
Der Angriff auf die Natur gefährdet die gesamte Menschheit.
Der fünfundvierzigste Newsletter (2022).

Liebe Freund*innen,
Grüße aus dem Büro von Tricontinental: Institute for Social Research.
In der letzten Oktoberwoche reiste João Pedro Stedile, ein Anführer der Bewegung der Landlosen Arbeiter (MST) in Brasilien und der weltweiten Bauernorganisation La Via Campesina, in den Vatikan, um am Internationalen Gebetstreffen für den Frieden teilzunehmen, das die Gemeinschaft Sant’Egídio organisiert hat. Am 30. Oktober fanden Präsidentschaftswahlen in Brasilien statt, die Luiz Inácio Lula da Silva, liebevoll Lula genannt, gewann. Ein wichtiger Teil seiner Kampagne betraf die unverantwortliche Gefährdung und Zerstörung des Amazonasgebiets durch seinen Gegner, den amtierenden Präsidenten Jair Bolsonaro. Lulas Sieg, zu dem auch die MST mit ihrer energischen Kampagne beigetragen hat, gibt Hoffnung für unsere Chance, den Planeten zu retten. Der Newsletter dieser Woche enthält die Rede, die Stedile im Vatikan gehalten hat. Wir hoffen, ihr findet sie genauso nützlich wie wir.

Heute ist die Menschheit in Gefahr – aufgrund beispielloser soziale Ungleichheit, Angriffen auf die Umwelt und nicht nachhaltigem Konsumverhalten in den reichen Ländern, aufgezwungen vom Kapitalismus und seinem Profitstreben.
Teil 1: Vor welchem Dilemmas steht die Menschheit?
- Der Klimawandel ist ein Faktum, und seine Auswirkungen zeigen sich jeden Tag in Form von starken Hitzeperioden, globaler Erwärmung, sintflutartigen Regenfällen, tropischen Wirbelstürmen und Dürren in verschiedenen Regionen der Erde.
- Die Zahl der Katastrophen/Verbrechen hat sich in den letzten 50 Jahren verfünffacht, wobei täglich 115 Menschen ums Leben kamen und wirtschaftliche Verluste in Höhe von 202 Millionen Dollar entstanden.
- Umweltverbrechen wie die Abholzung von Wäldern, das Abbrennen von Tropenwäldern und Angriffe auf alle Lebensräume, insbesondere im Globalen Süden, haben zugenommen. Allein im Jahr 2021 gingen weltweit 11,1 Millionen Hektar tropischer Wälder verloren.
- Der Amazonas-Regenwald, der sich über neun Länder erstreckt, hat bereits 30 % seiner Vegetationsdecke verloren, weil er für die Holzproduktion abgeholzt wurde, um Platz für die Viehzucht und den Anbau von Sojabohnen zu schaffen, die nach Europa und China exportiert werden.
- Alle Biome im Globalen Süden werden zerstört, um Agrarrohstoffe für den globalen Norden zu produzieren.
- Der räuberische Bergbau beeinträchtigt die Umwelt, das Wasser und das Land sowie indigene und bäuerliche Gemeinschaften, da Tausende von Garimpeiros (illegale Bergleute) Gold und Diamanten abbauen und dabei gefährliche Stoffe wie Quecksilber auf indigenem Land verwenden.
- Noch nie wurden in der Landwirtschaft des Südens so viele Agrotoxine (Agrargifte) eingesetzt, die die Bodenfruchtbarkeit beeinträchtigen, die Artenvielfalt zerstören, das Grundwasser und die Flüsse verschmutzen und die erzeugten Produkte sowie auch die Atmosphäre verseuchen.
- Glyphosat verursacht Krebs, das ist wissenschaftliche nachgwiesen. Rund 42 700 an Krebs erkrankte US-Landwirt*innen haben von den Unternehmen, die das Glyphosat, dem sie ausgesetzt waren, herstellen, verkaufen und verwenden, eine Entschädigung gefordert.
