Einmal tief durchatmen und dann zurück zum Aufbau einer besseren Welt.
Der sechsundvierzigste Newsletter (2020).
Liebe Freund*innen,
Grüsse vom Schreibtisch des Tricontinental: Institute for Social Research.
Nach langem Zittern summierten sich am Jahrestag der 1917 Oktoberrevolution schliesslich die Zahlen und US-Präsident Donald Trump musste feststellen, dass er – obwohl er über 70 Millionen Stimmen gewonnen hatte – nicht wiedergewählt würde. Sein Rivale, Joe Biden, ist seit vier Jahrzehnten in öffentlichen Ämtern tätig – mit einer Bilanz, die niemanden täuschen dürfte. Aber dies war weniger eine Wahl für Biden als vielmehr eine Wahl gegen Trump. Mehr noch, es war eine Volksabstimmung gegen die Neofaschisten auf der ganzen Welt, die sich darüber freuten, dass Trump für ihre widerwärtigen Anliegen warb, die auf Rassismus, Frauenfeindlichkeit und anderen armseligen sozialen Merkmalen beruhen, die eine ungleiche hierarchische Ordnung jeder Gesellschaft vorziehen. Trumps Schlappe in den Umfragen wirkt sich nicht unmittelbar auf Politiker wie den indischen Premierminister Narendra Modi und den brasilianischen Präsidenten Jair Bolsonaro aus, da beide trotz ihrer miserablen Leistung während der Pandemie steigende Umfragewerte verzeichnen konnten. Dennoch wird ihre hochgiftige Mentalität nicht mehr von der Kanzel des Weissen Hauses aus verbreitet werden.
Präsident Biden wird die Mauern des Weissen Hauses von diesem Gift reinwaschen, aber nicht von den sonstigen «normalen» Terrorakten, die der Welt von der US-Regierung im Namen der herrschenden Eliten der nordatlantischen Staaten und der von ihnen kontrollierten transnationalen Unternehmen angetan werden. Es sollte keine Illusionen über die Zeit geben, die mit der Amtseinführung Bidens im Januar 2021 beginnt. In mehreren wichtigen Fragen wird sich wenig ändern: die illegalen Sanktionen gegen Länder wie Kuba, Iran und Venezuela; die totale Loyalität gegenüber dem israelischen Projekt zur Vernichtung Palästinas; der Handelskrieg gegen China; die Vernachlässigung des Problems der zunehmenden Ungleichheit und des vollständigen sozialen Zusammenbruchs; Zurückhaltung bei der Umstellung der Vereinigten Staaten auf Energie aus nicht-fossilen Brennstoffen. Biden – und seine Vizepräsidentin Kamala Harris – werden die Sprache des «Multilateralismus» sprechen, aber nur, um die Stärkung des nordatlantischen Bündnissystems gegenüber dem Rest des Planeten durch die G7 und die NATO voranzutreiben. Und mit vom republikanischen Senat gebunden Händen, in dem der verkrustete Konservatismus von Senator Mitch McConnell herrscht, wird eine Biden-Präsidentschaft weiterhin die Interessen der US-Eliten gegen ein erstarkendes China vertreten. Die Geschichte verbietet uns, zuversichtlich zu sein; unser grosser Kampf, die Welt zu Fairness und Gleichheit zu führen, geht weiter.
«Wir werden nicht zur Normalität zurückkehren», sagten die Protestierenden in Chile letztes Jahr, «denn die Normalität war das Problem». Eine Rückkehr zur Normalität ist im Kontext der Pandemie ohnehin nicht möglich. Ende letzten Monats schrieb die Exekutivdirektorin von UN Women, Phumzile Mlambo-Ngcuka, einen eindringlichen Essay darüber, wie sich die Pandemie auf Frauen in der ganzen Welt ausgewirkt hat. Die Untersuchung von UN Women ergab, dass allein im Jahr 2021 47 Millionen Frauen und Mädchen «durch COVID-19 in extreme Armut getrieben werden könnten, so dass sich die Gesamtzahl auf 435 Millionen erhöhen würde». «Ohne entschlossenes und gezieltes Handeln», schrieb sie, «wird die daraus resultierende Not tief greifend sein».
