Wir brauchen eine neue Gewerkschaft der Armen, die im Globalen Süden verwurzelt ist.
Der dreiundvierzigste Newsletter (2022).
Liebe Freund*innen,
Grüße aus dem Büro von Tricontinental: Institute for Social Research.
Chaos herrscht im Vereinigten Königreich, wo sich die Residenz der Premierministerin in London – Downing Street 10 – auf den Einzug von Rishi Sunak, einem der reichsten Männer des Landes, vorbereitet. Liz Truss blieb nur 45 Tage im Amt, ihre Regierung wurde von einer Reihe von Streiks heimgesucht und war von unglaubwürdiger Politik gekennzeichnet. In dem Mini-Budget, das ihrer Regierung zum Verhängnis wurde, entschied sich Truss für einen umfassenden neoliberalen Angriff auf die britische Öffentlichkeit mit Steuersenkungen und Kürzungen bei den Sozialleistungen. Diese Politik hat die internationale Finanzklasse aufgeschreckt, deren politische Rolle deutlich zutage trat, als reiche Anleihegläubiger ihr Misstrauen gegenüber dem Vereinigten Königreich zum Ausdruck brachten, indem sie Staatsanleihen abstießen, wodurch sich die Kosten für die Staatsverschuldung erhöhten und die Hypothekenzahlungen für Hausbesitzer*innen anstiegen. Es war diese Klasse der vermögenden Anleihegläubiger, die die eigentliche Opposition zur Regierung Truss darstellte. Sogar der Internationale Währungsfonds (IWF) meldete sich mit einer deutlichen Stellungnahme zu Wort und erklärte, dass «die Art der britischen Maßnahmen die Ungleichheit wahrscheinlich verstärken wird».
Erstaunlich ist hier die Sorge des IWF über zunehmende Ungleichheit. In der achtundsiebzigjährigen Geschichte seit seiner Gründung im Jahr 1944 hat der IWF dem Phänomen der zunehmenden Ungleichheit kaum Beachtung geschenkt. Tatsächlich stecken die meisten Länder des Globalen Südens in einer «Austeritätsfalle« fest, die zum großen Teil auf die Politik des IWF zurückzuführen ist und durch die folgenden Prozesse herbeigeführt wurde:
- Die koloniale Geschichte der Ausplünderung bedeutete, dass die neuen Nationen der Nachkriegszeit sich Geld von ihren ehemaligen Kolonialherren leihen mussten.
- Diese Gelder wurden für den Bau wichtiger Infrastrukturen gebraucht, die während der Kolonialzeit nicht gebaut worden waren, was bedeutete, dass die Kredite in langfristige Projekte gesteckt wurden, die sich nicht von selbst amortisierten.
- Die meisten dieser Länder waren gezwungen, mehr Geld zu leihen, um die Zinszahlungen für die Kredite zu begleichen, was zur Schuldenkrise der Dritten Welt in den 1980er Jahren führte.
- Der IWF erzwang mit Hilfe von Strukturanpassungsprogrammen Sparmaßnahmen in diesen Ländern als Voraussetzung für die Aufnahme von Krediten zur Rückzahlung der Darlehen. Diese Austeritätspolitik führte zur Verarmung von Milliarden von Menschen, deren Arbeitskraft weiterhin in die Akkumulationszyklen hineingezogen und – oft sehr produktiv – zur Bereicherung einiger weniger auf Kosten der vielen eingesetzt wurde, die ihren Schweiß in die globale Warenkette steckten.