- Überall auf der Welt wird immer mehr gentechnisch verändertes Saatgut angebaut, 2019 auf insgesamt fast 200 Millionen Hektar in 29 Ländern. Dieses Saatgut verursacht eine genetische Kontamination von nicht gentechnisch verändertem Saatgut, beeinträchtigt die menschliche Gesundheit und zerstört die biologische Vielfalt des Planeten, da es den Einsatz von Agrotoxinen erfordert.
- Die Ozeane werden durch Plastik und andere menschliche Abfälle verschmutzt, wodurch viele Fischarten und Meereslebewesen getötet werden. Der massive Einsatz von chemischen Düngemitteln hat außerdem zu einer Versauerung der Meere geführt, die das gesamte Meeresleben gefährdet. Ein Beweis dafür ist der große Müllteppich im Pazifik, der sich über eine Million Quadratkilometer erstreckt.
- Das Kohlendioxid, das durch die Verbrennung fossiler Brennstoffe und den Individualverkehr in Autos freigesetzt wird, führt zu einer Verschmutzung der Großstädte, die wiederum den Tod von Tausenden von Menschen verursacht: Allein im Nordosten und in der mittelatlantischen Region der Vereinigten Staaten starben in einem einzigen Jahr 7.100 Menschen an den Folgen von Autoabgasen.
- Die Menschheit leidet unter einer Krise der öffentlichen Gesundheit, die auch untrennbar mit der Natur verbunden ist. Epidemien und Pandemien haben zugenommen und eine massive globale Gesundheitskrise ausgelöst, die Millionen von Menschen gefährdet. Dieses Phänomen, das häufig durch die zunehmende Übertragung von Krankheiten von Tieren auf Menschen (so genannte Zoonosen) begünstigt wird, ist eine Folge der gleichzeitigen Zerstörung der biologischen Vielfalt und der Ausdehnung der landwirtschaftlichen Grenzen durch die Agrarindustrie und Megaprojekte in den Bereichen Energie, Bergbau und Verkehr sowie durch die städtische und Massentierhaltung.
- Viele Gebiete auf unserem Planeten werden von bäuerlichen und indigenen Gemeinschaften geschützt. Das Kapital greift sie an und versucht, sie zu zerstören, um die Kontrolle über die von ihnen geschützten Naturgüter zu erlangen.
- Wir befinden uns in einer ökologisch-sozialen Krise des Erdsystems und des Gleichgewichts des Lebens. Diese globale Krise betrifft die Umwelt, die Wirtschaft, die Politik, die Gesellschaft, die Ethik, die Religionen und den Sinn unseres eigenen Lebens.
- Die Milliarden der ärmsten Menschen der Welt sind am stärksten vom Mangel an Nahrung, Wasser, Wohnraum, Arbeit, Einkommen und Bildung betroffen. Die sich verschlechternden Lebensbedingungen zwingen sie zur Migration und haben Tausende von Menschen, insbesondere Kinder und Frauen, getötet.
- Diese allgemeine Krise bedroht das menschliche Leben. Ohne mutiges Handeln könnte sich der angegriffene Planet noch regenerieren, aber ohne Menschen.

Teil 2: Wer ist verantwortlich für die Gefährdung der Menschheit?
- Der Kapitalismus befindet sich in einer strukturellen Krise. Er ist nicht mehr in der Lage, die Produktion und Verteilung von Gütern, die die Menschen brauchen, zu organisieren. Seine Logik von Profits und Kapitalakkumulation verhindert eine gerechtere und egalitärere Gesellschaft.
- Diese Krise manifestiert sich in der Wirtschaft, in der zunehmenden sozialen Ungleichheit, im Versagen des Staates als Garant sozialer Rechte, im Versagen der formalen Demokratie, den Willen der meisten Menschen zu respektieren, und in der Verbreitung falscher Werte, die ausschließlich auf Individualismus, Konsumdenken und Egoismus beruhen. Dieses System ist wirtschaftlich und ökologisch unhaltbar, und wir müssen es hinter uns lassen.
