Aus Gaza und Kuba kommt die Frage: «Bist du Mensch wie wir?»

Der fünfundvierzigste Newsletter (2023)

Rachid Koraichi (Alge­rien), One Plate, from A Nation in Exile, ca. 1981.

Liebe Freund*innen,

 

Grüße aus dem Büro von Tricon­ti­nen­tal: Insti­tut for Social Rese­arch.

 

Mehr als 10.000 Palästinenser*innen wurden seit dem 7. Okto­ber von israe­li­schen Streit­kräf­ten im Gaza­strei­fen getö­tet, fast die Hälfte davon Kinder, so der jüngste Bericht des Spre­chers des Gesund­heits­mi­nis­te­ri­ums von Gaza, Dr. Ashraf Al-Qudra. Mehr als 25.000 weitere Menschen wurden verletzt, Tausende sind noch immer unter den Trüm­mern begra­ben. In der Zwischen­zeit haben israe­li­sche Panzer begon­nen, Gaza-Stadt einzu­kes­seln, wo vor einem Monat noch 600.000 Menschen lebten, deren Vier­tel jetzt aber größ­ten­teils leer stehen, weil die Bewohner*innen verzwei­felt in die südli­chen Schutz­ge­biete des Gaza­strei­fens geflo­hen sind und Israel Tausende von paläs­ti­nen­si­schen Zivilist*innen in ihren Häusern umge­bracht hat. Israel hat die Stadt abge­rie­gelt und mit Razzien begon­nen, bei denen es von Tür zu Tür geht, um den Terror der Besat­zung vom Himmel auf die Straße zu brin­gen. Dieje­ni­gen, die in ihren Häusern auf diese Razzien warten, könn­ten das Gedicht von Mahmoud Darwish (1941–2008) flüs­tern, das an den israe­li­schen Solda­ten gerich­tet ist, der bereit ist, die Tür eines paläs­ti­nen­si­schen Hauses einzutreten:



Du da, an der Schwelle unse­rer Tür,

komm herein und trinke arabi­schen Kaffee mit uns

(du spürst viel­leicht, dass du ein Mensch bist wie wir)

Du da, an der Schwelle unse­rer Tür,

geh weg aus unse­ren Morgen

damit wir sicher sein können, dass

wir Menschen sind wie du

 

Wenn die israe­li­schen Soldat*innen anfan­gen, von Tür zu Tür zu gehen, bleibt keine Zeit mehr für Kaffee, nicht nur, weil es keinen Kaffee oder kein Wasser mehr gibt, sondern weil den israe­li­schen Soldat*innen gesagt wurde, dass Palästinenser*innen keine Menschen sind. Man hat ihnen gesagt, dass Palästinenser*innen Terro­ris­ten und Tiere sind. In den Augen der Besatzer*innen ist die einzige Behand­lung, die Palästinenser*innen verdie­nen, dass man sie angreift, erschießt, tötet und völlig ausrot­tet. Der Wille zu Völker­mord und ethni­scher Säube­rung beherrscht die Äuße­run­gen hoch­ran­gi­ger israe­li­scher Amtsinhaber*innen und hat ihr Vorge­hen in diesem Krieg bestimmt. Das Wort zivile Opfer wird unter den Tisch gekehrt, ebenso wie die Forde­rung nach einem Waffen­still­stand. Der Spre­cher des Kinder­hilfs­werks der Verein­ten Natio­nen (UNICEF), James Elder, sagte zu dieser Situa­tion: «Gaza ist zu einem Fried­hof für Tausende von Kindern gewor­den. Für alle ande­ren ist es die Hölle auf Erden».

Laila Shawa (Paläs­tina), Target 2009, 2009.

Selbst wenn hoch­ran­gige US-Beamte von einer «huma­ni­tä­ren Pause» spre­chen, brin­gen sie weiter­hin Milli­ar­den von Dollar und mehr Waffen­sys­teme für das israe­li­sche Mili­tär auf. Diese Idee einer «huma­ni­tä­ren Pause» ist eine juris­ti­sche Flos­kel, bedeu­tungs­los für das Über­le­ben der Menschen im Gaza­strei­fen: Die Pause würde die Bombar­die­rung für einen kurzen Zeit­raum been­den, viel­leicht nur für ein paar Stun­den, damit die Verwun­de­ten abtrans­por­tiert und einige Hilfs­gü­ter nach Gaza-Stadt gebracht werden können, bevor die Israe­lis grünes Licht für die Wieder­auf­nahme ihres mörde­ri­schen Bombar­de­ments geben. Bislang hat Israel mehr Spreng­stoff auf Gaza abge­wor­fen als die beiden Bomben zusam­men, die 1945 auf Hiro­shima und Naga­saki abge­wor­fen wurden.

