Wie der Internationale Währungsfonds ärmere Länder weiter schrumpfen lässt

Der dreiundvierzigste Newsletter (2023)

Liebe Freund*innen,

 

Grüße aus dem Büro von Tricon­ti­nen­tal: Insti­tute for Social Rese­arch.

 

Vom 9. bis 15. Okto­ber hiel­ten der Inter­na­tio­nale Währungs­fonds und die Welt­bank ihre jähr­li­che gemein­same Tagung in Marra­kesch (Marokko) ab. Das letzte Mal, dass diese beiden Bret­ton-Woods-Insti­tu­tio­nen auf afri­ka­ni­schem Boden zusam­men­tra­fen, war 1973, als die Tagung von IWF und Welt­bank in Nairobi (Kenia) statt­fand. Der dama­lige kenia­ni­sche Präsi­dent Jomo Kenyatta (1897–1978) forderte die Anwe­sen­den auf, «die mone­täre Krank­heit der Infla­tion und Insta­bi­li­tät, die die Welt heim­ge­sucht hat, bald zu heilen». Kenyatta, der 1964 Kenias erster Präsi­dent wurde, stellte fest, dass «in den letz­ten fünf­zehn Jahren viele Entwick­lungs­län­der jedes Jahr einen erheb­li­chen Teil ihres Jahres­ein­kom­mens durch die Verschlech­te­rung ihrer Terms of Trade verlo­ren haben». Die Entwick­lungs­län­der konn­ten die nega­ti­ven Terms of Trade nicht über­win­den, wenn sie Rohstoffe oder kaum verar­bei­tete Waren auf dem Welt­markt verkauf­ten und gleich­zei­tig auf die Einfuhr teurer Fertig­wa­ren und Ener­gie ange­wie­sen waren, selbst wenn sie ihr Export­vo­lu­men erhöh­ten. «In jüngs­ter Zeit», fügte Kenyatta hinzu, «hat die Infla­tion in den Indus­trie­län­dern zu weite­ren und erheb­li­chen Verlus­ten für die Entwick­lungs­län­der geführt».

 

«Die ganze Welt schaut auf Sie», sagte Kenyatta. «Und das nicht, weil viele Menschen die Details, über die Sie spre­chen, verste­hen, sondern die Welt schaut auf Sie, weil sie drin­gend auf Lösun­gen für Probleme warten, die ihr tägli­ches Leben betref­fen». Kenyat­tas Warnun­gen blie­ben unge­hört. Sechs Jahr­zehnte nach dem Tref­fen in Nairobi ist der Verlust von Natio­nal­ein­kom­men durch Schul­den und Infla­tion immer noch ein erns­tes Problem für die Entwick­lungs­län­der. Aber heut­zu­tage schaut die Welt nicht mehr hin. Die meis­ten Menschen wissen nicht einmal, dass der IWF und die Welt­bank in Marokko getagt haben, und nur wenige erwar­ten von ihnen, dass sie die Probleme der Welt lösen. Das liegt daran, dass die Menschen auf der ganzen Welt wissen, dass diese Insti­tu­tio­nen in Wirk­lich­keit die Verur­sa­cher des Leids und keines­wegs bereit sind, die Probleme zu lösen, die sie geschaf­fen und verschlim­mert haben.

