Diejenigen, die sich bemühen, die Welt zu verändern, kennen sie gut.

Der sechsundvierzigste Newsletter (2022).

K.C.S. Pani­ker (Indien), Words and Symbols, 1968.

Liebe Freund*innen,

 

Grüße aus dem Büro des Tricon­ti­nen­tal: Insti­tute for Social Rese­arch.

 

Im Jahr 1845 machte Karl Marx einige Noti­zen für Die Deut­sche Ideo­lo­gie, ein Buch, das er zusam­men mit seinem engen Freund Fried­rich Engels schrieb. Engels fand diese Noti­zen 1888, fünf Jahre nach Marx’ Tod, und veröf­fent­lichte sie unter dem Titel Thesen über Feuer­bach. Die elfte These ist die berühm­teste: «Die Philo­so­phen haben die Welt nur verschie­den inter­pre­tiert; es kommt drauf an, sie zu verändern».

 

In den letz­ten fünf Jahren haben wir, das Tricon­ti­nen­tal: Insti­tute for Social Rese­arch, diese These mit großer Sorg­falt erwo­gen. Die am weites­ten verbrei­tete Inter­pre­ta­tion dieser These ist, dass Marx darin die Menschen auffor­dert, die Welt nicht nur zu inter­pre­tie­ren, sondern auch zu versu­chen, sie zu verän­dern. Wir glau­ben jedoch nicht, dass dies den Sinn des Satzes erfasst. Wir glau­ben, dass Marx damit sagen will, dass dieje­ni­gen, die versu­chen, die Welt zu verän­dern, ein besse­res Gespür für ihre Zwänge und Möglich­kei­ten haben, weil sie auf das stoßen, was Frantz Fanon den «Granit­block» von Macht, Eigen­tum und Privi­le­gien nennt, der einen einfa­chen Über­gang von Unge­rech­tig­keit zu Gerech­tig­keit verhin­dert. Deshalb entwi­ckeln wir von Tricon­ti­nen­tal: Insti­tute for Social Rese­arch unsere Analy­sen auf der Grund­lage des Wissens, das poli­ti­sche und soziale Bewe­gun­gen im Laufe der Jahre ange­sam­melt haben. Wir glau­ben, dass dieje­ni­gen, die für die Verän­de­rung der Welt kämp­fen, eine gewisse Klar­heit über die Struk­tu­ren haben, die sie definieren.

Fran­cis Newton Souza (Indien), The Fore­man, 1961.

Die Volks­be­we­gun­gen in der ganzen Welt entste­hen aus der Not und den Hoff­nun­gen der Arbeiter*innen und Bäuer*innen, der Menschen, die ausge­beu­tet werden, um Kapi­tal für die weni­gen Besit­zen­den anzu­häu­fen, und die von sozia­len Hier­ar­chien unter­drückt werden. Wenn sich genü­gend Menschen weigern, sich den hart­nä­cki­gen Gege­ben­hei­ten des Hungers oder des Analpha­be­ten­tums zu beugen, können ihre Aktio­nen in eine Rebel­lion oder sogar in eine Revo­lu­tion münden. Diese Verwei­ge­rung der Unter­wer­fung setzt Vertrauen und Klar­heit voraus.

 

Vertrauen ist etwas Geheim­nis­vol­les, manch­mal die Kraft einer Persön­lich­keit, manch­mal die Kraft der Erfah­rung. Klar­heit entsteht, wenn man weiß, wer an den Hebeln der Ausbeu­tung und Unter­drü­ckung sitzt und wie diese Systeme der Ausbeu­tung und Unter­drü­ckung funk­tio­nie­ren. Dieses Wissen ergibt sich aus den Erfah­run­gen der Arbeit und des Lebens, und es wird durch den Kampf um die Über­win­dung dieser Bedin­gun­gen geschärft.

Das Vertrauen und die Klar­heit, die im Kampf aufge­baut werden, können sich leicht verflüch­ti­gen, wenn sie nicht in einer Orga­ni­sa­tion wie einer Bauern­ge­werk­schaft, einer Frau­en­or­ga­ni­sa­tion, einer Gewerk­schaft, einer kommu­na­len Gruppe oder einer poli­ti­schen Partei gesam­melt werden. In dem Maße, in dem diese Orga­ni­sa­tio­nen wach­sen und reifen, entwi­ckeln sie die Praxis, unter der Führung des Volkes zu handeln und so ein histo­ri­sches Bewusst­sein, eine Analyse der poli­ti­schen Situa­tion und eine klare Einschät­zung der Hier­ar­chien zu gewinnen.

