Diejenigen, die sich bemühen, die Welt zu verändern, kennen sie gut.
Der sechsundvierzigste Newsletter (2022).
Liebe Freund*innen,
Grüße aus dem Büro des Tricontinental: Institute for Social Research.
Im Jahr 1845 machte Karl Marx einige Notizen für Die Deutsche Ideologie, ein Buch, das er zusammen mit seinem engen Freund Friedrich Engels schrieb. Engels fand diese Notizen 1888, fünf Jahre nach Marx’ Tod, und veröffentlichte sie unter dem Titel Thesen über Feuerbach. Die elfte These ist die berühmteste: «Die Philosophen haben die Welt nur verschieden interpretiert; es kommt drauf an, sie zu verändern».
In den letzten fünf Jahren haben wir, das Tricontinental: Institute for Social Research, diese These mit großer Sorgfalt erwogen. Die am weitesten verbreitete Interpretation dieser These ist, dass Marx darin die Menschen auffordert, die Welt nicht nur zu interpretieren, sondern auch zu versuchen, sie zu verändern. Wir glauben jedoch nicht, dass dies den Sinn des Satzes erfasst. Wir glauben, dass Marx damit sagen will, dass diejenigen, die versuchen, die Welt zu verändern, ein besseres Gespür für ihre Zwänge und Möglichkeiten haben, weil sie auf das stoßen, was Frantz Fanon den «Granitblock» von Macht, Eigentum und Privilegien nennt, der einen einfachen Übergang von Ungerechtigkeit zu Gerechtigkeit verhindert. Deshalb entwickeln wir von Tricontinental: Institute for Social Research unsere Analysen auf der Grundlage des Wissens, das politische und soziale Bewegungen im Laufe der Jahre angesammelt haben. Wir glauben, dass diejenigen, die für die Veränderung der Welt kämpfen, eine gewisse Klarheit über die Strukturen haben, die sie definieren.
Die Volksbewegungen in der ganzen Welt entstehen aus der Not und den Hoffnungen der Arbeiter*innen und Bäuer*innen, der Menschen, die ausgebeutet werden, um Kapital für die wenigen Besitzenden anzuhäufen, und die von sozialen Hierarchien unterdrückt werden. Wenn sich genügend Menschen weigern, sich den hartnäckigen Gegebenheiten des Hungers oder des Analphabetentums zu beugen, können ihre Aktionen in eine Rebellion oder sogar in eine Revolution münden. Diese Verweigerung der Unterwerfung setzt Vertrauen und Klarheit voraus.
Vertrauen ist etwas Geheimnisvolles, manchmal die Kraft einer Persönlichkeit, manchmal die Kraft der Erfahrung. Klarheit entsteht, wenn man weiß, wer an den Hebeln der Ausbeutung und Unterdrückung sitzt und wie diese Systeme der Ausbeutung und Unterdrückung funktionieren. Dieses Wissen ergibt sich aus den Erfahrungen der Arbeit und des Lebens, und es wird durch den Kampf um die Überwindung dieser Bedingungen geschärft.
Das Vertrauen und die Klarheit, die im Kampf aufgebaut werden, können sich leicht verflüchtigen, wenn sie nicht in einer Organisation wie einer Bauerngewerkschaft, einer Frauenorganisation, einer Gewerkschaft, einer kommunalen Gruppe oder einer politischen Partei gesammelt werden. In dem Maße, in dem diese Organisationen wachsen und reifen, entwickeln sie die Praxis, unter der Führung des Volkes zu handeln und so ein historisches Bewusstsein, eine Analyse der politischen Situation und eine klare Einschätzung der Hierarchien zu gewinnen.
Dieser Prozess der aktivistischen Forschung ist der Kern des Interviews, das wir mit R. Chandra von der All India Democratic Women’s Association (AIDWA) für unser Dossier Nr. 58 (November 2022) geführt haben. Chandra erzählt uns, wie AIDWA-Aktivistinnen im südlichen Bundesstaat Tamil Nadu Erhebungen durchführten, um die Lebens- und Arbeitsbedingungen der Frauen dort besser zu verstehen, und sie erklärt, wie diese Erhebungen Informationen über Ausbeutung und Unterdrückung lieferten, die zur Grundlage für die Kampagnen von AIDWA geworden sind. Durch diese Kampagnen hat AIDWA mehr über den «Granitblock» von Macht, Privilegien und Eigentum erfahren. Der rekursive Prozess zwischen Kampf und Forschung hat es der Organisation ermöglicht, ihre theoretische Grundlage aufzubauen und ihren Kampf zu stärken.
Chandra zeigt uns im Detail, wie AIDWA die Umfragen konzipierte, wie lokale Aktivistinnen sie durchführten, wie ihre Ergebnisse zu konkreten Kämpfen führten und wie sie die AIDWA-Mitglieder darin schulten, eine klare Einschätzung ihrer Gesellschaft und der Kämpfe zu entwickeln, die notwendig sind zur Überwindung der Herausforderungen, denen die Menschen gegenüberstehen. «Die AIDWA-Mitglieder brauchen keine Professorin mehr, die ihnen hilft», sagt Chandra. «Sie formulieren ihre eigenen Fragen und führen ihre eigenen Feldstudien durch, wenn sie ein Thema aufgreifen. Da sie den Wert der Studien kennen, sind diese Frauen zu einem wichtigen Teil der Arbeit von AIDWA vor Ort geworden. Sie bringen diese Forschung in die Kampagnen der Organisation ein, diskutieren die Ergebnisse in unseren diversen Ausschüssen und stellen sie auf unseren verschiedenen Konferenzen vor».