Im Vorfeld des Tref­fens in Marokko veröf­fent­lichte Oxfam eine Erklä­rung, die den IWF und die Welt­bank scharf kriti­sierte, weil sie, «zum ersten Mal seit Jahr­zehn­ten nach Afrika zurück­ge­kehrt, die glei­che alte, geschei­terte Botschaft brach­ten: Kürzt eure Ausga­ben, entlasst die Beschäf­tig­ten des öffent­li­chen Diens­tes und bezahlt eure Schul­den trotz der enor­men mensch­li­chen Belas­tun­gen». Oxfam wies auf die Wirt­schafts­krise im Globa­len Süden hin und betonte, dass «mehr als die Hälfte (57 Prozent) der ärms­ten Länder der Welt, in denen 2,4 Milli­ar­den Menschen leben, in den nächs­ten fünf Jahren die öffent­li­chen Ausga­ben um insge­samt 229 Milli­ar­den Dollar kürzen müssen». Darüber hinaus zeig­ten sie, dass «die Länder mit nied­ri­gem und mitt­le­rem Einkom­men bis 2029 jeden Tag fast eine halbe Milli­arde Dollar an Zinsen und Schul­den­rück­zah­lun­gen aufbrin­gen müssen». Obwohl der IWF erklärt hat, dass er plant, «Sozi­al­aus­ga­ben­un­ter­gren­zen» zu schaf­fen, um Kürzun­gen der staat­li­chen Ausga­ben für öffent­li­che Dienst­leis­tun­gen zu verhin­dern, hat die Oxfam-Analyse von 27 IWF-Kredit­pro­gram­men erge­ben, dass «diese Unter­gren­zen ein Deck­man­tel für weitere Spar­maß­nah­men sind: Für jeden Dollar, den der IWF die Regie­run­gen für öffent­li­che Dienst­leis­tun­gen auszu­ge­ben ermu­tigte, hat er sie aufge­for­dert, durch Spar­maß­nah­men sechs­mal so viel zu kürzen». Die Unzu­läng­lich­keit der «Sozi­al­aus­ga­ben­un­ter­gren­zen» wurde auch von Human Rights Watch in ihrem jüngs­ten Bericht aufge­zeigt: Bandage on a Bullet Wound: IMF Social Spen­ding Floors and the COVID-19 Pande­mic («Ein Pflas­ter für eine Schuss­wunde: Sozi­al­aus­ga­ben­un­ter­gren­zen des IWF und die Covid-19-Pande­mie»).



Bei Tricon­ti­nen­tal: Insti­tute for Social Rese­arch beob­ach­ten wir weiter­hin die Auswir­kun­gen des IWF auf Entwick­lungs­län­der, unter ande­rem in unse­rem neuen Dossier How the Inter­na­tio­nal Mone­tary Fund Is Squeezing Paki­stan ((«Wie der Inter­na­tio­nale Währungs­fonds Paki­stan auspresst», Okto­ber 2023). Das Dossier, das von Taimur Rahman und seinen Kolle­gen im Rese­arch and Publi­ca­ti­ons Centre (Lahore, Paki­stan) verfasst und recher­chiert wurde, legt die struk­tu­rel­len Probleme der paki­sta­ni­schen Wirt­schaft dar, wie die geringe Produk­ti­vi­tät der export­ori­en­tier­ten Indus­trie und die hohen Kosten für impor­tierte Luxus­gü­ter. Aufgrund mangeln­der Inves­ti­tio­nen in die Indus­trie ist die Arbeits­pro­duk­ti­vi­tät Paki­stans nied­rig, so dass seine Exporte von ande­ren Ländern verdrängt werden (wie dies bei der Textil­in­dus­trie in Bangla­desch, China und Viet­nam der Fall ist). Die Einfuhr von Luxus­gü­tern wiederum wäre weit­aus verhee­ren­der für die Wirt­schaft, wenn es nicht die Dollar gäbe, die durch die Über­wei­sun­gen hart arbei­ten­der, aber schlecht behan­del­ter paki­sta­ni­scher Arbeiter*innen, vor allem in den Golf­staa­ten, verdient werden. Das ausufernde Defi­zit Paki­stans, so wird in dem Dossier erklärt, ist «darauf zurück­zu­füh­ren, dass Paki­stan auf dem inter­na­tio­na­len Markt nicht mehr wett­be­werbs­fä­hig ist und weiter­hin Waren und Dienst­leis­tun­gen in einem Umfang impor­tiert, den es sich einfach nicht leis­ten kann». Darüber hinaus haben die «vom IWF aufer­leg­ten Bedin­gun­gen dazu geführt, dass die Inves­ti­tio­nen, die Paki­stan drin­gend benö­tigt, um seine Infra­struk­tur zu verbes­sern und die Indus­tria­li­sie­rung zu beschleu­ni­gen, weiter zurück­ge­gan­gen sind». Der IWF verhin­dert nicht nur Inves­ti­tio­nen in die Indus­tria­li­sie­rung, sondern erzwingt auch Kürzun­gen bei den öffent­li­chen Dienst­leis­tun­gen (vor allem im Gesund­heits- und Bildungswesen).

