Werden die Menschen mit Waffen unserem Planeten zu atmen erlauben.

Der vierundvierzigste Newsletter (2021).

Chris Jordan (USA), Crus­hed Cars #2 Tacoma, 2004.

Liebe Freund*innen,

 

Grüße aus dem Büro des Tricon­ti­nen­tal: Insti­tute for Social Rese­arch.

 

Es ist viel­leicht passend, dass US-Präsi­dent Joe Biden zur 26. Vertrags­staa­ten­kon­fe­renz (COP26) über die Klima­ka­ta­stro­phe mit fünf­und­acht­zig Autos im Schlepp­tau nach Glas­gow kam, nach­dem er erklärt hatte: «Ich bin eben ein Auto­typ» (Details zur Klima­ka­ta­stro­phe kann man im Red Alert Nr. 11 nach­le­sen, «Nur eine Erde»). Nur in drei Länder auf der Welt gibt es mehr Autos pro Person als in den USA, und diese Länder (Finn­land, Andorra und Italien) haben eine viel klei­nere Bevöl­ke­rung als die Verei­nig­ten Staaten.


Kurz vor seiner Abreise zum G20-Gipfel, seinem Tref­fen mit Papst Fran­zis­kus und dem COP26 hat Biden seine Regie­rung veran­lasst, Druck auf die erdöl­pro­du­zie­ren­den Staa­ten (OPEC+) auszu­üben, damit diese «das Nötige tun, was die Versor­gung angeht» – nämlich die Ölpro­duk­tion zu erhö­hen. Während die USA die OPEC+ unter Druck setz­ten, die Ölpro­duk­tion zu erhö­hen, veröf­fent­lichte das UN-Umwelt­pro­gramm (UNEP) seinen wich­tigs­ten Bericht über welt­weite Emis­sio­nen. Das UNEP wies darauf hin, dass die G20-Länder für fast 80 % der welt­wei­ten Treib­haus­gase verant­wort­lich und die drei größ­ten Pro-Kopf-Emit­ten­ten Saudi-Arabien, Austra­lien und die Verei­nig­ten Staa­ten sind. Da die Bevöl­ke­rung von Saudi-Arabien (34 Millio­nen) und Austra­lien (26 Millio­nen) viel klei­ner ist als die der Verei­nig­ten Staa­ten (330 Millio­nen), liegt auf der Hand, dass die USA viel mehr CO2 aussto­ßen als diese beiden Länder: Auf Austra­lien entfal­len 1,2 % der welt­wei­ten Kohlen­stoff­emis­sio­nen, auf Saudi-Arabien 1,8 % und auf die Verei­nig­ten Staa­ten 14,8 %.

Fran­cesco Clemente (Italien), Sixteen Amulets for the Road (XII), 2012–2013.

Vor dem Tref­fen in Glas­gow trafen sich die Staats- und Regie­rungs­chefs der G20 in Rom, um ihr eige­nes Konzept für den Umgang mit der Klima­ka­ta­stro­phe fest­zu­le­gen. Das Kommu­ni­qué, das aus diesem Tref­fen hervor­ging, die «Erklä­rung der G20-Staats- und Regie­rungs­chefs von Rom», enthielt nur laue Begriffe wie «Fort­schritte machen», «Maßnah­men verstär­ken» und «ausbauen». Dem Bericht des Zwischen­staat­li­chen Ausschus­ses für Klima­än­de­run­gen (IPCC) zufolge ist es unwahr­schein­lich, dass das Haupt­ziel einer Erwär­mung um nicht mehr als 1,5 Grad Celsius gegen­über dem vorin­dus­tri­el­len Niveau erreicht wird, wenn die Kohlen­stoff­emis­sio­nen nicht redu­ziert werden. Der IPCC stellt fest, dass eine 83%ige Chance besteht, dieses Ziel zu errei­chen, wenn die Kohlen­stoff­emis­sio­nen von heute bis zu dem Zeit­punkt, an dem wir Netto-Null-Kohlen­stoff­emis­sio­nen errei­chen, auf 300 Giga­ton­nen redu­ziert werden (derzeit werden jähr­lich 35 Giga­ton­nen CO2 aus fossi­len Brenn­stof­fen ausge­sto­ßen). Es besteht nur eine 17%ige Chance, einen globa­len Tempe­ra­tur­an­stieg von nicht mehr als 1,5 Grad Celsius zu errei­chen, wenn wir die Emis­sio­nen nur auf 900 Giga­ton­nen redu­zie­ren können. Der IPCC weist darauf hin, dass die Chance, eine kata­stro­phale Erwär­mung zu verhin­dern, umso größer ist, je schnel­ler die Welt zu Netto-Null-Emis­sio­nen übergeht.