 

Dieser Prozess der akti­vis­ti­schen Forschung ist der Kern des Inter­views, das wir mit R. Chandra von der All India Demo­cra­tic Women’s Asso­cia­tion (AIDWA) für unser Dossier Nr. 58 (Novem­ber 2022) geführt haben. Chandra erzählt uns, wie AIDWA-Akti­vis­tin­nen im südli­chen Bundes­staat Tamil Nadu Erhe­bun­gen durch­führ­ten, um die Lebens- und Arbeits­be­din­gun­gen der Frauen dort besser zu verste­hen, und sie erklärt, wie diese Erhe­bun­gen Infor­ma­tio­nen über Ausbeu­tung und Unter­drü­ckung liefer­ten, die zur Grund­lage für die Kampa­gnen von AIDWA gewor­den sind. Durch diese Kampa­gnen hat AIDWA mehr über den «Granit­block» von Macht, Privi­le­gien und Eigen­tum erfah­ren. Der rekur­sive Prozess zwischen Kampf und Forschung hat es der Orga­ni­sa­tion ermög­licht, ihre theo­re­ti­sche Grund­lage aufzu­bauen und ihren Kampf zu stärken.

Chandra zeigt uns im Detail, wie AIDWA die Umfra­gen konzi­pierte, wie lokale Akti­vis­tin­nen sie durch­führ­ten, wie ihre Ergeb­nisse zu konkre­ten Kämp­fen führ­ten und wie sie die AIDWA-Mitglie­der darin schul­ten, eine klare Einschät­zung ihrer Gesell­schaft und der Kämpfe zu entwi­ckeln, die notwen­dig sind zur Über­win­dung der Heraus­for­de­run­gen, denen die Menschen gegen­über­ste­hen. «Die AIDWA-Mitglie­der brau­chen keine Profes­so­rin mehr, die  ihnen hilft», sagt Chandra. «Sie formu­lie­ren ihre eige­nen Fragen und führen ihre eige­nen Feld­stu­dien durch, wenn sie ein Thema aufgrei­fen. Da sie den Wert der Studien kennen, sind diese Frauen zu einem wich­ti­gen Teil der Arbeit von AIDWA vor Ort gewor­den. Sie brin­gen diese Forschung in die Kampa­gnen der Orga­ni­sa­tion ein, disku­tie­ren die Ergeb­nisse in unse­ren diver­sen Ausschüs­sen und stel­len sie auf unse­ren verschie­de­nen Konfe­ren­zen vor».

 

Diese akti­vis­ti­sche Forschung schafft nicht nur Wissen über die Hier­ar­chien, die an einem bestimm­ten Ort herr­schen, sondern bildet die Akti­vis­tin­nen auch zu «neuen Intel­lek­tu­el­len» ihrer Kämpfe und zu Anfüh­re­rin­nen in ihren Gemein­schaf­ten aus.

Anita Malfatti (Brasi­lien), Tropi­cal, 1917.

Im Laufe der Jahre hat unser Team am Tricon­ti­nen­tal: Insti­tute for Social Rese­arch auf der Grund­lage von Inter­views mit Führungs­leu­ten von Bewe­gun­gen aus Afrika, Asien und Latein­ame­rika eine eigene Metho­dik der akti­vis­ti­schen Forschung entwi­ckelt, eine Metho­dik, die Wissen aus der Praxis heraus aufbaut. Diese Metho­dik besteht aus fünf Hauptachsen:

  1. Unsere Forscher*innen tref­fen sich mit Anführer*innen von Volks­be­we­gun­gen und führen lange Inter­views mit ihnen über Folgendes:
    • Die Geschichte der Bewegung
    • Der Prozess des Aufbaus der Bewegung
    • Die Gren­zen und Stär­ken der Bewegung

2. Unser Team studiert dann das Inter­view, liest das Tran­skript sorg­fäl­tig und erstellt eine Analyse dessen, was die Bewe­gung zusam­men­ge­fasst hat und welche Art von Theo­rie sie entwi­ckelt hat. Manch­mal wird das Inter­view von Tricon­ti­nen­tal: Insti­tute for Social Rese­arch als Text veröf­fent­licht, wie wir es mit den Inter­views mit K. Hemalata, Präsi­den­tin des Centre of Indian Trade Unions, mit S’bu Zikode von Abah­l­ali baseM­jon­dolo, der südafri­ka­ni­schen Bewe­gung der Hüttenbewohner*innen, und mit Neuri Rossetto von der brasi­lia­ni­schen Bewe­gung der Land­lo­sen getan haben.