- Die Hauptverantwortlichen für die Umweltkrise sind große transnationale Konzerne, die weder Grenzen noch Staaten, Regierungen oder die Rechte der Völker respektieren. Einige dieser Konzerne wie Bayer, BASF, Monsanto, Syngenta und DuPont stellen Agrotoxine her, während andere den Bergbau, den Automobilsektor und die mit fossilen Brennstoffen betriebene Elektrizitätswirtschaft leiten, und wieder andere kontrollieren den Wassermarkt (wie Coca-Cola, Pepsi und Nestlé) und den Weltmarkt für Lebensmittel. Mit all diesen Unternehmen sind Banken und ihr Finanzkapital verbunden. Im letzten Jahrzehnt kamen zu diesen Konzernen mächtige transnationale Technologiekonzerne hinzu, die Ideologie und öffentliche Meinung kontrollieren (Amazon, Microsoft, Google, Facebook/Meta und Apple). Die Eigentümer*innen dieser Unternehmen gehören zu den reichsten Menschen der Welt.
- Die Konzerne sind jedoch nicht die einzigen, die für die Umweltkrise verantwortlich sind; sie werden unterstützt von:
- Regierungen, die die Verbrechen der Unternehmen vertuschen und schützen;
- Mainstream-Medien, die nach Profit streben und den Interessen der Unternehmen dienen, während sie die Menschen täuschen und die Verantwortlichen verstecken;
- und internationalen Organisationen, die von Regierungen gegründet und von Großkonzernen unter dem Deckmantel von Phantomstiftungen gekapert werden, die direkten Einfluss auf diese Organisationen nehmen und nur Rhetorik wiederholen und unwirksame internationale Treffen wie die Konferenz der Vertragsparteien (COP) abhalten, die inzwischen 27 Mal getagt hat. Dies gilt auch für die Vereinten Nationen und die Ernährungs- und Landwirtschaftsorganisation.
Alle diese Einrichtungen müssen das Recht respektieren.
5. Ich begrüße die mutige Stellungnahme des kolumbianischen Präsidenten Gustavo Petro vor der Generalversammlung der Vereinten Nationen im September 2022 und die Enzykliken von Papst Franziskus. Beide sind ein Weckruf für die ganze Welt.

Teil 3: Welche Lösungen fordern wir?
Noch ist Zeit, die Menschheit und damit unser gemeinsames Zuhause, den Planeten Erde, zu retten. Dazu müssen wir den Mut haben, konkrete und dringende Maßnahmen auf globaler Ebene umzusetzen. Im Namen der Bauernbewegungen und der Volksbewegungen in den städtischen Randgebieten fordern wir:
- Ein Verbot der Abholzung und des kommerziellen Abbrennens in allen einheimischen Wäldern und Savannen auf der ganzen Welt.
- Ein Verbot des Einsatzes von Agrotoxinen und gentechnisch verändertem Saatgut in der Landwirtschaft sowie von Antibiotika und Wachstumsförderern in der Viehzucht.
- Die Verurteilung aller Scheinlösungen für den Klimawandel und Geoengineering-Techniken, die vom Kapital vorgeschlagen werden, das mit der Natur spekuliert, einschließlich des Kohlenstoffmarktes.
- Ein Verbot des Bergbaus in den Gebieten indigener Völker und traditioneller Gemeinschaften sowie in Umwelt- und Naturschutzgebieten und die Forderung, dass jeglicher Bergbau öffentlich kontrolliert und für das Gemeinwohl – nicht für Profit – genutzt werden muss.
- Strenge Kontrolle der Verwendung von Kunststoffen, auch in der Lebensmittel- und Getränkeindustrie, und Verpflichtung zu deren Recycling.
- Die Anerkennung von Naturgüter (wie Wälder, Wasser und biologische Vielfalt) als universelle Gemeingüter im Dienste aller Menschen, die gegen kapitalistische Privatisierung immun sind.