 

Auf der COP21-Konfe­renz 2015 in Paris wollte keines der mäch­ti­gen Länder den Begriff «Netto-Null-Emis­sio­nen» auch nur in den Mund nehmen. Dank der Arbeit der IPCC-Berichte und der welt­wei­ten Massen­kam­pa­gnen gegen den Klima­not­stand wird der Begriff nun den Staats- und Regie­rungs­chefs aufge­zwun­gen, die lieber «Auto­ty­pen» wären. Obwohl die Notwen­dig­keit, die Kohlen­stoff­emis­sio­nen bis 2050 auf null zu redu­zie­ren, seit eini­gen Jahren auf dem Tisch liegt, wurde dies in der Erklä­rung der G20 igno­riert und die vage Formu­lie­rung gewählt, dass die Netto­emis­sio­nen «bis oder um die Jahr­hun­dert­mitte» enden müssen. Auch über die globa­len Methan­emis­sio­nen, die nach CO2 das zweit­häu­figste anthro­po­gene Treib­haus­gas sind, wollte man nicht sprechen.

Iwan Suas­tika (Indo­ne­sien), The Beauty and the Fragile Ones (Planet Earth), 2020.

Einige Tage vor der COP26 sagte die UN-Hoch­kom­mis­sa­rin für Menschen­rechte, Michelle Bache­let: «Es ist an der Zeit, leere Reden, gebro­chene Verspre­chen und nicht einge­hal­tene Zusa­gen hinter uns zu lassen. Wir müssen ohne weitere Verzö­ge­rung Gesetze verab­schie­den, Programme umset­zen und Inves­ti­tio­nen zügig und ange­mes­sen finan­zie­ren». Zu Verzö­ge­run­gen kommt es aber bereits seit der UN-Konfe­renz über Umwelt und Entwick­lung 1992 in Rio de Janeiro. Im Anschluss an die UN-Konfe­renz über die mensch­li­che Umwelt in Stock­holm (1972) verpflich­te­ten sich die Länder der Welt, zwei Dinge zu tun: die Umwelt­zer­stö­rung umzu­keh­ren und die «gemein­same, aber diffe­ren­zierte Verant­wor­tung» von Indus­trie- und Entwick­lungs­län­dern anzu­er­ken­nen. Es war klar, dass die Indus­trie­län­der – vor allem der Westen, die alten Kolo­ni­al­mächte – weit mehr als ihren Anteil am «Kohlen­stoff­bud­get» verbraucht hatten, während die Entwick­lungs­län­der nicht annä­hernd so viel zur Klima­ka­ta­stro­phe beitru­gen und Schwie­rig­kei­ten hatten, ihre grund­le­gen­den Verpflich­tun­gen gegen­über ihrer Bevöl­ke­rung zu erfüllen.