- Eine ärmere Bevölkerung bedeutete für die Länder des Globalen Südens geringeren sozialen Reichtum trotz zunehmender Industrialisierung , und dieser geringere soziale Reichtum bedeutete zusammen mit der Ausplünderung von Ressourcen, dass sowohl weniger Überschüsse zur Verbesserung der Lebensbedingungen der Bevölkerung vorhanden waren als auch, dass die Regierungen dieser Länder höhere Zinsen für Kredite zahlen mussten, um ihre Schulden zu begleichen. Aus diesem Grund mussten die Länder des Globalen Südens seit 1980 öffentliche Gelder in Höhe von 4,2 Billionen Dollar als Zinsen für ihre Kredite abführen. Zu dieser Ausplünderung kommt noch hinzu, dass zwischen 1980 und 2016 weitere 16,3 Billionen Dollar aus den Ländern des Globalen Südens abgeflossen sind, und zwar durch Falschfakturierung und falsche Preisgestaltung im Handel sowie durch Lecks in der Zahlungsbilanz und verbuchte Finanztransfers.
Die hässlichen Hinterlassenschaften dieses Prozesses der routinemäßigen Verarmung des Globalen Südens sind in unserem Dossier Nr. 57, The Geopolitics of Inequality: Discussing Pathways Towards a More Just World (Oktober 2022), ausführlich dokumentiert. Das Dossier, das von unserem Büro in Buenos Aires auf der Grundlage einer detaillierten Analyse der verfügbaren Datensätze erstellt wurde, zeigt, dass Ungleichheit zwar ein globales Phänomen ist, die tiefgreifendsten Einschnitte in die Lebensgrundlagen jedoch in den Ländern des Globalen Südens zu verzeichnen sind. So heißt es in dem Dossier beispielsweise, dass «in den 163 Ländern der Welt nur 32 % der Haushalte ein Einkommen über dem globalen Durchschnitt haben. Von dieser Gesamtzahl haben nur einige wenige Länder in der Peripherie ein überdurchschnittliches Einkommen, während 100 % der Kernländer über dem Durchschnitt liegen».
Diese «Geopolitik der Ungleichheit» besteht fort, auch wenn sich die industrielle Produktion vom Globalen Norden in den Globalen Süden verlagert hat. Industrialisierung im Kontext von globaler Arbeitsteilung und dem globalen Eigentum an geistigen Eigentumsrechten bedeutet, dass die Länder des Globalen Südens zwar die industrielle Produktion beherbergen, aber nicht die Gewinne aus dieser Produktion erhalten. «Ein paradigmatischer Fall ist die Region Nordafrika und der Nahe Osten, welche 185 % der Industrieproduktion des Nordens leisten, aber nur 15 % des Pro-Kopf-Einkommens der reichen Länder erwirtschaften», heißt es in dem Dossier. Darüber hinaus «produziert der Globale Süden 26 % mehr Industriegüter als der Norden, verfügt aber über 80 % weniger Pro-Kopf-Einkommen».
Im Globalen Süden findet zwar eine Industrialisierung statt, aber «die Zentren des globalen Kapitalismus kontrollieren nach wie vor den Produktionsprozess und das Geldkapital, das die Einleitung von Zyklen der Produktivitätsakkumulation ermöglicht». Diese Formen der Kontrolle über das kapitalistische System (Industrie und Finanzen) führen dazu, dass der Reichtum der Milliardär*innen (wie etwa des neuen britischen Premierministers Rishi Sunak) unaufhörlich wächst, während viele Menschen verelenden, von denen die meisten in Armut leben, egal wie hart und wie viel sie arbeiten. In den ersten Jahren der Pandemie beispielsweise wurde «alle 26 Stunden ein neuer Milliardär hervorgebracht, während das Einkommen von 99 % der Bevölkerung sank».
Um den Weg zu einer gerechteren Welt zu ebnen, schließt die Analyse der Reproduktion der Ungleichheit in unserem Dossier mit einem Fünf-Punkte-Plan. Diese Punkte sind eine Einladung zum Dialog.
- Die teilweise Entkopplung der globalen Ketten. Hier fordern wir neue Handels- und Entwicklungsregime, die eine stärkere Süd-Süd-Beteiligung und einen stärkeren Regionalismus vorsehen, anstatt an globale Warenketten gebunden zu sein, die durch die Bedürfnisse des globalen Nordens verankert sind.
