Wir brauchen eine neue Gewerkschaft der Armen, die im Globalen Süden verwurzelt ist.

Der dreiundvierzigste Newsletter (2022).

Raquel Forner (Argen­ti­nien), Fin-Prin­ci­pio, 1980.

Liebe Freund*innen,

 

Grüße aus dem Büro von Tricon­ti­nen­tal: Insti­tute for Social Rese­arch.


Chaos herrscht im Verei­nig­ten König­reich, wo sich die Resi­denz der Premier­mi­nis­te­rin in London –  Downing Street 10 – auf den Einzug von Rishi Sunak, einem der reichs­ten Männer des Landes, vorbe­rei­tet. Liz Truss blieb nur 45 Tage im Amt, ihre Regie­rung wurde von einer Reihe von Streiks heim­ge­sucht und war von unglaub­wür­di­ger Poli­tik gekenn­zeich­net. In dem Mini-Budget, das ihrer Regie­rung zum Verhäng­nis wurde, entschied sich Truss für einen umfas­sen­den neoli­be­ra­len Angriff auf die briti­sche Öffent­lich­keit mit Steu­er­sen­kun­gen und Kürzun­gen bei den Sozi­al­leis­tun­gen. Diese Poli­tik hat die inter­na­tio­nale Finanz­klasse aufge­schreckt, deren poli­ti­sche Rolle deut­lich zutage trat, als reiche Anlei­he­gläu­bi­ger ihr Miss­trauen gegen­über dem Verei­nig­ten König­reich zum Ausdruck brach­ten, indem sie Staats­an­lei­hen abstie­ßen, wodurch sich die Kosten für die Staats­ver­schul­dung erhöh­ten und die Hypo­the­ken­zah­lun­gen für Hausbesitzer*innen anstie­gen. Es war diese Klasse der vermö­gen­den Anlei­he­gläu­bi­ger, die die eigent­li­che Oppo­si­tion zur Regie­rung Truss darstellte. Sogar der Inter­na­tio­nale Währungs­fonds (IWF) meldete sich mit einer deut­li­chen Stel­lung­nahme zu Wort und erklärte, dass «die Art der briti­schen Maßnah­men die Ungleich­heit wahr­schein­lich verstär­ken wird».

 

Duilio Pierri (Argen­ti­nien), Retorno de los restos, 1987.

Erstaun­lich ist hier die Sorge des IWF über zuneh­mende Ungleich­heit. In der acht­und­sieb­zig­jäh­ri­gen Geschichte seit seiner Grün­dung im Jahr 1944 hat der IWF dem Phäno­men der zuneh­men­den Ungleich­heit kaum Beach­tung geschenkt. Tatsäch­lich stecken die meis­ten Länder des Globa­len Südens in einer «Austeri­täts­falle« fest, die zum großen Teil auf die Poli­tik des IWF zurück­zu­füh­ren ist und durch die folgen­den Prozesse herbei­ge­führt wurde:

 

    • Die kolo­niale Geschichte der Ausplün­de­rung bedeu­tete, dass die neuen Natio­nen der Nach­kriegs­zeit sich Geld von ihren ehema­li­gen Kolo­ni­al­her­ren leihen mussten.
    • Diese Gelder wurden für den Bau wich­ti­ger Infra­struk­tu­ren gebraucht, die während der Kolo­ni­al­zeit nicht gebaut worden waren, was bedeu­tete, dass die Kredite in lang­fris­tige Projekte gesteckt wurden, die sich nicht von selbst amortisierten.
    • Die meis­ten dieser Länder waren gezwun­gen, mehr Geld zu leihen, um die Zins­zah­lun­gen für die Kredite zu beglei­chen, was zur Schul­den­krise der Drit­ten Welt in den 1980er Jahren führte.
    • Der IWF erzwang mit Hilfe von Struk­tur­an­pas­sungs­pro­gram­men Spar­maß­nah­men in diesen Ländern als Voraus­set­zung für die Aufnahme von Kredi­ten zur Rück­zah­lung der Darle­hen. Diese Austeri­täts­po­li­tik führte zur Verar­mung von Milli­ar­den von Menschen, deren Arbeits­kraft weiter­hin in die Akku­mu­la­ti­ons­zy­klen hinein­ge­zo­gen und – oft sehr produk­tiv – zur Berei­che­rung eini­ger weni­ger auf Kosten der vielen einge­setzt wurde, die ihren Schweiß in die globale Waren­kette steckten.
    • Eine ärmere Bevöl­ke­rung bedeu­tete für die Länder des Globa­len Südens gerin­ge­ren sozia­len Reich­tum trotz zuneh­men­der Indus­tria­li­sie­rung , und dieser gerin­gere soziale Reich­tum bedeu­tete zusam­men mit der Ausplün­de­rung von Ressour­cen, dass sowohl weni­ger Über­schüsse zur Verbes­se­rung der Lebens­be­din­gun­gen der Bevöl­ke­rung vorhan­den waren als auch, dass die Regie­run­gen dieser Länder höhere Zinsen für Kredite zahlen muss­ten, um ihre Schul­den zu beglei­chen. Aus diesem Grund muss­ten die Länder des Globa­len Südens seit 1980 öffent­li­che Gelder in Höhe von 4,2 Billio­nen Dollar als Zinsen für ihre Kredite abfüh­ren. Zu dieser Ausplün­de­rung kommt noch hinzu, dass zwischen 1980 und 2016 weitere 16,3 Billio­nen Dollar aus den Ländern des Globa­len Südens abge­flos­sen sind, und zwar durch Falsch­fak­tu­rie­rung und falsche Preis­ge­stal­tung im Handel sowie durch Lecks in der Zahlungs­bi­lanz und verbuchte Finanztransfers.
Anto­nio Berni (Argen­ti­nien), Ramona espera, 1964.