In der vergangenen Woche veröffentlichte das Tricontinental: Institute for Social Research eine Studie mit dem Titel CoronaShock and Patriarchy («Der Corona-Schock und das Patriarchat»), die sich mit den geschlechtsspezifischen Auswirkungen der Pandemie und dem daraus resultierenden Grossen Lockdown befasst. Diese bahnbrechende Studie wurde von Mitgliedern unseres Teams in Argentinien, Brasilien, Indien, Südafrika und den Vereinigten Staaten unter der Leitung unserer stellvertretenden Direktorin Renata Porto Bugni erforscht und verfasst. Die Forschungsarbeit stützte sich u.a. auf die Beiträge des Weltweiten Marsches der Frauen in Brasilien, der 8M Feminist Coordination in Chile, der Young Nurses Indaba Trade Union und der Abahlali Base Mjondolo in Südafrika, der All-India Democratic Women’s Association in Indien, der Union of Workers of the Popular Economy (UTEP) in Argentinien und der UN Women. Dies ist einer der umfassendsten Berichte, die ich über die sozialen Auswirkungen dieser Pandemie, insbesondere im globalen Süden, gelesen habe.
Die Studie besteht aus drei Teilen. Der erste Teil beschreibt ausführlich die wirtschaftlichen Beeinträchtigungen, die der Grosse Lockdown für berufstätige Frauen brachte, und zeigt auf, wie Frauen – von denen viele ihren Arbeitsplatz während des Wirtschaftsabschwungs verloren haben — zusätzliche, nicht anerkannte häusliche Pflege- und Betreuungsaufgaben übernehmen mussten. Es werden einige der Herausforderungen umrissen, denen sich diejenigen gegenübersehen, die durch die globale patriarchalische Wirtschaft marginalisiert werden, wie informelle Arbeiterinnen und LGBTQIA+-Personen. Die Feminisierung der Armut ist eine wichtige Folge dieser Krise. Nicht nur haben Frauen ihre Arbeit verloren, sondern wir sehen auch eine massive Zwangsmigration von Arbeiter*innen und die Vertreibung der Armen aus ihren Häusern von Indien bis Brasilien. Die soziale Last dieser Umwälzungen fällt in erster Linie auf die Schultern von Frauen aus der Arbeiterklasse.
Im zweiten Teil der Studie konzentrierte sich unser Team auf die Pflegearbeit und darauf, wie die Last der reproduktiven Arbeit hauptsächlich auf Frauen ruht. «Feministinnen sagen seit Jahren, dass die Pflegewirtschaft die Grundlage der globalen Wirtschaft ist», schrieb Mlambo-Ngcuka von UN Women, «jetzt hat COVID-19 die Pflegeökonomie in das öffentliche Bewusstsein katapultiert wie nie zuvor». Unsere Studie bestätigt diese Einschätzung und plädiert dafür, diese weitgehend «unsichtbare» Arbeit zu entlohnen oder zu sozialisieren, z.B. durch die Schaffung von Nachbarschaftskooperativen für Kinderbetreuung und Altenpflege. «Zugang zu Pflege», so sagte mir Renata Porto Bugni, sollte «nicht länger ein Privileg sein, sondern zu einem Menschenrecht werden». «Mehr als alles andere», sagte sie, «muss diese Pflegearbeit von den geschlechtsspezifischen Verpflichtungen der Familie losgelöst und fest im sozialen Bereich verankert werden».
Wir haben bereits den Beginn einer Diskussion über die «Schattenpandemie» gesehen, nämlich die Zunahme patriarchalischer Gewalt während des Grossen Lockdown. Im dritten Teil der Studie beschreibt unser Team die Komplexität und den Charakter dieser Gewalt während der ausgedehnten Periode der Quarantäne. «Das Fehlen sozialer Netzwerke in den fortgeschrittenen Industrieländern und die frauenfeindliche Rhetorik der Neofaschisten bieten», so Porto Bugni, «einen fruchtbaren Boden für alltägliche Brutalität und für die Grausamkeit der Gewalt».