Diese aktivistische Forschung schafft nicht nur Wissen über die Hierarchien, die an einem bestimmten Ort herrschen, sondern bildet die Aktivistinnen auch zu «neuen Intellektuellen» ihrer Kämpfe und zu Anführerinnen in ihren Gemeinschaften aus.
Im Laufe der Jahre hat unser Team am Tricontinental: Institute for Social Research auf der Grundlage von Interviews mit Führungsleuten von Bewegungen aus Afrika, Asien und Lateinamerika eine eigene Methodik der aktivistischen Forschung entwickelt, eine Methodik, die Wissen aus der Praxis heraus aufbaut. Diese Methodik besteht aus fünf Hauptachsen:
- Unsere Forscher*innen treffen sich mit Anführer*innen von Volksbewegungen und führen lange Interviews mit ihnen über Folgendes:
- Die Geschichte der Bewegung
- Der Prozess des Aufbaus der Bewegung
- Die Grenzen und Stärken der Bewegung
2. Unser Team studiert dann das Interview, liest das Transkript sorgfältig und erstellt eine Analyse dessen, was die Bewegung zusammengefasst hat und welche Art von Theorie sie entwickelt hat. Manchmal wird das Interview von Tricontinental: Institute for Social Research als Text veröffentlicht, wie wir es mit den Interviews mit K. Hemalata, Präsidentin des Centre of Indian Trade Unions, mit S’bu Zikode von Abahlali baseMjondolo, der südafrikanischen Bewegung der Hüttenbewohner*innen, und mit Neuri Rossetto von der brasilianischen Bewegung der Landlosen getan haben.
3. Auf der Grundlage der in den Interviews vorgestellten Analyse arbeiten die Forscher*innen die Hauptthemen heraus, die ihnen nützlich erscheinen, und notieren sie, um sie weiter zu untersuchen. Diese Themen werden dann mit den Anführer*innen der Bewegung geteilt, um ihre Meinung dazu zu geben.
4. Wenn man sich auf diese Themen geeinigt hat, arbeiten unsere Forscher*innen – manchmal zusammen mit Forscher*innen aus der Bewegung, manchmal allein – daran, einen Prozess zur Untersuchung dieser Themen aufzubauen, indem sie einschlägige akademische Literatur lesen und in Rücksprache mit der Bewegung weitere Forschungen (z. B. weitere Interviews) sowie Umfragen in der Bevölkerung durchführen. Diese Forschung bildet das Herzstück des Projekts.
5. Die Forschungsergebnisse werden dann analysiert, zu einem Text ausgearbeitet und den Anführer*innen der Bewegung zur Stellungnahme und Bewertung vorgelegt. In Zusammenarbeit mit der Bewegung wird ein endgültiger Text zur Veröffentlichung erstellt.
Auf diese Weise führen wir unsere Arbeit durch, unsere Form der aktivistischen Forschung, die wir von Organisationen wie AIDWA gelernt haben.
Während wir unser Dossier über aktivistische Forschung veröffentlichten, versammelten sich Staatsoberhäupter und Vertreter*innen aus aller Welt in Sharm El-Sheikh (Ägypten) zur 27. Vertragsstaatenkonferenz (COP) der Klimarahmenkonvention der Vereinten Nationen, einer von der Stimmung der Menschen komplett isolierten Konferenz. Diese 27. COP wird unter anderem von Coca-Cola finanziert, einem der größten Wasser- und Planetenverschwender. In Kairo, nicht weit von diesem Urlaubsort entfernt, sitzt der Menschenrechtsaktivist Alaa Abd El-Fattah bereits seit zehn Jahren im Gefängnis. Er hat beschlossen, seinen Hungerstreik fortzusetzen und trinkt kein Wasser mehr, Wasser, das von Unternehmen wie Coca-Cola zunehmend privatisiert und, wie Guy Standing es ausdrückt, den Blue Commons gestohlen wird. Diese COP wird nichts Gutes bringen, keine Einigung, um die Klimakatastrophe zu verhindern.
Letztes Jahr nahm ich an der COP26 in Glasgow teil. Während ich in der Schlange für einen PCR-Test stand, traf ich eine Gruppe von Ölmanager*innen, von denen einer auf meinen Presseausweis schaute und mich fragte, was ich auf der Konferenz mache. Ich erzählte ihm, dass ich vor kurzem über die schreckliche Situation in Cabo Delgado im Norden Mosambiks berichtet hatte, wo die Bevölkerung offen gegen ein Gasförderungsprojekt rebellierte, das von den französischen und US-amerikanischen Unternehmen Total bzw. ExxonMobil geleitet wurde. Trotz der Gewinne aus dem in ihrer Region geförderten Gas leben die Menschen weiterhin in bitterer Armut. Anstatt etwas gegen diese Ungerechtigkeit zu unternehmen, unterstellten die Regierungen Mosambiks, Frankreichs und der Vereinigten Staaten den Demonstrant*innen, sie seien Terrorist*innen, und forderten das ruandische Militär zum Eingreifen auf.
Als wir in der Schlange standen, sagte einer der Ölmanager zu mir: «Alles, was Sie sagen, ist wahr. Aber das kümmert niemanden». Eine Stunde später, als ich in einem Saal in Glasgow saß, wurde ich nach meiner Meinung zur Klimadebatte gefragt, deren Begriffe von den Führungskräften der fossilen Brennstoffe und den Privatisierern der Natur geprägt wurden. Das habe ich gesagt:
Traurigerweise ist dieser Beitrag ein Jahr später immer noch aktuell.
Herzlichst,
Vijay