 

Die häss­li­chen Hinter­las­sen­schaf­ten dieses Prozes­ses der routi­ne­mä­ßi­gen Verar­mung des Globa­len Südens sind in unse­rem Dossier Nr. 57, The Geopo­li­tics of Inequa­lity: Discus­sing Pathways Towards a More Just World  (Okto­ber 2022), ausführ­lich doku­men­tiert. Das Dossier, das von unse­rem Büro in Buenos Aires auf der Grund­lage einer detail­lier­ten Analyse der verfüg­ba­ren Daten­sätze erstellt wurde, zeigt, dass Ungleich­heit zwar ein globa­les Phäno­men ist, die tief­grei­fends­ten Einschnitte in die Lebens­grund­la­gen jedoch in den Ländern des Globa­len Südens zu verzeich­nen sind. So heißt es in dem Dossier beispiels­weise, dass «in den 163 Ländern der Welt nur 32 % der Haus­halte ein Einkom­men über dem globa­len Durch­schnitt haben. Von dieser Gesamt­zahl haben nur einige wenige Länder in der Peri­phe­rie ein über­durch­schnitt­li­ches Einkom­men, während 100 % der Kern­län­der über dem Durch­schnitt liegen».

 

Diese «Geopo­li­tik der Ungleich­heit» besteht fort, auch wenn sich die indus­tri­elle Produk­tion vom Globa­len Norden in den Globa­len Süden verla­gert hat. Indus­tria­li­sie­rung im Kontext von globa­ler Arbeits­tei­lung und dem globa­len Eigen­tum an geis­ti­gen Eigen­tums­rech­ten bedeu­tet, dass die Länder des Globa­len Südens zwar die indus­tri­elle Produk­tion beher­ber­gen, aber nicht die Gewinne aus dieser Produk­tion erhal­ten. «Ein para­dig­ma­ti­scher Fall ist die Region Nord­afrika und der Nahe Osten, welche 185 % der Indus­trie­pro­duk­tion des Nordens leis­ten, aber nur 15 % des Pro-Kopf-Einkom­mens der reichen Länder erwirt­schaf­ten», heißt es in dem Dossier. Darüber hinaus «produ­ziert der Globale Süden 26 % mehr Indus­trie­gü­ter als der Norden, verfügt aber über 80 % weni­ger Pro-Kopf-Einkommen».

 

Im Globa­len Süden findet zwar eine Indus­tria­li­sie­rung statt, aber «die Zentren des globa­len Kapi­ta­lis­mus kontrol­lie­ren nach wie vor den Produk­ti­ons­pro­zess und das Geld­ka­pi­tal, das die Einlei­tung von Zyklen der Produk­ti­vi­tät­sak­ku­mu­la­tion ermög­licht». Diese Formen der Kontrolle über das kapi­ta­lis­ti­sche System (Indus­trie und Finan­zen) führen dazu, dass der Reich­tum der Milliardär*innen (wie etwa des neuen briti­schen Premier­mi­nis­ters Rishi Sunak) unauf­hör­lich wächst, während viele Menschen verelen­den, von denen die meis­ten in Armut leben, egal wie hart und wie viel sie arbei­ten. In den ersten Jahren der Pande­mie  beispiels­weise wurde «alle 26 Stun­den ein neuer Milli­ar­där hervor­ge­bracht, während das Einkom­men von 99 % der Bevöl­ke­rung sank».

 

Nora Patrich und Carlos Sess­ano (Argen­ti­nien), Histo­ria, verdad, leyes, 2012.

Um den Weg zu einer gerech­te­ren Welt zu ebnen, schließt die Analyse der Repro­duk­tion der Ungleich­heit in unse­rem Dossier mit einem Fünf-Punkte-Plan. Diese Punkte sind eine Einla­dung zum Dialog.