 

Im Juli geneh­migte der IWF ein 3‑Mil­li­ar­den-Dollar-Bereit­schafts­ab­kom­men mit Paki­stan, von dem er behaup­tete, es würde «Raum für Sozial- und Entwick­lungs­aus­ga­ben schaf­fen, um der paki­sta­ni­schen Bevöl­ke­rung zu helfen». Der IWF versorgt Paki­stan jedoch einfach mit demsel­ben öden neoli­be­ra­len Paket und fordert «größere Haus­halts­dis­zi­plin, einen markt­be­stimm­ten Wech­sel­kurs, um exter­nen Druck aufzu­fan­gen, und weitere Fort­schritte bei Refor­men im Zusam­men­hang mit dem Ener­gie­sek­tor, der Klima­re­sis­tenz und dem Geschäfts­klima» – alles  Maßnah­men, die die Krise verschär­fen werden. Um die Dauer­haf­tig­keit dieser Maßnah­men zu gewähr­leis­ten, sprach der IWF nicht nur mit der Regie­rung des geschäfts­füh­ren­den Premier­mi­nis­ters Anwaar-ul-Haq Kakar, sondern auch mit dem ehema­li­gen Premier­mi­nis­ter Imran Khan (der 2022 aus dem Amt entfernt wurde, was von den Verei­nig­ten Staa­ten aufgrund seiner Neutra­li­tät im Ukraine-Krieg unter­stützt wurde). Damit nicht genug: Durch ihre Rolle als Vermitt­ler des Abkom­mens setzte die US-Regie­rung die paki­sta­ni­sche Regie­rung unter Druck, der Ukraine heim­lich Waffen über den zwei­fel­haf­ten Waffen­händ­ler Global Ordnance zu liefern. Dies macht ein ohne­hin schon schlech­tes Geschäft noch schlimmer.

Ähnli­che Verein­ba­run­gen wurden mit Ländern wie Argen­ti­nien, Sri Lanka und Sambia getrof­fen. Im Fall von Sri Lanka beispiels­weise bezeich­nete der Landes­lei­ter der IWF-Mission, Peter Breuer, die Verein­ba­rung mit dem IWF als «bruta­les Expe­ri­ment». Die sozia­len Folgen dieses Expe­ri­ments werden natür­lich von der srilan­ki­schen Bevöl­ke­rung getra­gen, deren Unmut von der Poli­zei und dem Mili­tär im Keim erstickt wird.

 

Im Februar zeigte sich diese Dyna­mik auch in Suri­nam, wo eine große Zahl von Menschen, die auf die Straße gingen, um gegen das vom IWF aufer­legte Spar­re­gime zu protes­tie­ren, mit Tränen­gas und Gummi­ge­schos­sen empfan­gen wurden. Seit Beginn der COVID-19-Pande­mie ist Suri­nam drei­mal mit seinen Auslands­ver­bind­lich­kei­ten in Verzug gera­ten, die größ­ten­teils wohl­ha­ben­den Anlei­he­gläu­bi­gern im Westen geschul­det sind, und im Dezem­ber 2021 erklärte die Regie­rung von Präsi­dent Chan Santokhi gegen­über dem IWF, dass sie die Subven­tio­nen für Ener­gie kürzen werde. Die Bewe­gung «We zijn Moe» («Wir haben es satt»), die sich gegen die Spar­maß­nah­men wendet, hat jahre­lang protes­tiert, konnte aber keine Agenda gegen die vom IWF aufer­legte Hunger­po­li­tik aufstel­len. «Ein hung­ri­ger Mob ist ein wüten­der Mob», schrieb Maggie Schmeitz über die Proteste.

 

Diese Proteste – von Suri­nam bis Sri Lanka – sind der jüngste Zyklus in einer langen Geschichte von IWF-Unru­hen, wie sie 1976 in Lima (Peru) began­nen und in den folgen­den Jahren in Jamaika, Boli­vien, Indo­ne­sien und Vene­zuela aufka­men. Als die IWF-Unru­hen 1985 in Indo­ne­sien ausbra­chen, war der lang­jäh­rige CEO der Bank of America, Tom Clau­sen, Präsi­dent der Welt­bank (1981–1986). In einer Bemer­kung, die er fünf Jahre zuvor gemacht hatte, brachte Clau­sen die Haltung der Bret­ton-Woods-Insti­tu­tio­nen gegen­über solchen Volks­auf­stän­den auf den Punkt: «Wenn die Menschen verzwei­felt sind, kommt es zu Revo­lu­tio­nen. Es liegt in unse­rem eige­nen Inter­esse, dafür zu sorgen, dass sie nicht dazu gezwun­gen werden. Man muss den Pati­en­ten am Leben erhal­ten, denn sonst kann man ihn nicht heilen».

