
Aus Gaza und Kuba kommt die Frage: «Bist du Mensch wie wir?»
Der fünfundvierzigste Newsletter (2023)

Liebe Freund*innen,
Grüße aus dem Büro von Tricontinental: Institut for Social Research.
Mehr als 10.000 Palästinenser*innen wurden seit dem 7. Oktober von israelischen Streitkräften im Gazastreifen getötet, fast die Hälfte davon Kinder, so der jüngste Bericht des Sprechers des Gesundheitsministeriums von Gaza, Dr. Ashraf Al-Qudra. Mehr als 25.000 weitere Menschen wurden verletzt, Tausende sind noch immer unter den Trümmern begraben. In der Zwischenzeit haben israelische Panzer begonnen, Gaza-Stadt einzukesseln, wo vor einem Monat noch 600.000 Menschen lebten, deren Viertel jetzt aber größtenteils leer stehen, weil die Bewohner*innen verzweifelt in die südlichen Schutzgebiete des Gazastreifens geflohen sind und Israel Tausende von palästinensischen Zivilist*innen in ihren Häusern umgebracht hat. Israel hat die Stadt abgeriegelt und mit Razzien begonnen, bei denen es von Tür zu Tür geht, um den Terror der Besatzung vom Himmel auf die Straße zu bringen. Diejenigen, die in ihren Häusern auf diese Razzien warten, könnten das Gedicht von Mahmoud Darwish (1941–2008) flüstern, das an den israelischen Soldaten gerichtet ist, der bereit ist, die Tür eines palästinensischen Hauses einzutreten:
Du da, an der Schwelle unserer Tür,
komm herein und trinke arabischen Kaffee mit uns
(du spürst vielleicht, dass du ein Mensch bist wie wir)
Du da, an der Schwelle unserer Tür,
geh weg aus unseren Morgen
damit wir sicher sein können, dass
wir Menschen sind wie du
Wenn die israelischen Soldat*innen anfangen, von Tür zu Tür zu gehen, bleibt keine Zeit mehr für Kaffee, nicht nur, weil es keinen Kaffee oder kein Wasser mehr gibt, sondern weil den israelischen Soldat*innen gesagt wurde, dass Palästinenser*innen keine Menschen sind. Man hat ihnen gesagt, dass Palästinenser*innen Terroristen und Tiere sind. In den Augen der Besatzer*innen ist die einzige Behandlung, die Palästinenser*innen verdienen, dass man sie angreift, erschießt, tötet und völlig ausrottet. Der Wille zu Völkermord und ethnischer Säuberung beherrscht die Äußerungen hochrangiger israelischer Amtsinhaber*innen und hat ihr Vorgehen in diesem Krieg bestimmt. Das Wort zivile Opfer wird unter den Tisch gekehrt, ebenso wie die Forderung nach einem Waffenstillstand. Der Sprecher des Kinderhilfswerks der Vereinten Nationen (UNICEF), James Elder, sagte zu dieser Situation: «Gaza ist zu einem Friedhof für Tausende von Kindern geworden. Für alle anderen ist es die Hölle auf Erden».

Selbst wenn hochrangige US-Beamte von einer «humanitären Pause» sprechen, bringen sie weiterhin Milliarden von Dollar und mehr Waffensysteme für das israelische Militär auf. Diese Idee einer «humanitären Pause» ist eine juristische Floskel, bedeutungslos für das Überleben der Menschen im Gazastreifen: Die Pause würde die Bombardierung für einen kurzen Zeitraum beenden, vielleicht nur für ein paar Stunden, damit die Verwundeten abtransportiert und einige Hilfsgüter nach Gaza-Stadt gebracht werden können, bevor die Israelis grünes Licht für die Wiederaufnahme ihres mörderischen Bombardements geben. Bislang hat Israel mehr Sprengstoff auf Gaza abgeworfen als die beiden Bomben zusammen, die 1945 auf Hiroshima und Nagasaki abgeworfen wurden.
Die Verweigerung sowohl eines Waffenstillstands wie auch der Möglichkeit politischer Verhandlungen unter der Obhut der UNO ist eine Politik, die die USA nicht nur in Palästina betreiben; es ist dieselbe Politik, die die USA zusammen mit ihren Partnern in der Nordatlantikvertragsorganisation (NATO) in der Ukraine durchgesetzt haben. Ein neuer Nachtragshaushalt, der sich auf insgesamt 105 Milliarden Dollar beläuft (zusätzlich zu dem – wahrscheinlich zu niedrig ausgewiesenen – 858-Milliarden-Dollar-Militärhaushalt für 2023), enthält 61,4 Milliarden Dollar für den zermürbenden Krieg in der Ukraine und 14,1 Milliarden Dollar für den israelischen Völkermord an den Palästinenser*innen. Obwohl Tage nach dem Einmarsch russischer Truppen in die Ukraine Friedensgespräche zwischen den ukrainischen und russischen Behörden in Weißrussland und der Türkei aufgenommen wurden, brach die NATO diese Gespräche überstürzt ab, was den Konflikt, der bisher fast 10.000 zivile Todesopfer gefordert hat, weiter anheizte. Die Zahl der zivilen Todesopfer in der Ukraine während eines Jahres und acht Monaten des Konflikts wurde bereits von der Zahl der zivilen Todesopfer in Palästina in nur vier Wochen übertroffen.