- Die Anerkennung der Bäuer*innen als wichtigste Bewahrer*innen der Natur. Wir müssen gegen die Großgrundbesitzer*innen kämpfen und volksnahe Agrarreformen durchführen, um die soziale Ungleichheit und die Armut auf dem Lande zu bekämpfen und mehr Nahrungsmittel im Einklang mit der Natur zu produzieren.
- Durchführung eines umfassenden, mit öffentlichen Mitteln finanzierten Aufforstungsprogramms, das die ökologische Wiederherstellung aller Gebiete in der Nähe von Quellen und Flussufern, Hängen und anderen ökologisch sensiblen oder von Wüstenbildung betroffenen Gebieten gewährleistet.
- Die Umsetzung einer globalen Wasserpolitik, die die Verschmutzung von Meeren, Seen und Flüssen verhindert und die Verunreinigung von ober- und unterirdischen Trinkwasserquellen beseitigt.
- Die Verteidigung des Amazonas und anderer tropischer Wälder in Afrika, Asien und auf den pazifischen Inseln als ökologisches Territorium unter der Obhut der Völker der jeweiligen Länder.
- Die Umsetzung der Agrarökologie als soziotechnische Grundlage für Ernährungssouveränität, einschließlich der Produktion gesunder und für alle zugänglicher Lebensmittel.
- Die Subventionierung der Finanzierung, die für die Einführung von Solar- und Windenergiesystemen erforderlich ist, die unter der kollektiven Verwaltung der Bevölkerungen weltweit stehen werden.
- Die Umsetzung eines globalen Investitionsplans zur Bereitstellung öffentlicher Verkehrsmittel auf der Grundlage erneuerbarer Energien, die es ermöglichen, die Lebensbedingungen in den Städten neu zu organisieren und zu verbessern, so dass eine Dezentralisierung der Städte möglich wird und die Menschen auf dem Land bleiben können.
- Die Forderung, dass die Industrieländer des Nordens die finanziellen Mittel garantieren, um alle notwendigen Maßnahmen durchzuführen, um die Beziehung zwischen Gesellschaft und Natur auf nachhaltige Weise wiederherzustellen, in dem Bewusstsein, dass diese Länder historisch für die globale Verschmutzung verantwortlich sind und ungerechte und nicht nachhaltige Produktions- und Konsummuster fortführen.
- Die Forderung an alle Regierungen, Kriege zu beenden, ausländische Militärbasen zu schließen und militärische Aggressionen zu stoppen, um Leben und den Planeten zu retten, basierend auf dem Verständnis, dass Frieden eine Voraussetzung für ein gesundes Leben ist.

Um diese Ideen zu verwirklichen, schlagen wir einen internationalen Pakt zwischen religiösen Anführer*innen und Institutionen, Umwelt- und Volksbewegungen, Entscheidungsträger*innen und Regierungen vor, damit wir ein Programm schaffen können, das das Bewusstsein der gesamten Bevölkerung schärft. Wir schlagen vor, eine internationale Konferenz zu veranstalten, um alle kollektiven Akteure, die das Leben verteidigen, zusammenzubringen. Wir müssen die Menschen ermutigen, für ihre Rechte zur Verteidigung des Lebens und der Natur zu kämpfen. Wir müssen fordern, dass die Medien ihre Verantwortung wahrnehmen, um die Interessen der Menschen zu verteidigen und die Gleichberechtigung, das Leben und die Natur zu schützen.
Wir werden immer dafür kämpfen, Leben und unseren Planeten zu retten, um in Solidarität und in Frieden mit sozialer Gleichheit zu leben, emanzipiert von sozialer Ungerechtigkeit, Ausbeutung und Diskriminierung aller Art.

Dieser Text von João Pedro Stedile ist ein klarer Aufruf der MST, die Noam Chomsky als «die wichtigste Massenbewegung des Planeten» bezeichnet. Wir hoffen, von euch zu diesen Vorschlägen zu hören, und wir hoffen, dass Bewegungen auf der ganzen Welt sie in ihrer Arbeit aufgreifen werden.
Herzlichst,
Vijay