 

3. Auf der Grund­lage der in den Inter­views vorge­stell­ten Analyse arbei­ten die Forscher*innen die Haupt­the­men heraus, die ihnen nütz­lich erschei­nen, und notie­ren sie, um sie weiter zu unter­su­chen. Diese Themen werden dann mit den Anführer*innen der Bewe­gung geteilt, um ihre Meinung dazu zu geben.

 

4. Wenn man sich auf diese Themen geei­nigt hat, arbei­ten unsere Forscher*innen – manch­mal zusam­men mit Forscher*innen aus der Bewe­gung, manch­mal allein – daran, einen Prozess zur Unter­su­chung dieser Themen aufzu­bauen, indem sie einschlä­gige akade­mi­sche Lite­ra­tur lesen und in Rück­spra­che mit der Bewe­gung weitere Forschun­gen (z. B. weitere Inter­views) sowie Umfra­gen in der Bevöl­ke­rung durch­füh­ren. Diese Forschung bildet das Herz­stück des Projekts.

 

5. Die Forschungs­er­geb­nisse werden dann analy­siert, zu einem Text ausge­ar­bei­tet und den Anführer*innen der Bewe­gung zur Stel­lung­nahme und Bewer­tung vorge­legt. In Zusam­men­ar­beit mit der Bewe­gung wird ein endgül­ti­ger Text zur Veröf­fent­li­chung erstellt.

 

Auf diese Weise führen wir unsere Arbeit durch, unsere Form der akti­vis­ti­schen Forschung, die wir von Orga­ni­sa­tio­nen wie AIDWA gelernt haben.

Während wir unser Dossier über akti­vis­ti­sche Forschung veröf­fent­lich­ten, versam­mel­ten sich Staats­ober­häup­ter und Vertreter*innen aus aller Welt in Sharm El-Sheikh (Ägyp­ten) zur 27. Vertrags­staa­ten­kon­fe­renz (COP) der Klima­rah­men­kon­ven­tion der Verein­ten Natio­nen, einer von der Stim­mung der Menschen komplett isolier­ten Konfe­renz. Diese 27. COP wird unter ande­rem von Coca-Cola finan­ziert, einem der größ­ten Wasser- und Plane­ten­ver­schwen­der. In Kairo, nicht weit von diesem Urlaubs­ort entfernt, sitzt der Menschen­rechts­ak­ti­vist Alaa Abd El-Fattah bereits seit zehn Jahren im Gefäng­nis. Er hat beschlos­sen, seinen Hunger­streik fort­zu­set­zen und trinkt kein Wasser mehr, Wasser, das von Unter­neh­men wie Coca-Cola zuneh­mend priva­ti­siert und, wie Guy Stan­ding es ausdrückt, den Blue Commons gestoh­len wird. Diese COP wird nichts Gutes brin­gen, keine Eini­gung, um die Klima­ka­ta­stro­phe zu verhindern.

 

Letz­tes Jahr nahm ich an der COP26 in Glas­gow teil. Während ich in der Schlange für einen PCR-Test stand, traf ich eine Gruppe von Ölmanager*innen, von denen einer auf meinen Pres­se­aus­weis schaute und mich fragte, was ich auf der Konfe­renz mache. Ich erzählte ihm, dass ich vor kurzem über die schreck­li­che Situa­tion in Cabo Delgado im Norden Mosam­biks berich­tet hatte, wo die Bevöl­ke­rung offen gegen ein Gasför­de­rungs­pro­jekt rebel­lierte, das von den fran­zö­si­schen und US-ameri­ka­ni­schen Unter­neh­men Total bzw. Exxon­Mo­bil gelei­tet wurde. Trotz der Gewinne aus dem in ihrer Region geför­der­ten Gas leben die Menschen weiter­hin in bitte­rer Armut. Anstatt etwas gegen diese Unge­rech­tig­keit zu unter­neh­men, unter­stell­ten die Regie­run­gen Mosam­biks, Frank­reichs und der Verei­nig­ten Staa­ten den Demonstrant*innen, sie seien Terrorist*innen, und forder­ten das ruan­di­sche Mili­tär zum Eingrei­fen auf.

 

Als wir in der Schlange stan­den, sagte einer der Ölma­na­ger zu mir: «Alles, was Sie sagen, ist wahr. Aber das kümmert nieman­den». Eine Stunde später, als ich in einem Saal in Glas­gow saß, wurde ich nach meiner Meinung zur Klima­de­batte gefragt, deren Begriffe von den Führungs­kräf­ten der fossi­len Brenn­stoffe und den Priva­ti­sie­rern der Natur geprägt wurden. Das habe ich gesagt:

Trau­ri­ger­weise ist dieser Beitrag ein Jahr später immer noch aktuell.

 

Herz­lichst,

 

Vijay

Aus dem Engli­schen von Claire Louise Blaser.