Diskurs wieder­auf­er­stan­den, der sogar noch extre­mer ist als in der Zeit des Faschis­mus vor fast einem Jahrhundert».

 

Unser Dossier zeich­net das poli­ti­sche Hin und Her in ganz Latein­ame­rika nach, wobei der Triumph der Linken bei den Präsi­dent­schafts­wah­len in Kolum­bien durch den festen Griff der Rech­ten in Peru ausge­gli­chen wird, und kommt dann zu einem Punkt, der von großer Bedeu­tung ist: Die Linke in den meis­ten Ländern Latein­ame­ri­kas hat das Endziel des Sozia­lis­mus aufge­ge­ben und statt­des­sen die Aufgabe über­nom­men, den Kapi­ta­lis­mus mit einem mensch­li­che­ren Gesicht zu verwal­ten. Im Dossier wird festgestellt:

 

Die heutige Linke hat sich als unfä­hig erwie­sen, die Hege­mo­nie über ein neues gesell­schaft­li­ches Projekt zu erlan­gen. Die unwi­der­ruf­li­che Vertei­di­gung der bürger­li­chen Demo­kra­tie selbst ist ein Symptom dafür, dass es keine Aussicht auf einen Bruch und eine Revo­lu­tion gibt. Dies spie­gelt sich in der mangeln­den Bereit­schaft bestimm­ter linker Führungs­per­sön­lickei­ten wider, die derzei­tige vene­zo­la­ni­sche Regie­rung zu unter­stüt­zen, die sie für unde­mo­kra­tisch halten – obwohl Vene­zuela neben Kuba eines der weni­gen Beispiele für ein Land ist, in dem die Linke diese Krisen ohne Nieder­lage über­stan­den hat. Diese klein­mü­tige Haltung und das Fehlen eines Enga­ge­ments im Kampf gegen den Impe­ria­lis­mus sind ein bedeu­ten­der Rückschlag.

Raúl Martí­nez (Kuba), Rosas y Estrel­las, 1972.

Die libe­rale Demo­kra­tie hat sich als unzu­rei­chende Schranke erwie­sen, um die Ambi­tio­nen der extre­men Rech­ten aufzu­hal­ten. Obwohl die libe­ra­len Eliten über die Vulga­ri­tät der extre­men Rech­ten entsetzt sind, sind sie nicht unbe­dingt dage­gen, die Massen von einer Klas­sen­po­li­tik zu einer Poli­tik der Verzweif­lung umzu­len­ken, wie es die extreme Rechte getan hat. Die Haupt­kri­tik an der Rech­ten kommt nicht von den libe­ra­len Insti­tu­tio­nen, sondern von den Feldern und Fabri­ken, wie die Mobi­li­sie­run­gen gegen den Hunger und gegen die Uberi­sie­rung der Arbeit zeigen. Von den Massen­de­mons­tra­tio­nen gegen die Spar­po­li­tik und für den Frie­den in Kolum­bien (2019–2021) bis zu den Demons­tra­tio­nen gegen  Justiz­krieg in Guate­mala (2023) sind die Menschen, die jahr­zehn­te­lang von den libe­ra­len Insti­tu­tio­nen ausge­schlos­sen waren, wieder auf die Straße gegan­gen. Wahl­siege sind wich­tig, aber sie allein verän­dern weder die Gesell­schaft noch die poli­ti­sche Macht, die in den meis­ten Teilen der Welt im festen Griff der Eliten geblie­ben ist.

 

Jadue weist in seinem Vorwort sowohl auf die Schwä­che der poli­ti­schen Mitte als auch auf die Notwen­dig­keit hin, ein poli­ti­sches Projekt zu entwi­ckeln, das die Mobi­li­sie­run­gen aufrecht erhält und verhin­dert, dass sie sich in Frus­tra­tion auflösen:

 

Der Wieder­auf­bau eines konkre­ten Hori­zonts – des Sozia­lis­mus — und der Aufbau der Einheit der Linken sind die wich­tigs­ten Heraus­for­de­run­gen, um die Dilem­mata, vor denen wir stehen, zu erken­nen und zu bewäl­ti­gen. Um dies zu tun, müssen wir uns von der Spra­che unse­rer Unter­drü­cker lösen und eine wirk­lich eman­zi­pa­to­ri­sche Spra­che entwi­ckeln. Inte­gra­tion und Koor­di­na­tion reichen nicht mehr aus. Ein echtes Verständ­nis dessen, was Karl Marx die mate­ri­elle Einheit der Welt nannte, ist uner­läss­lich, um die totale Einheit der Völker und gemein­same Aktio­nen auf dem gesam­ten Plane­ten zu erreichen.



Die Reser­voirs der Arbei­ter­kräfte in der ganzen Welt – einschließ­lich der prekär Beschäf­tig­ten und der Bauern­schaft – sind durch den Prozess der Globa­li­sie­rung erschöpft worden. Führende revo­lu­tio­näre Parteien haben es schwer, ihre Stärke im Kontext demo­kra­ti­scher Systeme, die von der Macht des Geldes über­nom­men wurden, auszu­bauen und auch nur zu erhal­ten. Um sich diesen Heraus­for­de­run­gen zu stel­len, wird der «konkrete Hori­zont» des Sozia­lis­mus, von dem Jadue spricht, durch den nach­hal­ti­gen Aufbau von Orga­ni­sa­tio­nen, durch die Mobi­li­sie­rung der Massen und durch poli­ti­sche Bildung, einschließ­lich des Kamp­fes der Ideen und des Kamp­fes der Emotio­nen, erar­bei­tet (ein Teil davon, versteht sich, ist die Arbeit von Tricon­ti­nen­tal: Insti­tute for Social Rese­arch und dieses neue Dossier, von dem wir hoffen, dass ihr es liest und als Diskus­si­ons­grund­lage weiter teilt).

 

Herz­lichst,

 

Vijay

 

PS: Das Jahr neigt sich dem Ende zu, und ich wende mich noch einmal an euch, um euch um eure mate­ri­elle Hilfe zu bitten. Der Aufbau eines Insti­tuts wie Tricon­ti­nen­tal erfor­dert Ressour­cen, und wir hoffen, dass ihr euch uns anschliesst und so viel wie möglich für unser Projekt spen­den werdet.

 
 
Aus dem Engli­schen von Claire Louise Blaser.