Die Rio-Formel – gemein­same und diffe­ren­zierte Verant­wor­tung – stand über dem Kyoto-Proto­koll (1997) und den Pari­ser Verträ­gen (2015). Verspre­chun­gen wurden gemacht, aber nicht einge­hal­ten. Die Indus­trie­län­der verspra­chen eine «Klima­fi­nan­zie­rung», um die kata­stro­pha­len Folgen der Klima­ka­ta­stro­phe abzu­mil­dern und die Abhän­gig­keit von kohlen­stoff­ba­sier­ter Ener­gie auf andere Ener­gie­for­men zu verla­gern. Der Grüne Klima­fonds ist weit­aus klei­ner geblie­ben als die 2009 zuge­sag­ten 100 Milli­ar­den Dollar pro Jahr. Auf dem G20-Tref­fen in Rom wurde kein Konsens über diesen leeren Fonds erzielt; ist es dage­gen wich­tig, den kras­sen Gegen­satz dazu zu erken­nen, dass während der Pande­mie zwischen März 2020 und März 2021 insge­samt 16 Billio­nen Dollar an fiska­li­schen Anrei­zen ausge­zahlt wurden, haupt­säch­lich in den Indus­trie­län­dern. Da es unwahr­schein­lich ist, dass eine ernst­hafte Diskus­sion über die Klima­fi­nan­zie­rung statt­fin­det, wird die COP26 wahr­schein­lich ein Miss­erfolg werden.

He Neng (China), Water­front, 1986.

Tragi­scher­weise wurde der COP26-Prozess in die Matrix gefähr­li­cher geopo­li­ti­scher Span­nun­gen hinein­ge­zo­gen, die vor allem von den Verei­nig­ten Staa­ten in ihrem Bestre­ben, Chinas wissen­schaft­li­chen und tech­no­lo­gi­schen Fort­schritt zu verhin­dern, voran­ge­trie­ben werden. Im Mittel­punkt der Debatte steht die Kohle, und es wird argu­men­tiert, dass ohne eine Redu­zie­rung der Kohle­kraft­werke in China und Indien keine Kohlen­stoff­re­du­zie­rung möglich sei. Im Septem­ber sagte Chinas Präsi­dent Xi Jinping bei den Verein­ten Natio­nen: «China wird sich bemü­hen, den Höhe­punkt der Kohlen­di­oxid­emis­sio­nen vor 2030 zu errei­chen und vor 2060 kohlen­stoff­neu­tral zu werden»; er erklärte auch, dass China «keine neuen Kohle­kraft­werke in Über­see bauen» werde. Dies war eine monu­men­tale Aussage, die weit vor allen Zusa­gen der ande­ren großen Welt­mächte lag. Anstatt auf dieser Verpflich­tung aufzu­bauen, bestand die vom Westen geführte Debatte größ­ten­teils darin, die Entwick­lungs­län­der, einschließ­lich China, schlecht zu machen und ihnen die Schuld an der Klima­ka­ta­stro­phe zu geben.

 

Der Wirt­schafts­wis­sen­schaft­ler John Ross hat kürz­lich anhand der IPCC-Befunde gezeigt, dass der Pro-Kopf-Ausstoß der USA im Jahr 2030 bei einer Senkung der derzei­ti­gen Emis­sio­nen um 50–52 % gegen­über dem Stand von 2005 immer noch 220 % des welt­wei­ten Durch­schnitts betra­gen würde. Soll­ten die USA ihr Ziel errei­chen, lägen die Pro-Kopf-Kohlen­stoff­emis­sio­nen des Landes im Jahr 2030 um 42 % höher als die Chinas von heute. Die USA haben ange­deu­tet, dass sie die Emis­sio­nen bis 2030 um 50 % senken wollen. Da sie von den unglei­chen derzei­ti­gen Emis­si­ons­wer­ten ausge­hen würden, dürf­ten sie 8,0 Tonnen CO2 aussto­ßen, China 3,7 Tonnen, Brasi­lien 1,2 Tonnen, Indien 1,0 Tonnen und die Demo­kra­ti­sche Repu­blik Kongo 0,02 Tonnen. Ross zeigt, dass Chinas Pro-Kopf-CO2-Emis­sio­nen derzeit nur 46 % der US-Emis­sio­nen betra­gen, während andere Entwick­lungs­län­der weit weni­ger emit­tie­ren (Indo­ne­sien 15 %, Brasi­lien 14 %, Indien 12 %). Weitere Einzel­hei­ten könnt ihr dem Climate Equity Moni­tor entneh­men, der von der MS Swami­nathan Rese­arch Foun­da­tion und dem Natio­nal Insti­tute of Advan­ced Studies (Beng­aluru, Indien) entwi­ckelt wurde.