Der letzte Abschnitt der Studie enthält eine achtzehn Punkte umfassende Liste feministischer Forderungen, die aus den Kampagnen von Organisationen auf der ganzen Welt zusammengetragen wurden. Diese Liste stellt das Wohlergehen der Menschheit und unseres Planeten vor das Streben nach endloser Anhäufung von Profit und den Einsatz des Patriarchats zur Begünstigung dieses Strebens. «Die Gesellschaft», so Porto Bugni, «wird so weit abgebaut, dass sie zusammenbricht. Wir wollen die Botschaft weitergeben, dass es an der Zeit ist, das aus der Vergangenheit geerbte Hierarchiedenken und Elend abzuschütteln; wir wollen die für die Zukunft notwendigen Utopien aufbauen».
Das Vorwort der Studie wurde von Eli Gómez Alcorta, der argentinischen Ministerin für Frauen, Geschlecht und Vielfalt, verfasst. Gómez Alcorta ist eine Anwältin, die sich seit Jahrzehnten am Kampf für eine bessere Welt beteiligt. Ihr Vorwort zu unserem Werk ist eindringlich und trägt das volle Gewicht ihrer Erfahrung und der Erfahrung der feministischen Bewegung in Argentinien:
Die COVID-19-Pandemie machte vieles von dem, was feministische und sozialistische Bewegungen seit einiger Zeit ansprechen, sichtbar und deutlich. Zunächst einmal, dass wir in einem System leben, das ein grauenhaftes und beispielloses Ausmass an Ungleichheit, Ausgrenzung, Hass und Diskriminierung erlangt hat, sodass dies «normal» oder «natürlich» geworden ist. Es ist nicht übertrieben zu sagen, dass wir, wenn wir nicht Schluss machen mit dieser «Normalität», direkt auf die Zerstörung des Planeten und der Menschheit zusteuern werden. Zweitens hat COVID-19 auf globaler Ebene auch die Bedeutung des Staates wieder deutlich gemacht und einmal mehr die Zentralität staatlicher Interventionen beleuchtet – nicht irgendeine Art von Intervention, sondern die Intervention eines Staates, der sich um Mensch und Gesundheit kümmert und Leben bewahrt. Die Pandemie hat auch die Fürsorgearbeit wie nie zuvor ins Rampenlicht gerückt und Licht auf Aufgaben geworfen, die historisch feminisiert, sozial und wirtschaftlich abgewertet und zunehmend prekärer geworden sind.
…
Auf den Schultern derer stehend, die vor uns kämpften, auf den Schultern der Schwestern unserer Patria Grande («Grossen Heimat») und der Welt, müssen wir daran arbeiten, aus dieser Krise besser als bisher hervorzugehen. Alles steht zur Debatte und wir sind uns sicher, dass diese Debatte mit einem populären, fortschrittlichen und feministischen Konsens beginnt.
Der vierte und letzte Aufruf für die Antiimperialistische Posterausstellung befasst sich mit dem Thema Hybridkrieg. Die Ausstellung wird in der Woche vor den Wahlen zur Nationalversammlung in Venezuela eröffnet, einer Nation, die mit Zähnen und Klauen gegen den brutalen Hybridkrieg wehrt, der ihnen von den imperialistischen Mächten unter Führung der USA aufgedrängt wurde. Weitere Informationen (auf Englisch) dazu gibt es hier; die Frist für die Einreichung der Arbeiten endet am 19. November.
Herzlichst,
Vijay.
Maria Belén Roca Pamich, wissenschaftliche Mitarbeiterin, Buenos-Aires-Büro
Ich koordinierte Futuros Pensados: Encrucijadas y desafíos en tiempos de pandemia global («Nachdenkliche Zukunft: Wendepunkte und Herausforderungen in Zeiten einer globalen Pandemie»), eine Zusammenstellung von Artikeln, die zum Nachdenken über das Warum der Pandemie anregen und einige Anhaltspunkte zum Nachdenken über die nahe Zukunft skizzieren. Als Teil dieses Prozesses des Nachdenkens über die Zukunft nach der Pandemie und über politische Alternativen, die es zu bauen gilt, organisieren wir ein lateinamerikanisches Seminar, das auch Futuros pensados genannt wird. Ausserdem sind wir dabei, zusammen mit der Arbeitsgruppe zur Volkswirtschaftslehre eine Broschüre über die Erfahrungen der Bewegung der ausgegrenzten Arbeiter*innen und einige Debatten zur Volkswirtschaftslehre fertigzustellen.
Aus dem Englischen übersetzt von Claire Louise Blaser.