    1. Die teil­weise Entkopp­lung der globa­len Ketten. Hier fordern wir neue Handels- und Entwick­lungs­re­gime, die eine stär­kere Süd-Süd-Betei­li­gung und einen stär­ke­ren Regio­na­lis­mus vorse­hen, anstatt an globale Waren­ket­ten gebun­den zu sein, die durch die Bedürf­nisse des globa­len Nordens veran­kert sind.
    2. Die Aneig­nung von Einnah­men durch den Staat. Das konkrete Eingrei­fen des Staa­tes durch Besteue­rung (oder Verstaat­li­chung) bei der Aneig­nung von Einnah­men (wie z.B. Land­ren­ten oder auch Berg­bau- und Tech­no­lo­gie­ein­nah­men) ist der Schlüs­sel zur Verrin­ge­rung des Einkom­mens­wachs­tums der herr­schen­den Klasse.
    3. Die Besteue­rung von Speku­la­ti­ons­ka­pi­tal. Große Kapi­tal­men­gen flies­sen aus den Ländern des Globa­len Südens, die nur durch Kapi­tal­kon­trol­len oder Steu­ern auf speku­la­ti­ves Kapi­tal abge­fan­gen werden können.
    4. Die Verstaat­li­chung von stra­te­gi­schen Gütern und Dienst­leis­tun­gen. Schlüs­sel­sek­to­ren der Volks­wirt­schaf­ten des Globa­len Südens wurden priva­ti­siert und vom globa­len Finanz­ka­pi­tal aufge­kauft, das seine Gewinne ins Ausland trans­fe­riert und Entschei­dun­gen über diese Sekto­ren auf der Grund­lage seiner Inter­es­sen und nicht der der Arbeitnehmer*innen trifft.
    5. Die Besteue­rung von Wind­fall-Profi­ten von Unter­neh­men und Privat­per­so­nen. Die astro­no­mi­schen Gewinne der Unter­neh­men flie­ßen größ­ten­teils in die Speku­la­tion und nicht in die Produk­tion oder in die Verbes­se­rung der Einkom­men und der Lebens­qua­li­tät der Mehr­heit. Die Erhe­bung einer Steuer auf Super­ge­winne wäre ein Schritt zur Schlie­ßung dieser Lücke.
Baya Mahied­dine (Alge­rien), Woman and Peacock, 1973.

 

Vor fast fünf­zig Jahren verfass­ten die Länder des Globa­len Südens, die in der Bewe­gung der Block­freien (NAM) und der G77 orga­ni­siert sind, eine Reso­lu­tion mit der Bezeich­nung «Neue Inter­na­tio­nale Wirt­schafts­ord­nung» (NIEO), die am 1. Mai 1974 von der UN-Gene­ral­ver­samm­lung verab­schie­det wurde. Die NIEO formu­lierte eine Vision für Handel und Entwick­lung, die nicht auf der Abhän­gig­keit des Globa­len Südens vom Globa­len Norden beruhte, mit konkre­ten Vorschlä­gen zum Wissen­schafts- und Tech­no­lo­gie­trans­fer, zur Schaf­fung eines neuen Welt­wäh­rungs­sys­tems, zur Beibe­hal­tung der Import­sub­sti­tu­tion, zur Kartell­bil­dung und zu ande­ren Stra­te­gien zur Stär­kung der Ernäh­rungs­sou­ve­rä­ni­tät und zur Erzie­lung höhe­rer Preise für Rohstoff­ver­käufe sowie zu einer stär­ke­ren Süd-Süd-Zusammenarbeit.

 

Viele der in unse­rem Dossier skiz­zier­ten und für unsere Zeit verfei­ner­ten Vorschläge stam­men aus dem NIEO. Der alge­ri­sche Präsi­dent Houari Boumé­diène setzte die NIEO auf der NAM-Tagung 1973 in Algier durch. Im Jahr nach der Verab­schie­dung der Reso­lu­tion in der UNO argu­men­tierte Boumé­diène, dass die Welt von der «Dialek­tik von Herr­schaft und Ausbeu­tung auf der einen Seite und der Dialek­tik von Eman­zi­pa­tion und Wieder­her­stel­lung auf der ande­ren Seite» beherrscht werde. Sollte die NIEO nicht verab­schie­det werden und der Globale Norden sich weigern, die «Kontrolle und  Nutzung der Früchte der Ressour­cen, die den Ländern der Drit­ten Welt gehö­ren», zu über­tra­gen, so Boumé­diène, würde dies zu einem «unkon­trol­lier­ba­ren Flächen­brand» führen. Anstatt jedoch die Einrich­tung der NIEO zuzu­las­sen, betrieb der Westen eine Poli­tik, die die Schul­den­krise in der Drit­ten Welt auslöste, was einer­seits zur «Austeri­täts­falle» und ande­rer­seits zu den Aufstän­den gegen den IWF führte. Seit­dem ist die Geschichte nicht weiter fortgeschritten.

 

1979 verlau­tet der tansa­ni­sche Präsi­dent Julius Nyerere infolge des Endes der NIEO und der Entste­hung der Schul­den­krise in der Drit­ten Welt, dass es notwen­dig sei, eine «Gewerk­schaft der Armen» zu schaf­fen. Eine solche poli­ti­sche Einheit gab es damals nicht, und auch in unse­rer Zeit gibt es keine solche «Gewerk­schaft». Ihr Aufbau ist eine Notwendigkeit.

 

Herz­lichst, 

 

Vijay

Aus dem Engli­schen von Claire Louise Blaser.