- Die Aneignung von Einnahmen durch den Staat. Das konkrete Eingreifen des Staates durch Besteuerung (oder Verstaatlichung) bei der Aneignung von Einnahmen (wie z.B. Landrenten oder auch Bergbau- und Technologieeinnahmen) ist der Schlüssel zur Verringerung des Einkommenswachstums der herrschenden Klasse.
- Die Besteuerung von Spekulationskapital. Große Kapitalmengen fliessen aus den Ländern des Globalen Südens, die nur durch Kapitalkontrollen oder Steuern auf spekulatives Kapital abgefangen werden können.
- Die Verstaatlichung von strategischen Gütern und Dienstleistungen. Schlüsselsektoren der Volkswirtschaften des Globalen Südens wurden privatisiert und vom globalen Finanzkapital aufgekauft, das seine Gewinne ins Ausland transferiert und Entscheidungen über diese Sektoren auf der Grundlage seiner Interessen und nicht der der Arbeitnehmer*innen trifft.
- Die Besteuerung von Windfall-Profiten von Unternehmen und Privatpersonen. Die astronomischen Gewinne der Unternehmen fließen größtenteils in die Spekulation und nicht in die Produktion oder in die Verbesserung der Einkommen und der Lebensqualität der Mehrheit. Die Erhebung einer Steuer auf Supergewinne wäre ein Schritt zur Schließung dieser Lücke.
Vor fast fünfzig Jahren verfassten die Länder des Globalen Südens, die in der Bewegung der Blockfreien (NAM) und der G77 organisiert sind, eine Resolution mit der Bezeichnung «Neue Internationale Wirtschaftsordnung» (NIEO), die am 1. Mai 1974 von der UN-Generalversammlung verabschiedet wurde. Die NIEO formulierte eine Vision für Handel und Entwicklung, die nicht auf der Abhängigkeit des Globalen Südens vom Globalen Norden beruhte, mit konkreten Vorschlägen zum Wissenschafts- und Technologietransfer, zur Schaffung eines neuen Weltwährungssystems, zur Beibehaltung der Importsubstitution, zur Kartellbildung und zu anderen Strategien zur Stärkung der Ernährungssouveränität und zur Erzielung höherer Preise für Rohstoffverkäufe sowie zu einer stärkeren Süd-Süd-Zusammenarbeit.
Viele der in unserem Dossier skizzierten und für unsere Zeit verfeinerten Vorschläge stammen aus dem NIEO. Der algerische Präsident Houari Boumédiène setzte die NIEO auf der NAM-Tagung 1973 in Algier durch. Im Jahr nach der Verabschiedung der Resolution in der UNO argumentierte Boumédiène, dass die Welt von der «Dialektik von Herrschaft und Ausbeutung auf der einen Seite und der Dialektik von Emanzipation und Wiederherstellung auf der anderen Seite» beherrscht werde. Sollte die NIEO nicht verabschiedet werden und der Globale Norden sich weigern, die «Kontrolle und Nutzung der Früchte der Ressourcen, die den Ländern der Dritten Welt gehören», zu übertragen, so Boumédiène, würde dies zu einem «unkontrollierbaren Flächenbrand» führen. Anstatt jedoch die Einrichtung der NIEO zuzulassen, betrieb der Westen eine Politik, die die Schuldenkrise in der Dritten Welt auslöste, was einerseits zur «Austeritätsfalle» und andererseits zu den Aufständen gegen den IWF führte. Seitdem ist die Geschichte nicht weiter fortgeschritten.
1979 verlautet der tansanische Präsident Julius Nyerere infolge des Endes der NIEO und der Entstehung der Schuldenkrise in der Dritten Welt, dass es notwendig sei, eine «Gewerkschaft der Armen» zu schaffen. Eine solche politische Einheit gab es damals nicht, und auch in unserer Zeit gibt es keine solche «Gewerkschaft». Ihr Aufbau ist eine Notwendigkeit.
Herzlichst,
Vijay