Ein Kind im Jemen zu sein ist der Stoff, aus dem Alpträume sind.
Der dreiundvierzigste Newsletter (2021)
Liebe Freund*innen,
Grüße aus dem Büro des Tricontinental: Institute for Social Research.
Im März 2015 begannen Saudi-Arabien und die Vereinigten Arabischen Emirate – zusammen mit anderen Mitgliedern des Golf-Kooperationsrates (GCC) – den Jemen zu bombardieren. Diese Länder griffen in einen Konflikt ein, der bereits seit mindestens einem Jahr andauerte, als der Bürgerkrieg zwischen der Regierung von Präsident Abdrabbuh Mansur Hadi, der Ansar-Allah-Bewegung der schiitischen Zaidi und al-Qaida eskalierte. Der Golf-Kooperationsrat – angeführt von der saudischen Monarchie – wollte verhindern, dass irgendein schiitisches politisches Projekt, ob mit dem Iran verbündet oder nicht, an der Grenze zu Saudi-Arabien die Macht übernimmt. Der Angriff auf den Jemen kann daher als ein Angriff der sunnitischen Monarchen auf die von ihnen befürchtete mögliche Machtübernahme eines schiitischen politischen Projekts auf der arabischen Halbinsel bezeichnet werden.
Dieser Krieg wird fortgesetzt, wobei die Saudis und die Emirate von den westlichen Ländern unterstützt werden, die ihnen Waffen im Wert von Milliarden von Dollar verkauften, um sie gegen das verarmte jemenitische Volk einzusetzen. Saudi-Arabien, das reichste arabische Land, führt nun schon seit sechseinhalb Jahren einen weitgehend erfolglosen Krieg gegen den Jemen, das ärmste arabische Land. Der Jemen mit seinen 30 Millionen Einwohnern hat durch diesen Konflikt inzwischen mehr als 250.000 Menschen verloren, die Hälfte davon durch Kriegsgewalt, die andere Hälfte durch Hunger und Krankheiten, einschließlich Cholera. Keines der militärischen oder politischen Ziele der Saudis und der Emiratis wurde im Laufe des Krieges erreicht (die VAE zogen sich 2020 zurück). Das einzige Ergebnis dieses Krieges sind die Verwüstungen, die er dem jemenitischen Volk hinterließ.
Seit Februar 2021 versuchen die militärischen Kräfte der Ansar Allah die zentrale Stadt Marib einzunehmen, die nicht nur das Zentrum des bescheidenen jemenitischen Ölraffinerieprojekts ist, sondern auch einer der wenigen Teile des Landes, die noch von Präsident Hadi kontrolliert werden. Andere Provinzen, wie die im Süden, befinden sich in den Händen von al-Qaida, während abtrünnige Fraktionen der Armee die Westküste kontrollieren. Der Angriff auf Marib hat den Rachen des Todes noch weiter geöffnet und eine Flüchtlingswelle ausgelöst. Wenn Marib an Ansar Allah fällt, was wahrscheinlich ist, wird die Mission der Vereinten Nationen scheitern, Hadi als Präsident des Landes zu halten. Ansar Allah wird dann versuchen, das Land wieder zu integrieren, indem sie gegen Al-Qaida auf der Arabischen Halbinsel (AQAP) vorgeht, die in der Provinz Abyan weiterhin das Sagen hat; die AQAP wird nun vom neu gegründeten Islamischen Staat im Jemen herausgefordert. Die punktuellen US-Angriffe gegen die AQAP gehen einher mit einer saudischen Allianz, die sich auf die AQAP verlässt, um die Ansar Allah vor Ort zu bekämpfen, u. a. durch den Einsatz von Attentaten zur Einschüchterung von Zivilisten und Friedensbefürworter*innen.
Am 19. Oktober informierte der UNICEF-Sprecher James Elder die Presse in Genf nach seiner Rückkehr aus dem Jemen. Er schrieb: «Der Jemen-Konflikt hat gerade einen weiteren beschämenden Meilenstein erreicht: 10.000 Kinder wurden seit Beginn der Kämpfe im März 2015 getötet oder verstümmelt. Das sind vier Kinder pro Tag». Der Bericht von Elder ist schockierend. Von den 15 Millionen Menschen (50 % der jemenitischen Bevölkerung), die keinen Zugang zu grundlegenden Einrichtungen haben, sind 8,5 Millionen Kinder. Im August sagte die UNICEF-Exekutivdirektorin Henrietta Fore vor der UN-Vollversammlung: «Ein Kind im Jemen zu sein ist der Stoff, aus dem Alpträume sind. Im Jemen», so Fore, «stirbt alle zehn Minuten ein Kind an vermeidbaren Ursachen, darunter Unterernährung und durch Impfung vermeidbare Krankheiten».
Das, liebe Freund*innen, sind die Kosten des Krieges. Der Krieg ist eine Krankheit, die schreckliche Folgen hat. Wo in der Geschichte kann man mit dem Finger auf einen Krieg zeigen, der den Preis wert war? Selbst wenn man eine Liste solcher Kriege aufstellen könnte, würde der Jemen nicht darauf stehen, genauso wenig wie so viele weitere Länder, die bluten mussten aufgrund der fehlenden Vorstellungskraft anderer Menschen.