 

Anstatt sich auf die notwen­dige Ener­gie­wende zu konzen­trie­ren, entschie­den sich die Indus­trie­län­der zu einer plum­pen Propa­ganda gegen eine Hand­voll Entwick­lungs­län­der wie China und Indien. Der Bericht der Energy Tran­si­tion Commis­sion Making Mission Possi­ble: Deli­ve­ring a Net-Zero Economy schätzt die Kosten der Ener­gie­wende bis 2050 auf 0,5 % des globa­len BIP – ein unbe­deu­ten­der Betrag im Vergleich zu den kata­stro­pha­len Alter­na­ti­ven, wie dem Verschwin­den mehre­rer klei­ner Insel­staa­ten und der Zunahme von Wetterkapriolen.

 

Die Kosten der Ener­gie­wende sind gesun­ken, weil die Kosten für die Schlüs­sel­tech­no­lo­gien (Onshore-Wind­parks, Solar­zel­len, Batte­rien usw.) zurück­ge­gan­gen sind. Es ist jedoch wich­tig zu erken­nen, dass diese Kosten künst­lich nied­rig gehal­ten werden, weil die Löhne der Berg­leute, die wich­tige Mine­ra­lien und Metalle für diese Tech­no­lo­gien abbauen (z. B. Kobalt­berg­leute in der Demo­kra­ti­schen Repu­blik Kongo), sehr nied­rig sind und weil die Länder des Südens nur geringe Lizenz­ge­büh­ren für diese Rohstoffe einkas­sie­ren. Würden die tatsäch­li­chen Kosten bezahlt, wäre der Über­gang teurer, und die Länder des Südens hätten die Mittel, um den Über­gang zu bezah­len, ohne auf den Klima­fonds ange­wie­sen zu sein.

Victor Ehik­ha­menor (Nige­ria), Child of the Sky VII, 2015.

Tricon­ti­nen­tal: The Insiti­tute for Social Rese­arch wird zusam­men mit Dele­gier­ten der Inter­na­tio­na­len Völker­ver­samm­lung in Glas­gow sein. Wir werden an verschie­de­nen Veran­stal­tun­gen teil­neh­men, um ein Stim­mungs­bild der Volks­be­we­gun­gen zu erhal­ten. Bei der Konfe­renz haben Nnimmo Bassey von der Health of Mother Earth Foun­da­tion (Benin City, Nige­ria) und ich gemein­sam über die Kata­stro­phe gespro­chen. Bassey schrieb ein kraft­vol­les Gedicht mit dem Titel Return to Being, das hier abge­druckt ist:

 

Der Kampf tobt

Wer muss das Kohlen­stoff­bud­get verschlingen,

Mutter Erde in endlose Ballen von Smog einwickeln?

Wessen Aufgabe ist es, die Klima­schuld anzuhäufen

Und wessen Los ist es, der Kohlen­stoff­sklave zu sein?

Die Biosphäre kolonisieren

Die Ethno­sphäre auslöschen

Hoff­nun­gen kartiert in kolo­nia­len Geogra­fien des Todes

Vernarbt für den Sport, mit Fallen verse­hen und auf Blut schwimmend

Der Traum ist ausge­träumt, der Hahn hat gekräht,

Der Verrä­ter sucht sich einen Ast, um das Schwin­gen des Pendels nachzuahmen

Und der eine oder andere vergießt eine Träne für die Presse

Der Falke glei­tet sanft durch die Winde der Toten­klage und sucht eine unglück­li­che Beute

Toten­trom­meln plat­zen durch pulsie­rende Bizeps des Schmerzes

Flöten flüs­tern ein lange verges­se­nes Klage­lied, das plötz­lich aus den Tiefen 

der seit Jahren ausge­lösch­ten Geschichte auftaucht

Wenn Töch­ter und Söhne des Bodens Stücke von heili­gen Hügeln, Flüs­sen und Wäldern auflesen

erwacht Mutter Erde, umarmt ihre sicht­ba­ren und unsicht­ba­ren Kinder

Und endlich kehren die Menschen zum Leben zurück.

 

Herz­lichst,

Vijay

Aus dem Engli­schen von Claire Louise Blaser.