 

Die Verwei­ge­rung sowohl eines Waffen­still­stands wie auch der Möglich­keit poli­ti­scher Verhand­lun­gen unter der Obhut der UNO ist eine Poli­tik, die die USA nicht nur in Paläs­tina betrei­ben; es ist dieselbe Poli­tik, die die USA zusam­men mit ihren Part­nern in der Nord­at­lan­tik­ver­trags­or­ga­ni­sa­tion (NATO) in der Ukraine durch­ge­setzt haben. Ein neuer Nach­trags­haus­halt, der sich auf insge­samt 105 Milli­ar­den Dollar beläuft (zusätz­lich zu dem – wahr­schein­lich zu nied­rig ausge­wie­se­nen – 858-Milli­ar­den-Dollar-Mili­tär­haus­halt für 2023), enthält 61,4 Milli­ar­den Dollar für den zermür­ben­den Krieg in der Ukraine und 14,1 Milli­ar­den Dollar für den israe­li­schen Völker­mord an den Palästinenser*innen. Obwohl Tage nach dem Einmarsch russi­scher Trup­pen in die Ukraine Frie­dens­ge­sprä­che zwischen den ukrai­ni­schen und russi­schen Behör­den in Weiß­russ­land und der Türkei aufge­nom­men wurden, brach die NATO diese Gesprä­che über­stürzt ab, was den Konflikt, der bisher fast 10.000 zivile Todes­op­fer gefor­dert hat, weiter anheizte. Die Zahl der zivi­len Todes­op­fer in der Ukraine während eines Jahres und acht Mona­ten des Konflikts wurde bereits von der Zahl der zivi­len Todes­op­fer in Paläs­tina in nur vier Wochen übertroffen.

Belkis Ayón (Kuba), La cena, 1991.

Es ist kein Zufall, dass diese drei Länder – die USA, die Ukraine und Israel – die einzi­gen sind, die nicht für die dies­jäh­rige Reso­lu­tion der UN-Voll­ver­samm­lung zur Been­di­gung des sechs Jahr­zehnte währen­den US-Embar­gos gegen Kuba gestimmt haben (das formell von US-Präsi­dent John F. Kennedy am 3. Februar 1962 verhängt wurde, aber bereits 1960 begann). Die USA haben diese Blockade nicht nur gegen Kuba als Land, sondern auch gegen die kuba­ni­sche Revo­lu­tion als Prozess verhängt. Als die kuba­ni­sche Revo­lu­tion 1959 mit Nach­druck erklärte, dass sie die Souve­rä­ni­tät des kuba­ni­schen Terri­to­ri­ums vertei­di­gen und die Würde des kuba­ni­schen Volkes fördern würde, sahen die USA darin nicht nur eine Bedro­hung für ihre krimi­nel­len Inter­es­sen auf der Insel, sondern auch für ihre Fähig­keit, die Kontrolle über globale Ange­le­gen­hei­ten zu behal­ten, die durch eine poten­zi­elle Ausbrei­tung des revo­lu­tio­nä­ren Prozes­ses zu zerbre­chen drohte. Wenn Kuba damit durch­kommt, sich um seine eigene Bevöl­ke­rung zu kümmern und sogar ande­ren, die für ihr Recht auf dasselbe kämp­fen, Soli­da­ri­tät zu gewäh­ren, bevor es sich den Forde­run­gen der trans­na­tio­na­len Konzerne im Besitz der USA beugt, könn­ten andere Länder viel­leicht eine ähnli­che Haltung einneh­men. Es war diese Angst vor der Souve­rä­ni­tät, die die Blocka­de­po­li­tik auslöste.