Clau­sens «Heil­mit­tel» – Priva­ti­sie­rung, Kommer­zia­li­sie­rung und Libe­ra­li­sie­rung – ist nicht mehr glaub­wür­dig. Die Proteste der Bevöl­ke­rung, wie die in Suri­nam, spie­geln das breite Bewusst­sein für das Schei­tern der neoli­be­ra­len Agenda wider. Es werden neue Programme benö­tigt, zum Beispiel solche, die auf den folgen­den Ideen aufbauen:

 

    1. Strei­chung von Schul­den, die von unde­mo­kra­ti­schen Regie­run­gen aufge­nom­men und zum Nach­teil des Volkes verwen­det wurden.
    2. Umstruk­tu­rie­rung der Schul­den und Zwang für reiche Anlei­he­gläu­bi­ger, sich an der Last von Schul­den zu betei­li­gen, die nicht voll­stän­dig zurück­ge­zahlt werden können (ohne verhee­rende und fatale soziale Folgen zu verur­sa­chen), von denen sie aber jahr­zehn­te­lang profi­tiert haben.
    3. Unter­su­chung des Versäum­nis­ses multi­na­tio­na­ler Konzerne, ihren gerech­ten Anteil an Steu­ern an ärmere Länder zu zahlen, und Einfüh­rung von Geset­zen, die Formen des Dieb­stahls wie z. B. falsche Preis­ge­stal­tung bei Trans­fers verhindern.
    4. Unter­su­chung der Rolle ille­ga­ler Steu­er­pa­ra­diese, die es den Eliten in den ärme­ren Ländern ermög­li­chen, den sozia­len Reich­tum ihrer Länder an diesen Orten zu verste­cken, und Verfah­ren zur Rück­gabe dieses Geldes an die Öffentlichkeit.
    5. Ermu­ti­gung der ärme­ren Länder, neue Kredit­ge­ber in Anspruch zu nehmen, die sich nicht auf eine spar­same Kredit­ver­gabe fest­ge­legt haben, wie z. B. die Peop­les Bank of China und die New Deve­lo­p­ment Bank.
    6. Entwick­lung einer Indus­trie­po­li­tik, die auf die Schaf­fung von Arbeits­plät­zen, die Verrin­ge­rung der Zerstö­rung der Natur und die schritt­weise Einfüh­rung erneu­er­ba­rer Ener­gie­quel­len ausge­rich­tet ist.
    7. Einfüh­rung einer progres­si­ven Besteue­rung (insbe­son­dere von Gewin­nen) und eines exis­tenz­si­chern­den Lohns, um ein gerech­tes Einkom­men für Arbeit­neh­mer und eine gerechte Vertei­lung des Wohl­stands zu gewährleisten.

 

Diese Liste ist nicht voll­stän­dig. Wenn ihr andere Ideen für ein über­zeu­gen­des «Heil­mit­tel» habt, schreibt uns.

Die in diesem News­let­ter und dem Dossier gezeig­ten Foto­gra­fien stam­men von Ali Abbas («Nad E Ali»), einem in Lahore, Paki­stan, leben­den bilden­den Künst­ler, der sich in seiner Arbeit mit Themen wie Entfrem­dung, Zuge­hö­rig­keit und den in allen Kultu­ren exis­tie­ren­den Zwischen­räu­men beschäf­tigt. Die Foto­gra­fien stam­men aus seiner Serie «Haun­to­logy of Lahore» (2017-heute), die den Begriff von dem Philo­so­phen Jacques Derrida entlehnt. In Abbas’ Worten: «In der Land­schaft von Lahore selbst, inmit­ten seiner beleb­ten Stra­ßen, alten Struk­tu­ren und pulsie­ren­den Gemein­schaf­ten liegt ein Reser­voir an unge­nutz­ter Zukunft und unrea­li­sier­tem Potenzial».



Herz­lichst,

 

Vijay

 
 
Aus dem Engli­schen von Claire Louise Blaser.