Es ist kein Zufall, dass diese drei Länder – die USA, die Ukraine und Israel – die einzigen sind, die nicht für die diesjährige Resolution der UN-Vollversammlung zur Beendigung des sechs Jahrzehnte währenden US-Embargos gegen Kuba gestimmt haben (das formell von US-Präsident John F. Kennedy am 3. Februar 1962 verhängt wurde, aber bereits 1960 begann). Die USA haben diese Blockade nicht nur gegen Kuba als Land, sondern auch gegen die kubanische Revolution als Prozess verhängt. Als die kubanische Revolution 1959 mit Nachdruck erklärte, dass sie die Souveränität des kubanischen Territoriums verteidigen und die Würde des kubanischen Volkes fördern würde, sahen die USA darin nicht nur eine Bedrohung für ihre kriminellen Interessen auf der Insel, sondern auch für ihre Fähigkeit, die Kontrolle über globale Angelegenheiten zu behalten, die durch eine potenzielle Ausbreitung des revolutionären Prozesses zu zerbrechen drohte. Wenn Kuba damit durchkommt, sich um seine eigene Bevölkerung zu kümmern und sogar anderen, die für ihr Recht auf dasselbe kämpfen, Solidarität zu gewähren, bevor es sich den Forderungen der transnationalen Konzerne im Besitz der USA beugt, könnten andere Länder vielleicht eine ähnliche Haltung einnehmen. Es war diese Angst vor der Souveränität, die die Blockadepolitik auslöste.
Obwohl die Blockade die kubanische Revolution seit 1960 Hunderte von Milliarden Dollar gekostet hat, konnte sie die Revolution nicht davon abhalten, die Würde der Menschen zu stärken. So berichtete die Weltbank, dass die kubanische Regierung im Jahr 2020 trotz der strengen Blockade und der COVID-19-Pandemie 11,5 % ihres Bruttoinlandsprodukts für Bildung ausgab, während die USA 5,4 % aufwandten. Nicht nur sind alle Schulen für kubanische Kinder kostenlos, sondern alle kubanischen Kinder erhalten in der Schule eine Mahlzeit und bekommen ihre Schuluniformen. Auch die medizinische Ausbildung ist in Kuba kostenlos, was zu einem hohen Arzt-Patienten-Verhältnis von 8,4 Ärzt*innen und 7,1 Krankenpfleger*innen pro 1.000 Kubaner*innen führt. Der kubanische Außenminister Bruno Rodríguez Parrilla erklärte vor der UN-Vollversammlung, dass «die Sorge für den Menschen die Priorität der kubanischen Regierung ist und bleiben wird». Die Blockade sei zwar eine «wirtschaftliche Kriegsführung», aber die kubanische Revolution – die seit Jahrzehnten mit dieser «wirtschaftlichen Belagerung» konfrontiert ist – werde nicht nachgeben. Sie wird standhaft bleiben.

Die Blockade ist grausam. Außenminister Rodríguez Parrilla nannte einige Beispiele für diese Grausamkeit, etwa als die US-Regierung Kuba daran hinderte, Lungenbeatmungsgeräte und medizinischen Sauerstoff (auch aus anderen lateinamerikanischen Ländern) einzuführen. Kubanische Wissenschaftler*innen und Ingenieur*innen entwickelten daraufhin ihre eigenen Beatmungsgeräte, ebenso wie sie ihre eigenen COVID-19-Impfstoffe herstellten. Während der Pandemie, so Rodríguez Parrilla, bot die US-Regierung anderen Ländern humanitäre Ausnahmen an, verweigerte sie aber Kuba. «Die Realität», so Rodríguez Parrilla, «ist, dass die US-Regierung COVID-19 opportunistisch als Verbündeten in ihrer feindseligen Politik gegenüber Kuba benutzt hat».
Darwish fragt die israelischen Soldaten nach ihrer Menschlichkeit, danach, ob sie in der Lage sind, Palästinenser*innen als Menschen zu sehen. Das Gleiche sollte man US-Regierungsbeamte fragen, die die Blockade gegen Kuba fördern und verfolgen: sehen sie die Kubaner*innen als Menschen an?

Im Juni dieses Jahres lud der Pariser Poesiemarkt die kubanische Dichterin Nancy Morejón ein, seine Ehrenpräsidentin 2023 zu werden. Kurz vor der Veranstaltung sagten die Organisator*innen des Poesiefestivals diese Ehrung ab und erklärten, sie reagierten damit auf «Druck» und «Gerüchte». Das kubanische Außenministerium verurteilte diese Absage als Teil der «Belagerung des faschistischen Hasses auf die kubanische Kultur», einer anderen Art von Blockade. Hier ist Nancy Morejóns Réquiem para la mano izquierda («Requiem für die linke Hand»), das wie ein Gespräch zwischen der Menschlichkeit von Darwishs Poesie und den Rhythmen der kubanischen Musikerin Marta Valdés (der dieses Gedicht gewidmet ist) wirkt:
Auf einer Landkarte könnte man alle Linien nachzeichnen
horizontal, vertikal, diagonal
vom Meridian von Greenwich bis zum Golf von Mexiko
die mehr oder weniger
zu unserer Besonderheit gehören
Es gibt auch große, große, große Karten
in deiner Vorstellung
und endlose Globen der Erde,
Marta
Aber heute vermute ich, dass die winzigste, winzigste Karte
auf Schulheftpapier skizziert
groß genug sein würde, um die ganze Geschichte zu erfassen.
Die ganze Geschichte.
Herzlichst,
Vijay