 

Obwohl die Blockade die kuba­ni­sche Revo­lu­tion seit 1960 Hunderte von Milli­ar­den Dollar gekos­tet hat, konnte sie die Revo­lu­tion nicht davon abhal­ten, die Würde der Menschen zu stär­ken. So berich­tete die Welt­bank, dass die kuba­ni­sche Regie­rung im Jahr 2020 trotz der stren­gen Blockade und der COVID-19-Pande­mie 11,5 % ihres Brut­to­in­lands­pro­dukts für Bildung ausgab, während die USA 5,4 % aufwand­ten. Nicht nur sind alle Schu­len für kuba­ni­sche Kinder kosten­los, sondern alle kuba­ni­schen Kinder erhal­ten in der Schule eine Mahl­zeit und bekom­men ihre Schul­uni­for­men. Auch die medi­zi­ni­sche Ausbil­dung ist in Kuba kosten­los, was zu einem hohen Arzt-Pati­en­ten-Verhält­nis von 8,4 Ärzt*innen und 7,1 Krankenpfleger*innen pro 1.000 Kubaner*innen führt. Der kuba­ni­sche Außen­mi­nis­ter Bruno Rodrí­guez Parrilla erklärte vor der UN-Voll­ver­samm­lung, dass «die Sorge für den Menschen die Prio­ri­tät der kuba­ni­schen Regie­rung ist und blei­ben wird». Die Blockade sei zwar eine «wirt­schaft­li­che Kriegs­füh­rung», aber die kuba­ni­sche Revo­lu­tion – die seit Jahr­zehn­ten mit dieser «wirt­schaft­li­chen Bela­ge­rung» konfron­tiert ist – werde nicht nach­ge­ben. Sie wird stand­haft bleiben.

Raúl Martí­nez (Kuba), Rosas y Estrel­las, 1972.

Die Blockade ist grau­sam. Außen­mi­nis­ter Rodrí­guez Parrilla nannte einige Beispiele für diese Grau­sam­keit, etwa als die US-Regie­rung Kuba daran hinderte, Lungen­be­atmungs­ge­räte und medi­zi­ni­schen Sauer­stoff (auch aus ande­ren latein­ame­ri­ka­ni­schen Ländern) einzu­füh­ren. Kuba­ni­sche Wissenschaftler*innen und Ingenieur*innen entwi­ckel­ten darauf­hin ihre eige­nen Beatmungs­ge­räte, ebenso wie sie ihre eige­nen COVID-19-Impf­stoffe herstell­ten. Während der Pande­mie, so Rodrí­guez Parrilla, bot die US-Regie­rung ande­ren Ländern huma­ni­täre Ausnah­men an, verwei­gerte sie aber Kuba. «Die Reali­tät», so Rodrí­guez Parrilla, «ist, dass die US-Regie­rung COVID-19 oppor­tu­nis­tisch als Verbün­de­ten in ihrer feind­se­li­gen Poli­tik gegen­über Kuba benutzt hat».

 

Darwish fragt die israe­li­schen Solda­ten nach ihrer Mensch­lich­keit, danach, ob sie in der Lage sind, Palästinenser*innen als Menschen zu sehen. Das Glei­che sollte man US-Regie­rungs­be­amte fragen, die die Blockade gegen Kuba fördern und verfol­gen: sehen sie die Kubaner*innen als Menschen an?

Tings Chak (China), Pales­tine Will Be Free, 2023.

Im Juni dieses Jahres lud der Pari­ser Poesie­markt die kuba­ni­sche Dich­te­rin Nancy More­jón ein, seine Ehren­prä­si­den­tin 2023 zu werden. Kurz vor der Veran­stal­tung sagten die Organisator*innen des Poesie­fes­ti­vals diese Ehrung ab und erklär­ten, sie reagier­ten damit auf «Druck» und «Gerüchte». Das kuba­ni­sche Außen­mi­nis­te­rium verur­teilte diese Absage als Teil der «Bela­ge­rung des faschis­ti­schen Hasses auf die kuba­ni­sche Kultur», einer ande­ren Art von Blockade. Hier ist Nancy More­jóns Réquiem para la mano izquierda («Requiem für die linke Hand»), das wie ein Gespräch zwischen der Mensch­lich­keit von Darwishs Poesie und den Rhyth­men der kuba­ni­schen Musi­ke­rin Marta Valdés (der dieses Gedicht gewid­met ist) wirkt:

 

Auf einer Land­karte könnte man alle Linien nachzeichnen

hori­zon­tal, verti­kal, diagonal

vom Meri­dian von Green­wich bis zum Golf von Mexiko

die mehr oder weniger

zu unse­rer Beson­der­heit gehören

 

Es gibt auch große, große, große Karten

in deiner Vorstellung

und endlose Globen der Erde,

Marta

 

Aber heute vermute ich, dass die winzigste, winzigste Karte

auf Schul­heft­pa­pier skizziert

groß genug sein würde, um die ganze Geschichte zu erfassen.

Die ganze Geschichte.



Herz­lichst,

 

Vijay

 
 
Aus dem Engli­schen von Claire Louise Blaser.