Millionen von Menschen haben ihr Leben verloren, dutzenden Millionen wurden die Lebensgrundlagen entzogen. Der leere Blick des Menschen, der ständigen Tod und Elend gesehen hat, bleibt, wenn die Bomben aufhören zu fallen, neben dem leeren Blick des hungrigen Menschen, dessen Land den anderen, stillen aber tödlichen Kriegen der Wirtschaftssanktionen und Handelsstreitigkeiten ausgesetzt ist. Für die Menschen, die Opfer dieser Kriegstreiberei sind, kommt nichts Gutes davon. Mächtige Länder können die Schachfiguren zu ihren Gunsten verschieben und Waffenhändler können neue Bankkonten eröffnen, um ihr Geld zu sichern – so geht es immer weiter.
Der Krieg im Jemen wird nicht nur von der Innenpolitik des Landes befeuert, er ist auch weitgehend das Ergebnis der schrecklichen regionalen Rivalität zwischen Saudi-Arabien und dem Iran. Diese Rivalität scheint auf die konfessionellen Differenzen zwischen dem sunnitischen Saudi-Arabien und dem schiitischen Iran zurückzuführen zu sein, hat in Wirklichkeit aber einen tieferen Grund: Das monarchische islamische Saudi-Arabien kann eine republikanische islamische Regierung in seiner Nachbarschaft nicht dulden. Saudi-Arabien hatte kein Problem, als der Iran von den Pahlavi-Schahs (1925–1979) regiert wurde. Seine Feindseligkeit wuchs erst nach der iranischen Revolution von 1979, als klar wurde, dass eine islamische Republik auf der arabischen Halbinsel möglich sein könnte (diese war eine Wiederholung des von saudischen und britischen Kräften inspirierten Krieges gegen die Republik Nordjemen zwischen 1962 und 1970).
Es ist daher zu begrüßen, dass hochrangige Beamte aus dem Iran und Saudi-Arabien zunächst im April dieses Jahres und dann erneut im September in Bagdad zusammentrafen, um die Weichen für eine Deeskalation zu stellen. Bei den Gesprächen wurden bereits die regionalen Rivalitäten im Irak, Libanon, Syrien und Jemen angesprochen – alles Länder, die von den Problemen zwischen Saudi-Arabien und Iran betroffen sind. Wenn eine Übereinkunft zwischen Riad und Teheran erzielt werden kann, kann dies zu einer Deeskalation mehrerer Kriege in der Region führen.
Im Jahr 1962 führte Abdullah al-Sallal, ein Offizier aus der Arbeiterklasse, einen nationalistischen Militärputsch an, der den letzten Herrscher des mutawakkilitischen Königreichs Jemen stürzte. Viele progressive Menschen eilten in die neue Regierung, darunter der brillante Rechtsanwalt und Dichter Abdullah al-Baradouni. Al-Baradouni arbeitete von 1962 bis zu seinem Tod 1999 beim Rundfunk in der Hauptstadt Sana’a und belebte den kulturellen Diskurs in seinem Land. Zu seinem Diwan (Gedichtsammlung) gehören Madinat Al Ghad («Die Stadt von morgen», 1968), und Al Safar Ela Ay Ayyam Al Khudr («Reise zu den grünen Tagen», 1979). «Von Exil zu Exil» ist eines seiner klassischen Gedichte:
Mein Land wird von einem Tyrannen
an den nächsten, noch schlimmeren Tyrannen gereicht;
von einem Gefängnis zum anderen,
von einem Exil zum anderen.
Es wird kolonisiert von dem sichtbaren
Eindringling und dem unsichtbaren;
von einem Tier an zwei weitergereicht
wie ein ausgemergeltes Kamel.
In den Höhlen seines Todes
stirbt mein Land weder
noch erholt es sich. Es gräbt
in den stummen Gräbern auf der Suche
nach seinen reinen Ursprüngen
nach seinem frühlingshaften Versprechen
das hinter seinen Augen schlief
nach dem Traum, der kommen wird
nach dem Phantom, das sich versteckt hat.
Es bewegt sich von einer überwältigenden
Nacht zu einer noch dunkleren Nacht.
Mein Land trauert
in seinen eigenen Grenzen
und im Land anderer Leute
und sogar auf seinem eigenen Boden
leidet es unter der Entfremdung
des Exils.
Al-Baradounis Land trauert in seinen eigenen Grenzen nicht nur um die Zerstörung, sondern auch um sein «Frühlingsversprechen», um seine verlorene Geschichte. Wie Afghanistan, der Sudan und so viele andere Länder auf der Welt war auch der Jemen einst ein Zentrum linker Zukunftsperspektiven. Von 1967 bis 1990 herrschte im Süden des Landes die Demokratische Volksrepublik Jemen (PDRY). Die PDRY ging aus einem antikolonialen Kampf gegen die Briten hervor, der von Gewerkschaften (Aden Trade Union Congress und seinem charismatischen Führer Abdullah al-Asnag) und marxistischen Formationen (National Liberation Front) geführt wurde, die sich nach internen Kämpfen 1978 in der Jemenitischen Sozialistischen Partei unter der Führung von Präsident Abdul Fattah Ismail zusammenschlossen. Die PDRY versuchte, Landreformen durchzuführen und die landwirtschaftliche Produktion voranzutreiben, schuf ein nationales Bildungssystem (das die Ausbildung von Frauen förderte), baute ein leistungsfähiges Gesundheitssystem auf (einschließlich Gesundheitszentren auf dem Land) und setzte das Familiengesetz von 1974 durch, das die Emanzipation der Frauen an die Spitze der Agenda stellte. All dies wurde zerstört, als die PDRY 1990 im Zuge der Vereinigung des Jemen gestürzt wurde. Eine flüchtige Erinnerung an den Sozialismus ist in den Ecken des von Bomben zerrütteten Landes immer noch zu finden.
Herzlichst,
Vijay